Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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August 2008
Psalm 23
von Sabine Barnickel

„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser….“
Ich liebe diesen Psalm. Er gibt mir Kraft, immer wieder aufs Neue. Ich vergesse für einen Moment alles um mich herum, die Menschen, den Grund, warum ich hier bin – und meine Gedanken gehen auf Wanderschaft, während ich den Psalm weiter vortrage.

Die Menschen hier waren überrascht, als die Gelben Heuschrecken bei uns einfielen, allen voran die Wirtschaftsbosse. Ja, ich habe noch erlebt, dass Europäer unsere Fabriken leiteten. Ich war damals noch ein Kind, aber mein Vater hat mir immer davon erzählt. Plötzlich waren sie da und jeder wunderte sich, wie das hatte passieren können. Wir haben ihnen unsere Technologien und unser Wissen geradezu aufgedrängt, sie haben alles aufgesogen, was wir ihnen angeboten haben, sich unsere Arbeitsweisen angeeignet. Mein Vater war Wirtschaftsjournalist. Er hatte immer vor der Gelben Gefahr gewarnt – man hatte ihn nicht ernst genommen

„… Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen….“
Der Ledereinband des Buches ist warm in meinen Händen, ich halte mich daran fest.

Es kamen immer mehr von ihnen. Sie drehten den Spieß um. Unsere Politiker wollten es nicht wahrhaben, hießen sie von Anfang an willkommen: Aufgrund des Bevölkerungsrückgangs in unserem Land bräuchten wir Fachkräfte, frisches Blut, Nachwuchs, alles das, was der sogenannte Westen nicht mehr leisten konnte. Sie kamen an unsere Schulen und Universitäten, wurden mit Stipendien gefördert. Studienplätze für unsere eigenen Kinder dagegen wurden unbezahlbar und andere Ausbildungsplätze knapp. Sie wurden für ihren Ehrgeiz und ihre Bescheidenheit geschätzt – vor allem letzteres war uns schon lange abhanden gekommen.

„… Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich….“
Meine Hände zittern – ich bin alt und habe am Ende meiner Tage nichts mehr zu verlieren

Sie schickten ihre Ameisen. Die Gewerkschaften versuchten sie auf die Straße zu bringen, für bessere Löhne und Gehälter, doch sie gingen nicht mit. Sie taten einfach ihre Arbeit und brachten das Wirtschaftswachstum vorwärts und ihr eigenes auch.
Gleichzeitig vermehrten sie ihr Wissen und ihre Bildung. Sie übernahmen unsere Presse, unsere Medien, Journalisten wie mein Vater wurden überflüssig, wurden kurzerhand ausrangiert. Man könnte es sich doch wieder leisten, in Frührente zu gehen. Es wurde nicht von Berufsverboten gesprochen – oder schlimmerem.

„… Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein….“
Ich habe keine Angst mehr vor ihnen. Mein Leben lang habe ich mich versteckt. Ich wünschte mir, es sei noch nicht zu spät.

Irgendwann hatte einer von ihnen den ersten Ministerposten inne, und ehe wir uns versahen übernahmen die Gelben Heuschrecken die politische Führung. Wir wurden zu einer Demokratie, in der gewählt wird, was von oben gewünscht wird. Wir bekamen eine Pressefreiheit, die nur eine Meinung vertritt. Für die Ameisen war das nichts Neues – sie machten, wie gewohnt, mit.
Wir lernten ihre Sprache, ihre Schrift. Unsere Bücher, unser Glaube – nicht nur der christliche – verschwanden. Bücher wurden geschreddert, eingestampft oder einfach verbrannt. Kirchen, Moscheen und Synagogen wurden zweckentfremdet oder abgerissen. Sie verboten alles, was nicht in ihre Welt passte. Widerstand wurde mit Erziehungsmaßnahmen, Gefängnis oder schlimmerem bestraft.

Unsere Bücher sind so gut wie verschwunden, unser Glaube auch. Ich stehe auf dem Platz, an dem früher unsere geliebte Frauenkirche stand, liebevoll in langen Jahren wieder aufgebaut. In meinen Händen halte ich eines der verbotenen Bücher. Ich tue etwas, was ich in all den Jahren nie gewagt hatte. Jetzt, am Ende meines Lebens. Mein Blick schweift über die Menschen, die sich um mich gesammelt haben: Eine Mischung aus Europäern und Asiaten.
Polizisten drängen durch die Menge. Ich habe bis jetzt gar nicht bemerkt, wie viele es sind, die mir zu hören, oder einfach nur da stehen und gaffen. Jetzt spüre ich auch die widersprüchlichen Gefühle, die mir entgegenschlagen. Wut, Bewunderung, Verachtung.
Ich klappe das Buch zu und streichle noch einmal zärtlich über den Einband. Aus meiner Hosentasche ziehe ich ein Erbstück meines Vaters, ein Überbleibsel aus den Zeiten der westlichen Übermacht, ein Zippo-Sturmfeuerzeug.

Ich halte die Flamme an das Papier. Das Buch ist überflüssig geworden, es gibt niemanden mehr, der es lesen könnte, und ich werde es ohnehin bald nicht mehr brauchen

„… Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,….“

Ich sehe die Wut in den Gesichtern der Polizisten geschrieben. Die Flammen erreichen meine Finger, aber ich spüre die Hitze nicht.

„… und ich werde bleiben im Hause des Herren immerdar.“

Letzte Aktualisierung: 16.08.2008 - 00.55 Uhr
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