Mainhattan Moments
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August 2008
Bücher, ein Leben
von Helga Rougui

Als Gerd zwölf Jahre alt war, während der Nazizeit, es war noch nicht Krieg, kaufte er sich das erste Reclambändchen, einen Klassiker, Schiller oder Goethe, und da die Heftchen nur ein paar Pfennige kosteten, hatte er bald eine ansehnliche Sammlung deutscher und ausländischer Autoren angehäuft. Er liebte diese Literatur, und wenn andere einen Groschenroman lasen, dachte er bei sich, wie langweilig, denn er, wenn auch ein Halbwüchsiger, empfand das, was mancher als schwere Kost bezeichnet hätte, als spannend und lohnend. Lieber ein Buch als ein Heimabend bei der HJ, lieber ein Wochenende mit Lesen verbringen als mit dem Jungvolk draußen im Wald Soldat spielen.

Diese Ader, erzählte er später gern, habe er von seinem Vater, der auch viel las, jedoch keine Klassiker, und der während seiner Anstellung als Chauffeur des einzigen Filmtheaterbesitzers der Stadt während der dreißiger Jahre manch halbe Stunde Wartezeit zu füllen hatte, und Jahrzehnte später, als er kurz nach der Hochzeit seines Sohnes starb, fand man ihn auf dem Sofa liegend, die Hände gefaltet über einer aufgeschlagenen Ausgabe des Grafen von Monte Christo. Mitten in seiner Trauer dachte Gerd auch, wie schade, nun hat der Papa das Ende des Romans nicht mehr erfahren.

Mit achtzehn, drei Jahre vor Ende des Krieges, mußte er an die Front, erst nach Frankreich, dann nach Italien. Ihm ging es wie so vielen, die Angst begleitete ihn ständig – noch Jahrzehnte später fuhr er manchmal von Alpträumen gepeinigt aus dem Schlaf und seine Ehefrau mußte ihm versichern, daß da kein Krieg mehr sei, es sei alles gut, er sei zu Hause in Sicherheit. Später dann, als sie tot und er bereits schwer erkrankt war, mußten seine Kinder ihm immer wieder und wieder sagen, daß die Halluzinationen, an denen er infolge seiner Tabletteneinnahme litt, keine Realität waren.
Was aber während der Zeit an der Front und in der Zeit vor seinem Tod und in der Zeit dazwischen, die man Leben nennt, immer real war, war die Bibliothek. die auf ihn wartete (jedenfalls meistens), und immer freute er sich darauf, sich mit seinen Büchern beschäftigen zu können.

Als Soldat las er immer von neuem die paar Bändchen, die er - im Handgepäck verstaut - hatte mitnehmen können. Es waren nur wenige, aber diese unendlich kostbar angesichts des Schreckens, der ihn umgab. Das Haus, in dem er mit seinen Eltern wohnte, wurde ausgebombt, sein Vater und seine Mutter überlebten, aber seine gesamte bis zu diesem Zeitpunkt zusammengetragene Büchersammlung wurde zerstört. Entschädigung für derlei Dinge bekam man nach dem Kriege nicht, seine Eingabe diesbezüglich wurde abschlägig beschieden.
Ihm war klar, daß er wieder ganz von vorn anfangen mußte.

Am Anfang hatte er die Angewohnheit gehabt, seine Bücher auf dem hinteren Deckblatt zu numerieren – so daß seine Tochter, wenn sie nach seinem Tode im Antiquariat stöberte und auf ein Buch traf, das sie in ihrer Kindheit im väterlichen Bücherschrank hatte stehen sehen, unwillkürlich den hinteren Einband öffnete und eine Nummer vorzufinden erwartete, aber der Zufall wollte das nie, es gab ja auch nicht nur ein Exemplar, und wer weiß, wohin der Buchhändler, an den der Nachlaß gegangen war, diesen inzwischen weiterverkauft hatte.

Als die Bücher zu einigen Tausend in speziell angefertigten Bücherschränken bis unter die Decke krochen, ließ er das Numerieren sein. Er ordnete sie nach Themen und Epochen, die schöne Literatur überwog stets die Sachliteratur, von der allerdings auch reichlich vorhanden war. Die Bücher breiteten sich überall in dem kleinen Einfamilienhaus aus, in dem er mit seiner Familie lebte, sie eroberten den Keller, Regale wurden auf dem Treppenabsatz und im Korridor angebracht, im Schlafzimmer fand sich immer noch Platz für das eine oder andere Gestell. Seine Frau kämpfte um ein Schränkchen in einer Ecke des Kellers und erhielt es, und dort brachte sie ihre Tier-, Pflanzen-, Kochbücher und Medizinratgeber unter. Ihn störte es nie, daß seine Frau seine literarischen Interessen nicht teilte, sie hatte Wichtigeres in dieser Ehe zu tun, meinte er augenzwinkernd, und die Kinder konnten das nur bestätigen, wurden sie nicht nur bestens versorgt, sondern gleichermaßen heiß geliebt. Eine Zuhörerin fand er in der älteren Tochter, die zwar nichts beisteuern konnte zu den abendlichen Gesprächen, was er nicht schon wußte, die sich aber auf diesem Wege eine solide Halb- bis Dreiviertelbildung erwarb, so wie sie nicht einmal die Schule mit ihrem Anspruch auf Allgemeinbildung bieten konnte - das war während der Sechziger. Als seine jüngere Tochter irgendwann in den frühen Achtzigern endlich beschloß, von zu Hause auszuziehen, erschien er eine halbe Stunde, nachdem sie lediglich erst einmal ihre Absicht im Familienkreise kundgetan hatte, mit einem Zollstock in ihrem Zimmer und – sie traute ihren Augen nicht - vermaß die Wände zwecks Einrichtung neuer Bücherregale.

Buchhandlungen und Antiquariate wurden regelmäßig abgegrast, Buchkataloge aus ganz Deutschland durchforstet, um Neuerwerbungen für eine Bibliothek zu tätigen, die immer mehr anwuchs und Raritäten versammelte, die nirgendwo sonst anzutreffen waren.
Wenn Gäste das Haus betraten und ob der Fülle des Gedruckten um sie herum aus dem Staunen nicht herauskamen, wußte er, daß jetzt wieder diese mit zurückgelegtem Kopf gestellte Frage folgte:
" Herr B., haben Sie die denn auch alle geleeeeesen???" – und er erklärte, daß das, was sie meinten, nämlich ein Buch von vorn bis hinten durchzulesen, angesichts der Anzahl der Bücher, die er inzwischen besaß, nicht möglich sei.
Tatsächlich aber hatte er sehr viele wirklich ganz gelesen, und im übrigen hatte er jedes Buch, das er jemals gekauft hatte, zumindest weitgehend an- und im weiteren kursorisch durchgelesen. Er kannte sie alle, und da der Krieg ihm seinen besten Freund genommen und späterhin der Tod einen Bekannten, aus dem ein Freund hätte werden können, geholt hatte, waren seine Bücher seine einzigen Freunde.Wenn er sie von Zeit zu Zeit neu sortierte und ordnete, waren sie wie vielversprechende lebende Wesen in seinen Händen, die ihn selbst am Leben hielten. Das wurde besonders deutlich, als sein Ende kam, als er schließlich zu schwach war, um überhaupt auf eine Leiter zu steigen. geschweige denn Bücherstapel zu rücken, er konnte sich in nichts mehr selber helfen, und als ihm klar wurde, daß er sein Haus und seine Bücher würde verlassen müssen, um in ein Pflegeheim zu ziehen, sagte er in der Woche vor seinem Tod zu seiner Tochter, was soll ich dann noch auf der Welt, wenn ich meine Bücher nicht mehr sehen darf.

Während seines ganzen Lebens hatte er immer ein spezielles Büchlein bei sich getragen, in denen all die Bücher vermerkt waren, die ihm noch dringlichst fehlten und nach denen er eifrig fahndete. Und immer wieder einmal während seines Lebens hatte er die Freude, eines dieser heißbegehrten Exemplare aufzustöbern, so daß die Liste der vor seinem Tode unbedingt noch anzuschaffenden Bücher mit der Zeit immer kürzer wurde, bis nur noch circa dreißig übrig waren.

Die zu bekommen hat er nicht mehr geschafft.

Letzte Aktualisierung: 27.08.2008 - 20.19 Uhr
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