Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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August 2008
ausgelesen
von Sylvia Seelert

Wie oft hatte Irina sich schon gefragt, was sich wohl hinter der Neun verbirgt? Jedes Mal, wenn sie in den Fahrstuhl stieg, auf die Zwei drückte, um in das Stockwerk der orthopädischen Gemeinschaftspraxis zu gelangen, schoss ihr die Frage durch den Kopf. Dieses Haus hatte zwei Stockwerke. Warum also gab es in dem Fahrstuhl neun Tasten? So wie der Gedanke aufblitzte, verschwand er auch schon wieder, wenn sich die Türen des Fahrstuhls öffneten und sie nach draußen komplimentierten. Dann zählten nur noch ihre Schmerzen in der Schulter. Nie hinterfragte auch nur einer ihrer Mitfahrer die Anzahl der Tasten. Ordnungsgemäß fuhren sie in die erste Etage zu dem Kinderarzt oder in die zweite zu den Orthopäden.
Heute war Irina allein im Fahrstuhl. Die Türen standen auf, sie musste nur noch das richtige Stockwerk eingeben. Eins oder Zwei? Irinas Zeigefinger schwebte über der Zwei. Wie immer. Doch dann schob er sich zur Drei rüber. Sie hielt die Luft an, wartete auf ein Inferno.
Nichts geschah.
Nun gut. Dann halt die Vier. Mit jeder weiteren Zahl wuchs ihre Enttäuschung. Der Fahrstuhl rührte sich nicht. Wartete. Die Türen gähnend geöffnet. Es blieb nur noch die Neun. Sie drückte sie – aus dem Gefühl heraus, diese Versuchsreihe bis zum Ende durchführen zu müssen. Irina lachte sogar dabei. „Dumme Gans“, schalt sie sich laut.
„Sind Sie sicher?“
Irina blickte sich um. Woher kam diese Stimme? Dann sah sie wieder auf die Anzeige im Fahrstuhl. Die Taste Neun leuchtete rot.
„Oh Gott!“
Sie trat einen Schritt zurück.
„Eingabe nicht bestätigt.“
Das flammende Rot erlosch.
Irina wurde es ganz heiß und das Herz wummerte aufgeregt in ihrer Brust. Die Neun also.
„Sind Sie sicher?“
„Ja“, antwortete Irina mit zittriger Stimme.
Die Türen schlossen sich und der Fahrstuhl sauste abwärts. Sie fühlte sich wie im freien Fall. Ihr wurde ganz schwarz vor Augen und sie sackte auf den Boden. Nach unendlich scheinenden Sekunden blieb der Fahrstuhl stehen und riss seinen Rachen weit auf. Schwärze lag hinter den Türen.
Zögernd stand sie auf, starrte hinaus. Ein Licht schwankte in der Ferne. Es wurde größer. Wuchs zu einer Glaskugel an, die an einem Stock baumelte. Aus der Dunkelheit schälte sich ein hageres Männchen in einem grün-rot karierten Anzug. Auf spitzer Nase thronte eine Nickelbrille, hinter deren Gläsern sie ganz unverhohlen graue Augen musterten. Ein Kranz aus weißen Haaren umrahmte bürstenartig seinen Kopf. Er schwenkte den Stock mit der Lampe in Richtung ihres Gesichts.
„Name?“, fragte er sie mit einem affektierten Tonfall.
„Irina Mandelbaum“, antwortete sie eingeschüchtert.
„Folgen!“
Der kauzige Kerl drehte sich um und tappte mit schwankender Laterne in den Tunnel hinein.
„Moment“, wagte Irina einzuwenden. Das Männchen erstarrte in seinen Bewegungen und drehte sich mit hochgezogener Augenbraue zu ihr um.
„Wohin folgen? Wer sind Sie? Und wo bin ich hier überhaupt?“
„Fragen, nichts als Fragen. Folgen Sie mir einfach und Sie werden es nicht bereuen. Und belästigen Sie mich nicht mit unnötigem Geschwätz. Nur geschriebene Worte sind wichtig.“
Er kniff den Mund zu einem schmalen Strich zusammen und seine Augen funkelten sie herablassend an. Mit seiner Laterne watschelte er in die Dunkelheit hinein. Zögernd folgte Irina. Die Luft war kühl und trocken, die Wände des Tunnels glatt. Je weiter sie gingen, umso mehr häuften sich silbrige Einsprenkelungen in der dunklen Wand, bis Irina glaubte, dass sich darin der Sternenhimmel widerspiegelte.
Dann öffnete sich der enge Tunnel, wurde weit und Irina stand in einer riesigen Höhle. Säulen mit organischen Ornamenten schraubten sich in die Höhe, an denen Lampen in Blütenform befestigt waren. Endlos erscheinende Regale durchzogen den Raum. Buchrücken in unterschiedlichen Farben und Materialien kauerten nebeneinander. Ehrfurchtsvoll starrte Irina auf die Metall- und Lederrücken. Bücher. Sie liebte Bücher über alles.
„Kommen Sie, kommen Sie weiter!“
Ungeduldig herrschte er sie an. Und doch lag ein wohlgefälliges Glitzern in seinen Augen. Die Bewunderung seines Bücherschatzes schien ihm zu gefallen.
Sie liefen an Bänden von antiken Dichtern vorbei, kreuzten das Mittelalter und landeten bei den Klassikern wie Büchner, Goethe, Schiller oder Lessing. Nirgends blieb er stehen, trieb sie weiter zur Eile an.
„Franz Kafka“, quietschte Irina. „Ich liebe seine Erzählungen.“ Irina stand staunend vor den schwarzen Lederbuchrücken, die Kafkas Namen trugen.
„Das Urteil – das hat er in nur einer einzigen Nacht geschrieben.“ Sie strich fast schon zärtlich über das Leder des Buches.
„Und hier: Die Verwandlung, Der Process. Aber was ist das? Briefe einer Puppe? Den Titel kenne ich gar nicht von ihm…“
Fragend drehte sich Irina zu ihrem ungeduldigen Führer um. Doch der zerrte sie wortlos weiter. Sie durchwanderten einen Bereich mit unzähligen Namen, die sie nicht kannte, und Titeln wie „10.000 Arten meine Frau umzubringen“, „Invasion der Milben im Kühlschrank“, „Sternstunden beim Bügeln“ und Skurriles wie „Tomaten weinen, wenn sie gehäutet werden“ oder „Als der Geldautomat mit mir sprach und Benny sich ein Bein brach“.
In der Mitte der riesigen Höhle stießen sie auf einen zusammengerollten, schlafenden Drachen. Leises Surren und Seufzen lag in der Luft. Als sie näher traten, löste sich der Anblick in ein System aus silbernen Metallplättchen, leuchtenden Quadern und grauen Membranen auf, die sich gleichmäßig aufblähten und zusammenfielen. In dessen Zentrum stand ein Stuhl.
„Nun nehmen Sie Platz. Wollen Sie etwas lesen?“
Irina blickte sich nervös um. Die roten Lederpolster sahen weich und bequem aus.
„Haben Sie keine Angst. Es wird Ihnen hier nichts geschehen. Bücher sind das Einzige, was für mich von Interesse ist.“
Er schubste sie Richtung Stuhl und nickte wohlgefällig, als sie sich setzte.
„Mein Name ist Xaverius Librorum.“ Er verbeugte sich vor ihr. „Und diese Maschine wird Ihnen das unglaublichste Lesevergnügen bereiten, das Sie je erlebt haben. Sagen Sie mir nur, was Sie lieben: Humorvolles? Dramen? Gedichte? Liebesgeschichten?“
„Krimis. Je spannender, umso besser.“
„Gut, gut. Krimis also. Bitte lassen Sie mich diese Elektroden an Ihren Kopf befestigen.“
Xaverius stülpte ihr eine Kappe mit Elektroden in unterschiedlichen Farben über, deren Enden alle mit der Maschine verbunden waren. Dann tippte er mit seinen Spinnenfingern etwas in die Tastatur ein und zog einen Hebel. Das Brummen der Maschine nahm zu. Nach ein paar Minuten sauste ein Buch direkt auf Irinas Schoß. Es war aus einer Röhre über ihrem Kopf gefallen.
„Nun lesen Sie schon. Dafür sind Sie doch gekommen? Und entspannen Sie sich dabei. Es gibt nichts Schöneres, als zu lesen.“
Ein Lächeln huschte über Xaverius’ Gesicht. Irina nahm zögernd das Buch in die Hand. War sie zum Lesen hergekommen? Da war doch der Fahrstuhl gewesen. Ihre Erinnerung wurde schwammig. Sie wusste nicht mehr, wie sie in dieses Gewölbe gelangt war. Nur das Buch in ihren Händen war noch wichtig. Sie schlug es auf. Schon der erste Satz zog sie in seinen Bann. Irinas Augen flogen über die Zeilen und ihre Hand blätterte das knisternde Papier eilig weiter.
Xavier nickte zufrieden und tippte auf weitere Knöpfe an der Maschine. Das Brummen wurde von einem leisen Summen und Wispern abgelöst und endete erst, als Irina das Buch seufzend wieder zuschlug.
„Das war so wunderbar. Nie wäre ich auf den Mörder gekommen. Ich hatte das Gefühl, in dem Buch zu leben, und ich war darin die Hauptkommissarin.“
„Ja“, Xaverius nickte versonnen, „Bücher sind lebendig.“
„Darf ich noch eins lesen?“
„Nein, es ist genug. Zeit, dass Sie wieder gehen.“
Ungeduldig winkte er sie zu sich.
„Und hören Sie nicht auf zu lesen. Das ist wichtig. Nur so entstehen weitere Geschichten. Blonk wird Sie hinausbegleiten.“
Neben Irina stand ein kugelförmiger, kleiner Mann in einem schwarzen Overall. Aus seinem teigigen Gesicht blickten zwei traurige Knopfaugen sie an. Blonk stupste Irina vorwärts und sie verließen die Höhle, wanderten durch den dunklen Gang zurück zum Fahrstuhl. Dort drückte sie auf die Zwei und als sich die Türen hinter ihr schlossen, lösten sich die Erinnerungen an die vergangenen Stunden wie Nebelschwaden auf. Ob der Orthopäde ihr heute endlich die Schmerzen in der Schulter nehmen könnte?
Xaverius jedoch wippte aufgeregt mit dem Oberkörper hin und her, schrie dann freudig auf, als die Maschine ihm ein neues Buch in die Hände spuckte. Auf dem roten Ledereinband stand in silbernen Lettern: „Fahrstuhl der Erwartung. Irina Mandelbaum“. Xaverius leckte sich die Lippen und fing an, seinen neusten Schatz zu lesen.


Letzte Aktualisierung: 26.08.2008 - 23.42 Uhr
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