Ich hatte es mir immer und immer wieder angehört und nun war das Fass zum Überlaufen voll! Ein Thema kam in der Gruppe auf und noch bevor die Diskussion sich in tiefere Gefilde vorgekämpft hatte, wurde ganz plötzlich ein Sieg proklamiert. Mit den einfachsten Argumenten! Sie waren den Felsen kaum angegangen und behaupteten sogleich, dass sie eine Statue erschaffen hatten. Wie sollten wir eine fundierte Debatte führen, wenn diese Frau es jedes Mal nur darauf anlegte, meine Argumente dem Boden gleich zu machen? Es mussten immerhin fast zwei Stunden gewesen sein, die wir hier gesessen hatten, als ich mir wütend meinen Mantel schnappte und aus dem Gebäude stürmte. In meiner Brust zog sich das Herz schmerzhaft zusammen. Schon nach dem letzten Zusammentreffen mit dem Teufel hatte mein Arzt mir geraten, Stress zu vermeiden.
Elisabeth Schmalwinkel, eine Person mit düsteren Augen und einer adretten Hochsteckfrisur. Sie hat keine Hobbys, keine Freunde, keine Interessen. Seit sechs Monaten ist dieses Scheusal mein Verderben. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie nur auf dieser Welt wandelt, um mein Leben zu verschlimmern. Auf ihrem Weg hat sie sich die Gunst einiger Anhänger erspielen können, die, mit jedem Argument, das sie hervorbringt, in plötzliches Zustimmen verfallen. „Das sehe ich nicht so“, poltert Elisabeth Schmalwinkel beispielsweise. Und es würde nur Sekunden dauern, bis Babara Pfefferkorn zu nicken beginnt. „Hmm ... Ja.“ Die stets mausgrau gekleidete Babara Pfefferkorn war keinesfalls die einzige, die sich Elisabeth Schmalwinkel bei jedem ihrer Auftritte zu Füßen warf. Auch Jürgen Platzwart, der in der Regel eher als stummer Beobachter bekannt war, hatte sie um ihren Finger gewickelt. Für ein „Hmm ... Ja.“ würde er sich selbst aus der tiefsten Trance reißen.
Ich wollte den Club nutzen, um mein Interesse zu teilen und meine Leidenschaft mit anderen gemeinsam zu ergründen. Aber diese Menschen verwendeten – abgesehen von Karl Haasehügel – all ihre Energien darauf, die Argumente des anderen in einem fortwährenden geistigen Wettstreit zu untermauern.
Allgemein betrachtet konnte von geistreicher Besprechung keine Rede sein. Erst letzte Woche hatte ein Anhänger aus Elisabeth Schmalwinkels Sekte eine meiner Ideen dem Erdboden gleichgemacht. Sie hatte mit ihrer piepsigen Stimme schlichtweg „Nein, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden“ kundgetan und es dabei belassen, als sei dies ein akzeptabler Einwand. Jürgen Platzwart hatte daraufhin kurz innegehalten, dann genickt. „Hmm ... Ja.“ Ende der ‚Diskussion’. Ich war so verwundert, als sie ihre Meinung nicht weiter ausführte, dass ich keinen Ton über die Lippen brachte. Was sollte man schließlich auch dagegen einwenden?
Auf das Thema des heutigen Abends hatte ich mich seit Wochen gefreut, die Bücher schon viermal innerhalb dieser Zeit gelesen. Ursprünglich ließ es sich auf eine Idee meinerseits zurückführen und mit Freuden sollte ich beim Betreten des Raumes (ich hatte mich immerhin um fünf Minuten verspätet) feststellen, dass Elisabeth Schmalwinkel nicht erschienen war. Sie kam generell zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung. Um sich zu vergewissern, dass ihre Jünger in ihrer Nähe Platz nahmen, so mutmaßte ich.
Vielleicht sollten wir heute endlich eine vernünftige Diskussion einleiten, bei der auch eine Analyse, die nicht in den Kram dieses Wesens passte, eine Chance hatte. Und tatsächlich: Fast eine Stunde verbrachten wir damit, die Weiten des Herr der Ringe zu ergründen und uns über die Methoden auszutauschen, mit denen Tolkien seinen Figuren Leben einhauchte und die dunkelsten Bilder in unseren Köpfen heraufbeschwor. Nach besagter Stunde begann ich mich zu wundern. Was wohl mit meinem persönlichen Verderben passiert war? Es entsprach nicht ihrer Art, den wöchentlichen Termin zu übergehen. Ich stellte mir eine plötzliche Erkrankung vor, durch die sie es nicht geschafft hatte, aus ihrer dunklen Höhle zu kriechen, um mir den Abend zu vermiesen. Für mich kam diese Veranstaltung einem tiefen Atemzug an einem Frühlingsmorgen gleich, meine Gedanken konnte ich endlich ungehindert mitteilen. Kein Wort des Widerspruches von Seiten Jürgen Platzwarts, kein Einwand von Babara Pfefferkorn, deren rechtes Augenlid jedoch kurz zuckte. Ihr allwöchentlicher Text fiel ihr nicht ein, als ihre Anführerin keine Vorlage bot. Ich sah mich am Ziel meiner Träume, der Aufwand zahlte sich nun endlich aus ... als die Tür aufgerissen wurde und Sauron den Raum betrat.
Meine wundervollen Einfälle zerfielen zu Asche, der Abend wandelte sich in eine hitzige Auseinandersetzung unter dem Einsatz aggressiver Körpersprache. Wir waren an dem Punkt angelangt, an dem wir uns jede Woche der filmischen Umsetzung des Werkes zuwandten, soweit diese vorhanden war. Natürlich begann ich den Regisseur sofort zu loben, man sehe es schließlich nicht alle Tage, dass ein Film die Zuschauer derart in seinen Bann zöge. Noch dazu bei einem Buch, welches unter den Lesern diesen Bekanntheitsgrad erreicht habe. Er schaffe es, die Bilder, die sich bisher nur in ihren Gedanken geformt hatten, auf die große Leinwand zu bringen, ihnen Gestalt zu verleihen. Ein dunkler Blick aus Elisabeth Schmalwinkels Richtung, dann ein lautes Lachen. Die ‚Winkel’ – wie mein einziger Unterstützer und Mitleidender Karl ihre Anhänger nannte – stimmten ebenfalls mit ein und der Drache warf in die Runde, dass J.K. Rowling viel erfolgreicher sei, in geringerer Zeit weitaus mehr Anerkennung erhalten habe und noch dazu mit ihren Harry-Potter-Büchern ein weiteres Publikum ansprach. Verblüfft wusste ich vorerst nichts zu entgegnen, war es doch eines der ersten Male, dass sich Elisabeth Schmalwinkel so redefreudig zeigte. Einen Moment wartete ich gespannt auf ‚Nein, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden’. Als sie dennoch still blieb, nahm ich einen letzten Versuch auf mich, um Frodo zu verteidigen und ihm im Kampf gegen das Böse zur Seite zu stehen. Beim Herr der Ringe ginge es nicht um Kommerz und Tolkien habe mit seinen Werken die englische Literatur wirklich verändert. Er sei es gewesen, der den Grundstein für Rowling und viele folgende Autoren des Genres gelegt habe. „Nein, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden.“ Meine Augen weiteten sich. Babara Pfefferkorn nickte zustimmend, schien sich endlich darauf zu besinnen, welche Aufgabe ihr in diesem Kreis zuteil war. „Hmm ... Ja.“
Mir reichte es an dieser Stelle! Wortlos griff ich nach meinen Sachen und verschwand nach draußen. Der Abend endete damit, dass Karl mich fragte, warum ich den Buch-Club nicht einfach verließ. „Wenn du sie so sehr hasst, warum gehst du dann nicht? Sie macht dich nervös und sieh es mal so: Es gibt etliche Clubs in der Stadt, tritt einem von ihnen bei und du wirst sehen, du bist Elisabeth Schmalwinkel los!“ Die Antwort war offensichtlich, Karl kannte sie. Es war mein Buch-Club. Ich hatte ihn gegründet und unter Anstrengung aufgebaut. Ich hatte mich darum gekümmert, dass wir wöchentlich eine Räumlichkeit zur Verfügung hatten. Ich hatte um die Teilnehmer geworben! Und ich war gerade dabei, aus diesem Club herausgedrängt zu werden, da alle nach der Pfeife dieser Schlange tanzten. Da konnte ich ihn nicht verlassen und mir einen anderen suchen. Ein Wechsel stand außer Frage.
***
Tags darauf traf ich Elisabeth Schmalwinkel in der Stadt. Als ich sie erkannte, wollte ich mich erst postwendend umdrehen und in der anderen Richtung verschwinden, meine Neugier siegte jedoch. Unbemerkt stellte ich mich neben sie an das Bücherregal, dem ihre Aufmerksamkeit galt. Sie hielt Thomas Mann in den Händen und warf einen misstrauischen Blick auf die Reihe der Bücher Erich Kästners. „Nehmen Sie Kästner“, riet ich ihr mehr aus Versehen denn Absicht, „seine Bücher aus den frühen Dreißigern sind unerreicht.“ Verwundert sah sie mich an, erkannte erst jetzt, wen sie überhaupt vor sich hatte. Ich erwartete das übliche ‚Nein, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden’. Nach Überdenken des gestrigen Abends kam es mir bereits wie der einzig mögliche Reflex auf mich vor. Jedes Mal, wenn ich in ihrer Nähe war, sprudelte diese bissige Bemerkung wie von selbst aus ihrem Mund.
„Meinen Sie wirklich?“ Sie kannte einen Wortschatz jenseits ihres Lieblingssatzes!
Ein Nicken meinerseits. ‚Hmm ... Ja.’ hätte richtigerweise meine Antwort lauten müssen, ich verkniff es mir. Sie hatte eine Chance verdient und ich nahm zielstrebig einen Band aus der Aufstellung. „Lesen Sie Fabian, Sie werden begeistert sein.“
„Hmm ... Ja.“ Mit dem plötzlichen Rollenwechsel wusste ich nichts anzufangen, wartete deshalb geduldig, bis sie den Klappentext studiert hatte. „Fabian.“ Sie nickte. „Haben Sie weitere Empfehlungen für mich?“
Bevor ich mich versah, hatten wir ein Gespräch begonnen, das dem zweier Menschen, die sich zufällig getroffen hatten, in nichts nachstand. Diese Elisabeth Schmalwinkel ähnelte der Elisabeth Schmalwinkel, die ich bisher kennen gelernt hatte, absolut nicht. Hinter dem nicht sehr einladenden Einband steckte mehr als ich dachte. An der Kasse angekommen, hatte ich bereits ein Verabredung mit meiner Erzfeindin im Einkaufswagen.
Und sollte sie versuchen, diese abzusagen – damit bin ich überhaupt nicht einverstanden!
Letzte Aktualisierung: 26.08.2008 - 10.37 Uhr Dieser Text enthält 9493 Zeichen.