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August 2008
Lutz
von Carolin Frey

Seit 22 Jahren arbeitete Lutz inzwischen bei der Post. Seit fünf Jahren leitete er die Abteilung „F“ im Sortierzentrum am Hauptbahnhof. „F“ stand für Falsch. Lutz war der Herr der Ausschleusungen, der unleserlichen Handschriften, der falschen Postleitzahlen und der unzureichend frankierten Briefe. Er verrichtete seine Aufgaben präzise und zuverlässig.
Lutz war ein kleiner, drahtiger Mann. Seine Stirn hatte sich derweil bis zur Mitte seines Schädels ausgedehnt und die wirr-lockigen Strähnen über seinen Ohren waren deutlich mit Grau durchzogen. Er trug Flanell-Hemden und Birkenstock-Sandalen, trank Bio-Tee aus einer Alu-Thermoskanne und für die Pause schmierte er sich Käse-Vollkornstullen.
Lutz war ein Mann, der die Regelmäßigkeit schätzte. Veränderungen verursachten ihm ein flaues Gefühl in der Magengegend. Unvorhergesehene Zwischenfälle – das Tröten des Maschinenalarms, unangemeldetes Klingeln an seiner Wohnungstür – machten ihn übermäßig nervös.

Lutz’ Niedergang begann ohne besondere Vorankündigung. Das auslösende Element war ein unscheinbares Päckchen, das er am Morgen seines 43sten Geburtstages aus dem Briefkasten zog.
Es war die Sendung eines Internetshops, die das Buch „Namen – Herkunft und Bedeutung“ eines Georg Gallenhofers enthielt. Nach einigem Maulen, warum er dieses nie bestellte Buch erhalten habe, entdeckte er auf dem Lieferschein:
„Liebes Karlchen, alles Gute zu deinem Geburtstag. Grüße aus Regensburg Deine Tante Käte. “
Nach dem Pflichtanruf, dem artig aufgesagten „Ja, danke. Ganz toll. Natürlich, natürlich freue ich mich über das Buch. … Bis bald – Ja, mach ich. – Bis bald, Tante Käte“, lag das Buch zwei Wochen auf dem Telefontischchen. Lutz beäugte es jeden Tag im Vorbeigehen, hatte aber keine rechte Lust sich damit zu befassen.
„Namen“, sagte er und schnaubte missmutig, „ich hab doch einen.“

Am Sonntag schlug er das Buch dann doch auf und sah sich augenblicklich einer epochalen Erklärung gegenüber:
„Deshalb ist es nicht ratsam, der fremden Verkürzung, ja in vielen Fällen sogar Verstümmelung des eigenen Namens zuzustimmen. Beharren Sie auf Ihrem korrekten Namen, lassen Sie Sandra nicht zu Sandy werden, Michael zu Mike, Johann zu Jo. Die Coupierung Ihres Namens ist einer Coupierung Ihrer Persönlichkeit gleichzusetzen.“
Das gab ihm zu denken. Wer hatte eigentlich angefangen mit diesem Lutz? Waren das Klassenkameraden gewesen? Sein Bruder? Er wusste es nicht. Soweit er sich zurückerinnern konnte, war er „Lutz“ genannt worden, von allen. Und auch er selbst hatte sich stets als „Lutz Schulz“ vorgestellt.
(Es fiel ihm gar nicht auf, dass ihn Tante Käte schon immer „Karlchen“ genannt hatte.)
Die Überlegungen zu seiner Namens-Verstümmelung, bei der er ganz offensichtlich eifriger Mittäter gewesen war, ließen ihn den ganzen Tag nicht los. Selbst in der Nacht träumte er, man würde ihm für jede Schüler-Verfehlung einen Buchstaben seines Namens aberkennen, bis am Ende des Schuljahres ein blankes „Du“ übrig blieb.
„Du da, wisch die Tafel!“
Lutz wachte schweißgebadet auf. „Karl-Ludwig! – Ich heiße Karl-Ludwig!“, rief er in die Stille der Wohnung hinein.
Als er den Teekessel anschaltete, war der Entschluss gefasst:
„Lutz war mal. Ab heute Karl-Ludwig!“
Diesen Satz, in einer Vielzahl ähnlicher Abwandlungen, sagte er im Laufe der nächsten Tage zu jedem, der ihn mit dem nunmehr ungültigen Vornamen ansprach. Die Reaktionen variierten von ungläubigem Augenblinkern bis zu ausgelassenen Lachsalven.
Ganz vage ahnte er, dass sich seine Kollegen über ihn lustig machten, doch Lutz – Entschuldigung! – Karl-Ludwig beharrte auf seiner Namensmetamorphose und versuchte das ungute Gefühl in seiner Magengegend zu ignorieren.

Etwa eine Woche nach seiner Umbenennung verließ Karl-Ludwig um 19:12 Uhr das Haus, um die Acht-Uhr-Schicht anzutreten. Seine Straßenbahn würde um 19:17 Uhr an der Haltestelle stehen, um 19:43 Uhr würde er am Hauptbahnhof aussteigen und um 19:53 Uhr seine Stechkarte durch das Lesegerät ziehen. – Ein Tag wie jeder andere.
Karl-Ludwig wartete gerade an der einzigen Fußgängerampel auf seinem Weg zur Haltestelle, als ihn ein Gedankenblitz von enormer Tragweite traf. Die Ampel wurde Grün, aber er blieb stehen, als wäre er zu Trockeneis erstarrt.
„Der Herd!“, entfuhr es ihm. Er hatte den Herd angelassen. Karl-Ludwig musste zurück.
Er lief so schnell, dass die Sohlen der Sandalen „Flop-Flop-Flop“ an seine Socken schlugen.
Eilig schloss er Haus- und Wohnungstür auf und lief in die Küche: Der Herd war aus, er hatte sich getäuscht. Karl-Ludwig schnaubte halb erleichtert, halb verärgert.
Zurück zur Haltestelle. Wieder war die Ampel rot und die Straßenbahn längst verpasst. Es war 19:37 Uhr als die nächste Straßenbahn ihre Türen hinter Karl-Ludwig schloss. Er setzte sich, holte tief Luft und versuchte sich mit seinem nun unvermeidlichen Zuspätkommen abzufinden.
Die Straßenbahn bewegte sich mit der Geschwindigkeit einer altersmüden Weinbergschnecke. Selbst die Stimme des Tonbandes schien die Haltestellen vorzusprechen, wie sich eine 45er auf 33 1/3 anhört:
„Uunniwersitäääzklihhnikuuummh. … Vohgääählwhaaaidstraaahhßeeeee.“
Karl-Ludwigs Nerven waren aufs Äußerste gespannt. Als die Lautsprecherstimme bei „Baseler Platz“ angekommen war, durchzuckte es ihn auf derart heftige Weise, dass er tatsächlich glaubte, vom Blitz getroffen worden zu sein.
„Mein Gott! Die Wohnungstür!“
SchweiĂź trat ihm auf die Stirn. Er war sich ganz sicher, in der Eile und dem Durcheinander nicht abgeschlossen zu haben.
Als sich die Türen am Baseler Platz öffneten, sprang Karl-Ludwig hinaus und rannte – intoniert von einem „Flopflopflop“-Stakkato – zur anderen Haltestellen-Seite.

Karl-Ludwig erschien an diesem Tag nicht mehr zur Arbeit. Drei weitere Versuche scheiterten jeweils auf Höhe „Stresemannallee“. Als es ihm am nächsten Tag nicht einmal gelang, seinen Hausarzt aufzusuchen, saß er leise jammernd auf seinem alten Fernsehsessel und rief in der Praxis an, um einen Hausbesuch zu erbitten.
„Herr Schulz, Sie scheinen mir ja sehr angespannt zu sein. – Ich schreib Sie jetzt mal bis Freitag krank. Sie ruhen sich aus, gehen etwas spazieren und am Montag sehen wir dann weiter.“
„Und was ist, wenn …“
„Nun“, griff Doktor Reicherts seiner Frage vor, „machen Sie sich alle wichtigen Schritte bewusst. Sagen Sie, wenn Sie’s tun: ‚Ja, ich habe den Herd ausgeschaltet’, dann wird es schon gehen. – Was Sie erleben, ist ein typisches Stress-Symptom.“

Karl-Ludwigs Nervenkostüm gesundete. Er ging wieder zur Arbeit und befolgte Dr. Reicherts Rat: „Ja, die Wohnungstür ist abgesperrt. … Ja, der Herd ist aus; beide Platten. … Ja, der Stecker des Bügeleisens …“.
Er musste nur noch selten zurĂĽck, obwohl er fortan immer genug Zeit einplante.
Doch nun begannen die Probleme auf der Arbeit. Seine Kollegen sahen ihn immer öfter wie ein aufgeschrecktes Wichtel am Band der Sortieranlage hin und herlaufen, und immer häufiger zog er am Nothalt der Maschine, stammelte etwas von einer Klappe, die sich hätte öffnen müssen, sich aber nicht geöffnet habe …
Drei Wochen sah sich das sein Vorgesetzter mit an, dann bat er Karl-Ludwig zum Gespräch. Man einigte sich darauf, Karl-Ludwig wieder dem wesentlich beschaulicheren Arbeitsfeld des aktiven Postdienstes zu überantworten. Er bekam ein Fahrrad und das neue Riedberg-Viertel zugeteilt.
Die Crux entpuppte sich – inmitten der artigen Reihenhäuser – als eine Wohnanlage am südlichsten Rand seiner Zuständigkeit.
Jedes Mal, wenn Karl-Ludwig vor den achtzehn Briefschlitzen stand, ĂĽberkam ihn groĂźe MĂĽdigkeit. Er wusste, dass nun sein Martyrium begann:
„Ein Quelle-Schreiben für Beate Bauer“, sagte Karl-Ludwig und hob den Briefkastendeckel. „Ein Brief für Herbert Wiesmüller; eine Postkarte – von den Malediven, ah-ha – für Marianne Fink; ein Einwurf-Einschreiben für Felix Möller …“, so deklinierte er die Namen und Postsendungen fort, bis das Unvermeidliche geschah: Er war sich bald nicht mehr sicher, ob Frau Bauer oder Frau Sauer Beate mit Vornamen hieß, ob Herbert nun Wiesmüller oder Möller zuzuordnen war, ganz zu schweigen ob Marianne jetzt Frank oder Fink hieß.
Er musste es kontrollieren! Was hätte er angerichtet, würden die Leute die falschen Briefe aufmachen! Wenn er das Einwurf-Einschreiben (!) nun zu Wiesmüller – oder war es doch bei Möller gewesen ….
Jeden Schmerz missachtend schob Karl-Ludwig seine Hand ganz tief in den Briefkastenschlitz. Gleich, gleich würde er den äußersten Zipfel des Briefcouverts zu fassen bekommen …
Am nächsten Tag bewaffnete sich Karl-Ludwig mit einem Kochlöffel. Und als er bei Strobel und Hobel durcheinander kam, brachte er ihn zum Einsatz. Mit dem Stiel tief im Hobel-Schlitz stocherte er nach seinem letzten Einwurf, als er hinter sich eine Stimme hörte:
„Sagen Sie mal, guter Mann, was machen Sie denn da?“
„Ich?“ Karl-Ludwig hielt den Kochlöffel hinter seinem Rücken. „Gar nichts.“
„So sieht das aber nicht aus. – Sie können doch nicht einfach in den Briefkästen andrer Leute herumwühlen.“
„Und ob ich kann! Ich bin der Briefträger. – Und wer sind Sie?“
„Wiesmüller, ich wohne hier.“
„Sehen Sie, Herr Wiesmöller …“
„–Müller. Und ich denke, wir holen jetzt mal lieber die Polizei.“
„Was?!“, schrie Karl-Ludwig. „Aber warum denn?“
Herbert Wiesmüller packte ihn unversehens am Ärmel und klingelte bei Strobel. – Oder war es Hobel? Egal. – Jedenfalls erschien sieben Minuten später eine Streife vom 14er Revier. Inzwischen hatte Herr Wiesmüller große Mühe, den zappelnden und sich wortreich verteidigenden Karl-Ludwig zu bändigen. Den Polizisten fiel das nicht leichter. Unter vollbesetzten Küchenfenstern wurden Karl-Ludwig Handschellen angelegt. Seine letzten, vernehmbaren Worte waren: „Ich bin der Briefträger!“, dann schlug die Autotür zu.

Drei Stunden später wurde Karl-Ludwigs Bruder ins Krankenhaus gerufen.
„Mein Gott, Lutz“, entfuhr es Walter Schulz bei seinem Anblick. „Was machst du nur für Sachen?“
Die Augen des Patienten verdrehten sich, bis nur noch das WeiĂźe zu sehen war. Eine Flocke Schaum tropfte aus seinem Mundwinkel.
„Das wird schon wieder, Lutz! Das wird schon wieder“, rief er ihm durch die Schwingtüren hinterher.

Letzte Aktualisierung: 27.08.2008 - 20.03 Uhr
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