Entschlossenen Schrittes stieg Herta die steile Treppe zum Dachboden hoch. Es kostete sie alle Kraft, die Luke nach oben zu schieben, bis diese sich knarrend öffnete. Durch die morschen Dachbalken fiel matt schimmernd das Sonnenlicht herein. Herta seufzte tief auf. Sie hatte es sich schon gedacht! Auch das Dach war nicht mehr dicht, müsste neu gedeckt werden. Dieses Haus war ein Fass ohne Boden – es müsste rundum saniert werden, um es wieder bewohnbar zu machen. Sie zwängte sich durch den schmalen Einstieg und zog sich auf den Bretterboden hinauf. Schwer atmend blickte sie sich um. Spinnweben und dicke Staubschichten bedeckten das Inventar. Alte Möbel, Kisten und Truhen, alles ordentlich zusammengeräumt, standen im Dämmerlicht. Plötzlich löste sich ein Schatten aus der Ecke und sauste auf sie zu. Herta schrie ängstlich auf und schalt sich sofort eine Närrin. Es war nur eine Fledermaus, deren Schlaf sie gestört hatte…
Wie oft hatte sie als Kind hier oben gespielt und sich in eine Traumwelt versetzt! Nun stand das Haus seit mehr als einem Jahr leer, seit ihre Mutter im hohen Alter von fast neunzig Jahren verstorben war. Jetzt hatte sie sich ihren Jahresurlaub genommen, um endlich „klar Schiff“ zu machen. Zuerst hatte sie in den unteren Räumen sortiert und ausgeräumt, der Dachboden war die letzte Bastion, die sie zu stürmen hatte. Wieder seufzte Herta. Hier oben war alles noch maroder als im unteren Teil des Hauses. Sie würde es wohl nicht erhalten können, dazu müsste sie mehr investieren, als sie jemals verdient hatte.
Erinnerungen wurden wach, als sie die alten Möbel ihres eigenen Kinderzimmers entdeckte, fein säuberlich mit alten Decken geschützt. Lächelnd schob sie sie zur Seite, fuhr mit der Hand über den wackligen Schreibtischstuhl… “Kind, nun hör doch auf zu träumen und mach endlich deine Hausaufgaben!“
Die strenge Stimme des Vaters erfüllte den Raum so deutlich, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte. Sie hörte ihre eigene helle Kinderstimme, die ängstlich antwortete: „Ja, Papa, ich mach schon.“
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Nein, das nun doch nicht! Nicht mehr nach so vielen Jahren! Sie ließ sich auf den Stuhl fallen. Warum nur hatte er ihr nie das Gefühl gegeben, sie lieb zu haben? Er hatte sie Ordnung und Pflichterfüllung gelehrt, aber ihr nie ein Gefühl von Wärme und Anerkennung vermittelt, so sehr sie sich auch anstrengte, ihm alles recht zu machen. Und ihre Mutter hatte demütig seinen Willen erfüllt und nur dann, wenn sie mit der Tochter alleine war, dieser ab und zu Zärtlichkeit und Liebe gezeigt.
Herta spürte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Ärgerlich wischte sie sie mit dem Handrücken weg und stand entschlossen auf. Vielleicht war es ganz gut, dass ihr die Mittel fehlten, das Elternhaus zu behalten. Zu viele traurige Erinnerungen waren damit verbunden! Sie würde es ausräumen, ein paar Stücke mitnehmen und es dann verkaufen, basta.
Sie zog eine schwere Kiste heran und öffnete sie. Bücher! Das war doch schon ein ergiebiges Feld! Sicher waren darunter auch etliche, die sie in ihren eigenen Bücherschrank einordnen konnte. Neugierig hob sie einige heraus. Belletristik. Hm, nicht gerade ihr Geschmack. Sie wühlte weiter. Kochbücher! Na so was. Warum die wohl hier oben gelandet waren? Es kam noch besser – Romanheftchen! Offenbar hatte sie die Literaturschätze ihrer Mutter entdeckt, die diese vor ihrem bildungswütigen Ehegatten hier verborgen hatte! Neugierig leerte sie die restlichen Bücher und Hefte auf den Boden aus. Was hatte Mutter denn da versteckt? Herta nahm das in Leinen gebundene Buch in die Hand. Ein handgeschriebenes Kochbuch etwa? Sie löste das Band, mit dem es zugebunden war, schlug es mittendrin auf, erkannte die Schrift ihrer Mutter. 12.1.44 Ewald lässt mir keine Ruhe. Ständig bedrängt er mich mit seinen Fragen. Ich kann sein Misstrauen nicht besänftigen. Auch zu dem Kind findet er keinen Zugang.
Herta stutzte. Das waren doch Tagebucheintragungen! Das Kind – das müsste sie gewesen sein? Hektisch blätterte sie zum Anfang des Buches zurück. 8.4.42 Vielleicht kann mir das Schreiben in dieses Buch ein wenig dabei helfen, wieder klarer zu denken. Ich hab ja keinen, mit dem ich über alles reden kann.
Ewald war auf Heimaturlaub da. Er hatte einen Kameraden aus dem Feld dabei, Otto Stigler. Ein feiner Kerl ist das. Wir haben viel gelacht zusammen. Er ist viel lockere als mein Ewald. Aber dem hat das nicht gefallen, wenn Otto und ich Spaß hatten. Heute früh sind sie wieder zurück an die Front. Komisch, wie leer es nun hier ist. Habe ich früher nie so bemerkt, wenn Ewald wieder wegfuhr.
Herta hob den Blick. Otto Stigler? Wer mochte das gewesen sein? Niemals war dieser Name in ihrem Elternhaus erwähnt worden. Sie las weiter. 15.4.42 Es ist schrecklich, ich fühle mich so ausgepumpt. Die Stille im Haus ist beängstigend. Das habe ich noch nie so gespürt. Meine Gedanken kreisen immer um Otto, das ist nicht recht. Warum haben Ewald und ich noch kein Kind bekommen? Das würde mir jetzt helfen, die Einsamkeit besser zu verkraften.
Auf der nächsten Seite war eine Feldpostkarte eingeklebt. Eine klare, markante Schrift, die Tinte inzwischen ziemlich verblasst, doch noch lesbar. Es war wunderbar, Sie kennen lernen zu dürfen. Ihr Bild macht mir das alltägliche Grauen leichter erträglich. Otto
Herta begann zu lächeln. Das sah ja grade so aus, als hätte ihre immer so korrekte Mutter sich vor langer Zeit in einen anderen Mann verliebt! Gespannt blätterte sie weiter.
Die nächsten Seiten waren gefüllt mit alltäglichen Begebenheiten, dann 16.7.42 Ewald hatte drei Tage Sonderurlaub. Er erdrückt mich mit seiner Rechthaberei. Musste immer daran denken, wie schön es war, als Otto dabei war.
Wieder eine Feldpostkarte. Habe Urlaub. Darf ich Sie besuchen? Otto
Offenbar hatte die Mutter dann keine Zeit für weitere Eintragungen gehabt. Herta malte sich in Gedanken aus, was geschehen sein könnte, bevor sie weiter las. 23.9.42 Ich weiß nicht mehr, was ich von mir denken soll. Die Tage mit Otto waren die schönsten in meinem Leben. Er ist so liebevoll und zärtlich. Mein Herz schwingt mit seinem. Doch wie soll ich jetzt Ewald gegenüber treten?
Das hätte sie ihrer Mutter nun allerdings niemals zugetraut! Hatte sie etwa ein Verhältnis mit diesem Otto gehabt?
Wieder war eine Feldpostkarte eingeklebt. Zauberhafte Feenfrau, meine Liebe wird Dir gehören, so lange mein Herz schlägt! Du fehlst mir unendlich. Auf immer Dein Otto
Die Schrift war verwischt und kaum leserlich, als seien Tränen darauf getropft.
O mein Gott, Mutter! Hastig blätterte Herta weiter. 9.1.43 Warum hatte Mutter ihre Aufzeichnungen so lange ruhen lassen? Ich bin völlig verzweifelt. Heute hat der Arzt meinen Verdacht bestätigt, ich bin schwanger. Was soll ich nur Ewald sagen? Sein Weihnachtsurlaub liegt doch viel zu kurz zurück!
Die nächsten Seiten waren gefüllt mit den immer gleichen Ängsten, Zweifeln und Sorgen der Mutter um die fortschreitende Schwangerschaft. Offenbar hatte sie den Kontakt zu diesem Otto abgebrochen, denn es waren auch keine Karten mehr eingeklebt. Und doch fanden sich immer wieder Sätze wie ich kann ihn nicht vergessen…er fehlt mir so sehr…
Dann wieder eine Feldpostkarte, vom April 43. Herta erkannte die Schrift ihres Vaters. Muss dir leider mitteilen, dass mein Kamerad Otto Stigler gestern auf dem Feld der Ehre gefallen ist. Schreibe Dir das, weil Du ihn auch gekannt hast. Bin gespannt, ob es mich auch noch erwischen wird. Ewald
Die nächsten Seiten waren leer, als hätte ihre Mutter damit ihre Gefühle ausdrücken wollen. Dann eine kurze Eintragung. 21.6.43 Habe eine gesunde Tochter zur Welt gebracht. Sie soll Herta heißen. Ottilie ist ja nicht möglich. Hoffe darauf, dass Ewald mir eine Frühgeburt glaubt.
Das Buch glitt Herta aus den Händen. Wie versteinert saß sie im Dämmerlicht des Dachbodens. Sie würde nicht weiter lesen, es ging sie nichts mehr an. Irgendwie hatten sich ihre Eltern wohl geeinigt und weiter zusammen gelebt. Aber das interessierte sie nicht mehr.
Denn sie, Herta, war dreiundsechzig Jahre alt geworden unter einer falschen Identität. Sie war nicht die, die sie zu sein geglaubt hatte. Und sie hatte keine Möglichkeit mehr, mit einem der Betroffenen darüber zu sprechen.
Als die Kälte der Nacht sich auch über ihren Körper ausbreitete, stieg sie mühsam die Holzstiege nach unten. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde das Haus verkaufen und nichts daraus mitnehmen. Es lohnte sich nicht mehr…
Letzte Aktualisierung: 21.08.2008 - 09.28 Uhr Dieser Text enthält 8655 Zeichen.