Auf der Suche nach der verlorenen Geschichte von Eva Fischer
Ich war fĂŒnf Jahre alt, als ich mein erstes Buch bekam. Es war ein Geschenk meines Onkels aus der Ostzone (wie man die DDR lange nannte), der mir bisher jedes Jahr zu Weihnachten eine Puppe geschenkt hatte und nun meinte, ich sei allmĂ€hlich zu alt fĂŒr Puppen.
Es war ein Buch mit dem Titel: Hausschatz deutscher MĂ€rchen. Als einen Schatz empfand ich das Geschenk erst einmal nicht. Ich vermisste meine Puppe.
Dennoch nahm ich das Buch in die Hand, öffnete es und schaute mir die vielen schwarz - weiĂen Bilder an, auf denen merkwĂŒrdig gekleidete Menschen waren, Tiere, Könige, Prinzessinnen, eine neue Welt, die mich neugierig machte.
Leider konnte ich noch nicht lesen, aber ich hatte einen dreizehn Jahre Ă€lteren Bruder, der mir daraus vorlas. Es bereitete ihm viel SpaĂ, seine Stimme den Personen anzupassen und die Wirkung, die er bei seiner kleinen Schwester erzielte, gefiel ihm wohl auch.
Wenn Schneewittchen in Gefahr war, fĂŒrchtete ich mich. Als Schneewittchen starb, weinte ich. Der Prinz, der Schneewittchen in die Arme nahm, nachdem der todbringende Apfel durch das tollpatschige Stolpern der Diener entfernt worden war, zauberte ein befreites LĂ€cheln auf mein Gesicht.
Immer und immer wieder wollte ich all diese Geschichten hören. Die Menschen aus dem Buch waren fĂŒr mich lebendig geworden, Teil meiner eigenen kleinen Welt.
Mein Bruder war geduldig und er entfĂŒhrte mich oft in das neue Reich der Fantasie.
Es war wieder einmal Weihnachten und ich wartete ungeduldig auf das Christkind.
Meine sehr beschĂ€ftigte Mutter hatte ihren Sohn angewiesen, er möge sich um seine jĂŒngere Schwester kĂŒmmern.
Mein Bruder schlug vor, mir eine neue Geschichte aus dem Buch vorzulesen und ich war sogleich begeistert.
Er begann: Es war einmal ein kleines MĂ€dchen, das lebte mit seiner Familie in einem Haus unweit eines Waldes. Jedes Jahr zu Weihnachten zog es mit seinem Vater in den Wald, um nach dem schönsten Weihnachtsbaum Ausschau zu halten. Der Vater zeigte auf einen Baum und fragte: "Liebe Tochter, gefĂ€llt dir dieser Baum?" Das MĂ€dchen betrachtete den Baum nĂ€her und sagte: "Nein, dieser Baum ist zu klein." Oder: "Nein, dieser Baum ist zu schief.â
Endlich ward der richtige Baum gefunden und das kleine MÀdchen klatschte vor Freude in die HÀnde. Da nahm der Vater seine Axt und fÀllte den Baum. Gemeinsam trugen sie ihn nach Hause und stellten ihn in die gute Stube.
Der Vater sagte: "Liebe Tochter, ich hoffe, du hast den richtigen Baum ausgesucht und das Christkind ist damit einverstanden und schmĂŒckt ihn fĂŒr uns.â
Dann nahm er seine kleine Tochter bei der Hand und gemeinsam spazierten sie durch die Stadt und das kleine MĂ€dchen schaute neugierig durch die Fenster, die sich allmĂ€hlich erleuchteten und wo die Menschen emsig ihre Vorbereitungen fĂŒr Weihnachten trafen. Sie merkte nicht, wie kalt und dunkel es mittlerweile geworden war. SchlieĂlich sagte der Vater: "Mein liebes Kind! Es wird Zeit, dass wir zurĂŒckkehren.â
Sie waren sehr weit gegangen und suchten nach dem Hauptweg. Plötzlich sahen sie einen Hund vorbeikommen, der auch zu frieren schien. "Es wird ein kaltes Weihnachtsfest werdenâ, sagte der Hund und schĂŒttelte sich. "Es tut mir leid. Ich muss weiter.â "Warum kannst du sprechen?â fragte das MĂ€dchen. "Aber weiĂt du denn nicht, dass wir Tiere kurz vor Weihnachten eure Sprache sprechen können? Verstehen können wir euch das ganze Jahr, nur ihr uns nicht. Allerdings können nur Kinder uns kurz vor Weihnachten verstehen, Erwachsene nicht.â
Mit diesen Worten entschwand der Hund und tatsÀchlich - der Vater schien nichts gehört zu haben.
Es dauerte nicht lange, da trafen sie auf eine Katze. Das MĂ€dchen blieb neugierig stehen. Vielleicht sprach die Katze zu ihr. Nach einem kurzen Miau wechselte sie in die Menschensprache. "Oh, was plagt mich das Rheuma", jammerte sie. âSei froh, dass du noch so jung bist.â Und schon war die Katze um die nĂ€chste Ecke verschwunden.
Der Vater drehte sich zu seiner Tochter um und mahnte sie zur Eile. Aber das MÀdchen wollte doch zu gern noch ein Tier reden hören und trödelte ein wenig. Aber so sehr sie auch Ausschau hielt, sie konnte kein Tier mehr finden.
SchlieĂlich kamen der Vater und seine Tochter zu Hause an. Ein Glöckchen erklang. Die TĂŒr zur Stube wurde geöffnet und da stand der geschmĂŒckte Weihnachtsbaum prĂ€chtiger denn je.
Bevor sie die Geschenke auspacken durfte, musste sie sich an den Tisch setzen. Wie jedes Jahr gab es auch dieses Mal Forelle. Sie schaute in die toten Augen des Fisches und fing bitterlich zu weinen an. Und wie sehr ihre Eltern sie auch zu ĂŒberreden suchten, sie aĂ nichts von dem Fisch.
Ich konnte es nicht fassen. In diesem Buch stand eine Geschichte von mir, denn es war mir klar, dass ich das kleine MĂ€dchen war, das keinen Fisch essen konnte, dem man in die Augen sah. "Und diese Geschichte steht da ?â fragte ich meinen Bruder immer wieder. Er zeigte auf die Schrift, die ich leider noch nicht lesen konnte.
"Bald kommst du in die Schule und dann kannst du die Geschichte selbst nachlesenâ, sagte mein Bruder.
Endlich war es soweit. Die Lehrerin fĂŒhrte mich in die wunderbare Welt der Buchstaben ein.
Nun konnte ich den Hausschatz der MĂ€rchen selber lesen. Aber so sehr ich auch suchte, ich fand die Geschichte, die mir mein Bruder vorgelesen hatte, nicht.
Eines Tages wollte die Lehrerin meine Mutter sprechen. Sie mahnte meine Mutter, sie möge mich endlich aufklÀren. Ich sei die einzige in der Klasse, die noch an MÀrchenfiguren glaube.
MĂ€rchen sind nichts anderes als LĂŒgen, dachte ich. Ich begann sie zu hassen und aus lauter Trotz spielte ich nun lieber mit meinen Freunden anstatt BĂŒcher zu lesen.
Jahre spĂ€ter, ich war mittlerweile im Gymnasium, entdeckte ich die Welt der BĂŒcher neu.
Ich las Liebesgeschichten, glĂŒckliche und unglĂŒckliche. Ich las Guy de Maupassant, Gustave Flaubert, Lew Tolstoi, Dostojeweski, Charlotte BrontĂ«, Jane Austen, Thomas Mann, Heinrich Böll und noch viele andere.
Ăberall suchte und fand ich einen Teil von mir wieder, aber daneben auch viel Fremdes, Faszinierendes. Die BĂŒcher gaben mir Antworten und stellten mir Fragen. Sie unterhielten mich, fesselten mich, provozierten mich, bildeten mich.
Ich feierte meinen 40. Geburtstag und hatte auch meinen Bruder eingeladen, der mittlerweile mit seiner Familie in einer anderen Stadt wohnte. Es wurden launige Reden gehalten, es wurde getanzt, gelacht, getrunken. Da ĂŒberreichte mir mein Bruder mein Geschenk. Ich packte es aus. Es war ein MĂ€rchenbuch. Ich hatte mich zwar mittlerweile mit MĂ€rchen ausgesöhnt, ihre Symbolsprache verstanden, aber meine Geschichte wĂŒrde ich doch nicht finden. "Gib nicht auf, Lena!â sagte mein Bruder. "Diesmal wirst du deine Geschichte finden", versprach er.
Ich blĂ€tterte das Buch durch, als mir ein Umschlag in die HĂ€nde fiel. Ich öffnete ihn und fand ein StĂŒck vergilbtes Papier. Ich erkannte die Schrift meines Bruders und ich erkannte meine Geschichte.
"Es gibt sie also doch!â rief ich aus und umarmte meinen Bruder.
"Geschichten, in denen du vorkommst, kannst nur du schreiben oder jemand, der dich sehr gut kenntâ, meinte er augenzwinkernd.
Letzte Aktualisierung: 05.08.2008 - 14.02 Uhr Dieser Text enthält 7173 Zeichen.