Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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August 2008
Zeichen und Wunder
von Hajo Nitschke

“Dir, Herr, dir allein …“ Ich registriere, wie meine Eltern beginnen, in die ungewohnten Gesänge einzustimmen. Das fünfhundert Besucher fassende Zelt ist voll besetzt. Die Gemeinde des Lammes stellt den Hauptanteil, aber es dürften mehr als hundert Fremde anwesend sein. Ich danke Jesus, dass auch Papa und Mama hergefunden haben. Vor einigen Monaten wurde ich Mitglied dieser über viele Länder verteilten jungen Gemeinde. Ich konnte dem Heiligen Geist nicht länger widerstehen. „Lisa, mach keinen Quatsch!“, hatte mein Bruder mich gewarnt. Mein armer kleiner Bruder! Er weiß nichts von Erlösung. Dabei hätte er sie so sehr nötig! Die Familie wird durch seine Psychose schwer geprüft. Ein Kind noch, aber seelisch am Ende! Niemand weiß, warum. Der Therapeut ist zuversichtlich, bittet um Geduld. Schade, dass der Bub nicht mitkommen will! Aber wenigstens unsere Eltern haben endlich nachgegeben. Vater kennt sich als fleißiger Kirchgänger gut in der Schrift aus. Dies hier ist ihm jedoch suspekt. Trotzdem wird Willis Genesung heute Abend beginnen. Ich spüre das, denn Albert – Bruder Albert – hat schon etliche Abwesende geheilt.

Die Bibel in der Hand, schreitet Prediger Albert Wieske langsam nach vorn, als drücke ihn eine gewaltige Last. Er weiß um seine Verantwortung für das Heil vieler Suchender. Fühlt ihre Schuld, leidet unter ihren Krankheiten. Sie sehen ihn an: Skepsis hier, Hoffnung dort. Welch wunderbarer Mann! Trotz seiner bald siebzig Jahre eine beeindruckende Erscheinung. Schlanke, hohe Statur, unter leicht ergrautem Haar ein fein geschnittenes Gesicht, aus dem strahlende Augen gütig die Versammelten mustern. Wie ich ihn verehre, der mich zum Glauben brachte und auf den Namen des Lammes taufte! Mich, Lisa Degenhard, die eine Jüngerin wurde! - Bruder Albert beginnt die Verkündigung. Einige neigen wie ich kurz das Haupt zur stillen Fürbitte.

Ich blicke verstohlen umher: Kreuz, Kanzel, langer roter Teppich, vorbereitetes Heilungsareal. In der ersten Reihe weiß gekleidete Täuflinge mit Angehörigen (der Vollzug der Taufe liegt bereits hinter uns). Daneben Gemeindeälteste, Vertreter der Muttergemeinde und eine Dame der Presse. Diese Gemeinschaft mit ihrem Wachstum und ihren (nur für Kritiker umstrittenen) Wundern ist in unserer Zeit einen Bericht wert! Unermüdlich reisen ihre Boten von Ort zu Ort, Unerlöste in wahrstem Wortsinn zu heilen. Überall entstehen Zentren. Zahlreiche Berichte über besiegte Krankheiten liegen vor. Bruder Albert – auch er ständig im Lande unterwegs - ist ein Auserwählter! Welch Segen, dass gerade diese geheiligte Persönlichkeit nach Siegen entsandt wurde! Seit Jahren übernimmt er im Sommer den Zeltdienst. Auch jetzt umreißt er mit gewaltiger Stimme den Heilsweg. Spricht von der selig machenden Liebe. Und dass das Lamm ihn, seinen Diener, auserkoren habe zum Wohl für viele. „Auch heute werden wir Wunder sehen!“, ruft er. „Liebe Freunde, es werden Menschen gesund werden! Durch den Glauben wieder hergestellt an Leib und Seele, denn so steht es geschrieben! Halleluja, Preis und Ruhm!“

Gebannt hänge ich an seinen Lippen. Albert ist das Sprachrohr des Heilandes. Obgleich er die Worte auswendig kennt, liest er sie ab. „Es steht geschrieben …“. Ich bewundere ihn so, kennt er die Heilige Schrift doch wie kein anderer! Eigentlich habe ich ihn noch nie ohne seine Bibel gesehen, auch nicht außerhalb des Zeltes. Als wäre er mit ihr verwachsen, so kostbar ist sie ihm. Wenn dieser Mann das heilige Buch bedächtig auf die Kanzel legt, prüfend anhebt, wieder absenkt und sorgfältig ausrichtet, gleicht das einem liebevollen Ritual. Behutsam über den Einband wischen, mit gekanteten Handinnenflächen paarweise alle Ränder schützend umgrenzen und abmessen, die Hände über dem Einband falten, einen Augenblick in Andacht verharren. Dann feierlich die Schrift aufschlagen, sie gar flammenden Blickes emporheben, mit der Rechten den Zuhörern entgegenstrecken, während die Linke die Worte unterstreicht: Welch Gottesmann!

Dass er je einen Zweifel zuließ oder Antwort auch auf die schwierigsten Fragen schuldig blieb, habe ich nicht erlebt. Ob bei Erweckungspredigten, Seelsorge, Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder Zurüstung von Mitarbeitern: Es gab nie Unsicherheiten. ‚Seht her, liebe Freunde!’ (er zeigt das heilige Buch in die Menge) ‚Kann sich Gottes Wort irren? Ich sage euch: niemals!’ Wer will da widersprechen!? ‚Halleluja’, schallt es dann, oder ‚Amen’ (manchmal englisch ‚Äi-mähn’) und ‚Preist den Herrn’. ES STEHT GESCHRIEBEN! Schöpfung in sechs Tagen und vor exakt zwölftausend Jahren? Adam und Eva, Jungfrauengeburt, Dreifaltigkeit? – ‚Kind, vertraue, es steht alles so geschrieben!’

Die Predigt ist zu Ende, abgeschlossen durch vollmächtiges Gebet: Bitte um Segen für den bald folgenden Höhepunkt des Abends. Der Chor intoniert „Komm, Sünder, komm!“ Bruder Albert erklärt den Ablauf. Wieder ein Lied, diesmal alle: “Strom der Gnade, wirke mächtig hier in unsrer Mitte.“ – Vater und Mutter lesen den Text mit – „Flut des Segens, lenk nach vorne unsre pilgermüden Schritte.“ Mit wohlklingender Stimme lädt der Geistliche alle ein, die den Ruf des Lammes vernommen haben und heil werden möchten. „Nur Mut, meine Freunde“, beschwört er, „ihr müsst es öffentlich bezeugen. Kommt nach vorne, ihr Lieben! Wer macht den Anfang?“ Leise Töne der elektrischen Orgel – und da erhebt sich der erste, noch zögernd. Ein zweiter, ein dritter, halleluja! Die Reporterin macht Aufnahmen. Mehr und mehr drängen nach vorne. Meine Gebete werden erhört: Die Eltern reihen sich ein!

Albert und seine Helfer fragen nach Namen, lassen sich die Gebrechen erklären, sprechen Segen, legen Hände auf. Immer wieder beten sie, manchmal in unverständlicher, vom Geist eingegebener Sprache. Hier und da gerät ein Bekehrter in Verzückung. Bevor er stürzen und sich verletzten kann, wird er von den bereit stehenden Mitarbeitern aufgefangen und auf Decken gebettet. Jemand ruft, er brauche seine Krücke nicht mehr. Dem einen schwinden Herz-, dem anderen Kreuzschmerzen. Eine zuvor blinde Frau gibt weinend an, sie vermöge schwache Umrisse zu erkennen. Nun ist Papa an der Reihe. „Sag uns Namen und Anliegen, mein Sohn. Wenn du möchtest, benutze das Mikrofon.“

Papa räuspert sich, ergreift das Mikro. Mein Herz will schier zerspringen. „Also, ich bin der Heinz, … Heinz Degenhard. …“ Der Gottesdiener runzelt leicht die Stirn. Die richtigen Worte fallen Vater schwer, Mama stupst ihn aufmunternd an. „Meine Frau Inge und ich sind hier, weil …“ Bruder Albert blickt freundlich von ihm zu ihr und zurück. (‚Nun sag es schon, Papi! Weil Willi wieder gesund werden soll!’) „... weil wir zu Hause … zu Hause … einen kranken Sohn haben.“ Raunen: Die Gemeinde weiß um Bruder Alberts Vollmacht zur Fernheilung. „Und weil … weil … WEIL SIE DAS VERURSACHT HABEN!! S I E ...!“

Schweigen. Schmerzhaft und scheinbar endlos. … Ein Meer bestürzter Gesichter. … Dann leises Getuschel … Wieder Stille. Die Leute hinten sind aufgesprungen. Fassungslosigkeit, Entsetzen. Nur die Pressefrau reagiert und schießt Bild auf Bild. Es kommt mir vor, als setze mein Herzschlag aus. Bruder Albert hebt abwehrend die Bibel wie einen Schild, als wollte er rufen: ‚Weiche von mir, Satan!’ Doch es kommt kein Wort über seine Lippen. Mir stockt der Atem, ich möchte hier raus! „Jaaa, deine Bibel! Nicht wahr, da stehen doch hinten die Namen all der armen Jungen, an denen du Ratte dich vergangen hast! Er hat uns heute Morgen alles erzählt, hat ein Jahr aus Scham geschwiegen! Wil-li-De-gen-hard! - ‚Lasset die Kindlein zu mir kommen’, was? Du scheinheilige Drecksau! In der Hölle würden sie schmoren, wenn sie etwas erzählen, wie?“ Vaters Gesicht ist rot angelaufen, seine Stimme überschlägt sich, Mama greift nach der Bibel. Und Albert? Mein guter Hirte? Ich bin wie gelähmt. So sag doch was, Albert! Ein Missverständnis, nicht wahr?!

Es geht sehr schnell, wie in einem einzigen Augenblick. Einiges weiß ich nur von Dritten: Bruder Albert versucht, etwas aus der Bibel herauszureißen, schafft es infolge Handgemenges nicht, hastet - von Papa verfolgt - hinaus, beschleunigt, als er Handschellen sieht, rennt über die Straße, zwei Polizisten hinterher. Ihm entgleitet die Bibel, er wirft sich auf sie, um sie nicht den Verfolgern zu überlassen, springt wieder hoch: Bremsenquietschen, Räderkreischen, dann liegt der Prediger mit verrenkten Gliedern sechs Meter entfernt in seinem sich ausbreitenden Blut. Tot. Das Buch der Bücher irgendwo im Schmutz. Die alte Lutherbibel mit Goldschnitt in schwarzem Ledereinband wird später als Beweismittel sichergestellt. Ihre letzten Notiz-Seiten enthalten zahlreiche Namen. Die kleinen Opfer sind unter einer Rubrik ‚Nachwuchsschulung’ säuberlich aufgelistet, darunter ‚Willi Degenhard, 11 Jahre. Siegen, August 2007, 2 Einsätze“.
...

Das alles ist sieben Wochen her. Die meisten der missbrauchten Buben konnten ausfindig gemacht werden. Willi wirkt wie befreit, nachdem er sich den Eltern an jenem Morgen anvertraut und alles von der Seele geredet hatte. Es waren Tränen geflossen. Man hatte lange Zeit zusammengesessen, sich umarmt und getröstet. Auch ich, bis vor kurzem noch ‚Jüngerin’, bin sozusagen geheilt. Kein Vorwurf von meinen Eltern! Nur Liebe und Erleichterung: sie haben ihre Kinder zurück! Zumindest für uns hat sich das Leben normalisiert. Nach einer Zeit des Abstandes sichten wir heute die Presseberichte mit Bildern und Interviews. Mein Blick fällt auf das Foto einer aufgeschlagenen Bibel mit angekreuztem Vers. Vater erklärt, er habe sie nach dem Unfall als erster gefunden, aufgehoben, rasch Deuteronomium, Kapitel 32, Vers 35 aufgeblättert und in die Kameras gehalten. Diese Textstelle sei ihm bereits im Lauf des Tages in den Sinn gekommen: Erschütternd, auf welche Weise sich Gottes Wort hier erfüllt habe! – Die Zeitungen haben das alles zitiert. Mutter und ich vergleichen die markierte Stelle mit der Hausbibel. Auch dort steht es geschrieben:

„Die Rache ist mein! Ich will vergelten.“

Letzte Aktualisierung: 09.08.2008 - 14.14 Uhr
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