Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Bernd Kleber IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
August 2008
Ein Buch mit sieben Siegeln
von Bernd Kleber

Moritz sah aus dem Fenster und hörte Frau Schäfer zu, die mit ihrer angenehmen Stimme gerade den Unterschied zwischen Sinus und Cosinus erläuterte. Die Bäume im Park waren bunt geworden, sehr bunt. Der Herbst hatte die Blätter eingefärbt, als wolle er dem Frühling beweisen, dass er farbenfroher sein konnte. Und so war es auch, das konnte Moritz beurteilen, denn er sah zu jeder Jahreszeit aus dem Fenster. Dem Unterricht hörte er trotzdem zu. Oft hatte es deswegen mit den Lehrern Ärger gegeben, die wissen wollten, was denn draußen Tolles zu sehen war. Dann berichtete er zur allgemeinen Belustigung über Amseln, Finken und Spatzen oder die Katze des Hausmeisters. Er war der beste Schüler der Klasse, hatte nur Einser und Zweier, daher konnten die Lehrer nicht viel dazu sagen.
Die Tür zum Klassenraum öffnete sich und er wandte den Kopf. Die Direktorin der Schule, Frau Kniesewetter, kam in die Klasse. Im Schatten ihres massigen Körpers, unsichtbar, huschte jemand hinterher. Alle reckten die Hälse. Keiner der Schüler sagte ein Wort. Es schien für einen Augenblick, als würden sogar die Zeiger der Klassenuhr sich nicht mehr rühren. Sie sahen zu den beiden Lehrerinnen nach vorne, die miteinander tuschelten. Als die Direktorin einen Schritt zu Seite tat, gab sie den Blick auf ein Mädchen frei, das verlegen zur Decke guckte. Vielleicht wollte sie erforschen, ob der dortige Fleck eventuell eine geparkte Fliege sei? Moritz folgte ihrem Blick.
Frau Kniesewetter murmelte: „... so nun macht mal schön weiter ...“ und ging.
Da stand nun dieses Mädchen und sah an die Decke.
Frau Schäfer räusperte sich und erhob sich. Sie trat vor ihren Schreibtisch. „Das ist Isabella.“
Isabella ...!
Die Lehrerin erklärte, sie sei ein Kind auf der Durchreise, käme eigentlich aus Barcelona, könne aber gut deutsch, da sie mit ihrem Zirkus hauptsächlich in Deutschland, Österreich und der Schweiz gastierten. Isabella würde nun für drei Monate ihre Schule und somit ihre Klasse besuchen. Solange der Zirkus das Gebiet hier bereiste, solle man sie integrativ aufnehmen.
Integrativ...!
„Kommt ihr entgegen, schließlich ist es nicht leicht für Isabella. Ihr könnt nun gut beweisen, dass ihr das Zeug zu einem Ehrenmenschen habt. Reicht ihr die Hand“, schloss Frau Schäfer.
Ehrenmensch, Hand reichen ...!
Moritz sah Isabella an, die verlegen lächelte und musste selbst auch lachen. Dann ließ er den Blick durch die Klasse schweifen. Er konnte von seinem Platz am Fenster in der letzten Reihe den gesamten Raum überblicken. Einige Mädchen wandten sich demonstrativ ab,
.... Konkurrenz!
Ein paar Jungen kramten wieder unter dem Tisch oder in ihren Rucksäcken, sicher nach viel Wichtigerem suchend. Aber viele sahen verblüfft, erstaunt, neugierig, interessiert auf Isabella. Das war doch mal was, ein Mädchen aus dem Zirkus und mit so einem Namen,
Ii-sa-bell-aaaaaa.
Frau Schäfer sah sich um. „Moritz, stehst du bitte mal auf.“
Er stand auf und merkte verärgert wie seine Wangen heiß wurden.
Frau Schäfer wandte sich an Isabella: „Du kannst dich neben Moritz setzen, er wird dir nach dem Unterricht alles Wichtige sicher gern erklären.“
Isabella trabte leichtfüßig zu seiner Bank und setzte sich. Das ging so schnell, dass Moritz immer noch da stand, mit rotem Kopf und leicht geöffnetem Mund. Die meisten Mitschüler gackerten los, woraufhin er sich schnell setzte. Isabella bewegte sich nicht neben ihm, Moritz hörte, wie ihr Atem flach und leise flog. Wahrscheinlich war sie ebenso aufgeregt wie er selbst.
Frau Schäfer knüpfte am letzten Rechenbeispiel an. Moritz, der so gerne aus dem Fenster blickte und es genoss, sich auf dem Tisch allein breit zu machen, zog seine Sachen von der anderen Hälfte zu sich, sortierte und hantierte, ohne Isabella anzusehen.
Er konnte sie aber riechen. Sie roch gut, wie er fand, sehr gut. Fliederduft, sauber, ein ganz wenig nach Seife. Aus den Augenwinkeln konnte er ihre Hände sehen, schlank und langfingrig mit kurzen sauberen Nägeln. Sie knabberte nicht daran, stellte er fest. Er klappte sofort seine Fingerkuppen in eine Faust. Wenn er sich ein wenig zurücklehnte, konnte er ihre dunklen, sehr dichten, schweren und langen Haare sehen. Bis zum Ende der Stunde war Moritz damit beschäftigt, vorsichtig zu erhaschen, was an Isabella außergewöhnlich war. Die Glocke schrillte los, er nahm seinen Rucksack und packte ein. Kaum wollte er gehen, hörte er: „Moritz, biete, zei so gutt und zage mir alles wiischtiiges.“
Er sah sie an und errötete wieder, worüber er sich innerlich ärgerte. Wieso wurde er nun rot und wo kam das her und wie konnte er nur vergessen, was Frau Schäfer ihm aufgetragen hatte.
„Na?“, fragte Isabella und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Sicher fragt sie sich, ob ich taubstumm bin, ich Doofi, dachte er und stammelte:
„Ja, ähm, also“.
Isabella schmunzelte und meinte: „Maachst du Rundgang mit mir, das gutt, ich werde dann fragen, okay?!“
„Okay“ antworte er verlegen, schulterte den Rucksack und ging los.
Sie liefen an den Mädchentoiletten vorbei, an der Mensa, es gab einen Kiosk, wo der Hausmeister Milch, Kekse und anderen Süßkram verkaufte.
Moritz zeigte ihr die Schulbibliothek, die Aula, die Turnhalle und die Lehrkabinette für Chemie und Physik mit ihren großen geheimnisvollen, verschlossenen Schränken. Das Schulsekretariat lag auf ihrem Weg und das Büro der Schülerzeitschrift. Überrascht stellte er fest, dass sich Isabella und er ganz locker miteinander unterhielten. Er lauschte ihren spannenden Geschichten aus dem Zirkus.
Sie war Trapezkünstlerin und flog durch die Lüfte wie ein Vogel, sagte sie, und ihr Vater sei Fänger und habe die stärksten Arme der Welt. Bedingungslos würde sie ihm vertrauen. Natürlich gehöre Liebe dazu, sich fallen zu lassen. Isabella lud ihn zu einer Vorstellung ein. Er dürfe sich alles ansehen, wenn er rechtzeitig vorher käme. Und sie würde ihm ihre Lieblingsziege zeigen, deren Name ebenfalls Isabella war. Das hatte sie ihm nur verraten, nachdem er ihr versprach, das niemandem in der Klasse zu erzählen, vor allem keinem anderen Mädchen. Sie wurde einmal an einer anderen Schule die gesamte Zeit Ziege genannt, weil sie leichtfertig einen Aufsatz geschrieben hatte: "Mein liebstes Tier heißt Isabella“.
So etwas würde sie nie wieder machen. Man brauche eben als Mensch auch Geheimnisse.
Der Nachmittag war ganz schnell vergangen. In den Räumen der Schülerzeitschrift, druckte er für Isabella am Computer den Stundenplan aus. Sie lobte sein Geschick. Beide schlenderten noch ein Stück gemeinsam durch die Stadt. Sie verabredeten, sich am nächsten Tag an dieser Stelle zu treffen.
Moritz ging allein nach Hause. Dort angekommen musste er seiner Großmutter erklären, warum er so spät dran war. In knappen Worten berichtete er von einer neuen Mitschülerin. Auf die Frage der Großmutter, ob er jetzt sein Mittagessen wolle, sagte er: „Nein, hab` keinen Hunger“ und ging ins Bad. Er stellte sich vor den Spiegel und wunderte sich, dass er eine so große Nase hatte und seine Zähne schief aussahen. Das war ihm noch nie aufgefallen. Er nahm die Zahnbürste und viel Zahncreme, was seine Großmutter, die an der halb offenen Tür vorüber kam, schmunzelnd zur Kenntnis nahm. Außerdem schrubbte er seine Fingernägel oder besser gesagt das, was nicht abgeknabbert war.
Ruhelos ging er nun in sein Zimmer, machte die Spielkonsole an. Als das Bild sich aufgebaut hatte, schaltete er wieder aus. Er lief in die Küche, sich Tee zu holen, dann ins Wohnzimmer. Als müsse er Versäumtes nachholen, stellte er sich ans Fenster und sah hinaus. Seine erhitzte Stirn lehnte er an die Kühle spendende Scheibe. Ein tiefes Seufzen drang aus seinem Mund. Die Großmutter blickte verschmitzt hoch, schob die Brille auf ihrer Nase zurecht und widmete sich wieder ihrem Kreuzworträtsel.
Moritz nahm Platz auf dem großen alten Clubsessel, die Beine über die Seitenlehne hängend und sah in die Fernsehzeitung, blätterte vor und zurück, ließ sie auf seine Knie sinken.
Lächelnd fragte seine Oma: „Na, was gibt es heute in der Röhre?“, worauf Moritz aufsah und „Keine Ahnung, musst du mal nachsehen“ antwortete. Er reichte die TV-Zeitung hinüber, stand nervös auf, schlurfte in sein Zimmer und packte den Rucksack für den nächsten Tag, was er üblicherweise eigentlich immer am Morgen kurz vor dem Losgehen tat. Er setzte sich auf sein Bett und starrte auf den Teppich mit den großen bunten Kreisen, Seifenblasen gleich stiegen sie empor und vereinten sich, um dann zu zerplatzen ...
Seine Großmutter klopfte an die Tür und fragte, ob er nicht ins Bett gehen wolle, was Moritz bejahte. Er musste fast zwei Stunden dort so gesessen haben, fiel ihm beim Blick auf die Uhr auf.
Nach erneutem Zähneputzen ging er zur Oma und umarmte sie, diese sah ihn über ihren Brillenrand an und meinte liebevoll: “Gute Nacht, Junge und denke daran: Ein Buch mit sieben Siegeln“...
„Was?“, fragte Moritz.
Sie sah ihm wissend in die Augen: „Die erste Liebe!“

Letzte Aktualisierung: 01.08.2008 - 10.28 Uhr
Dieser Text enthält 9091 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.