Ganz schön bissig ...
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August 2008
Die Bibel
von Lena Pesch

„Ihr seid also Jems Söhne.“ Die alte Indianerin schwieg und stocherte im Feuer.
„Vater wollte, dass wir dich finden, Tante Melly.“
„Nennt mich nicht Melly, mein Name ist 'Die mit weißer Zunge spricht’“, schnaubte sie.
Aber es war geschehen und die Erinnerung überfiel sie mit Gewalt.

[i]„Nein! Nicht! Hilfe! Lasst mich!“ Die Schreie draußen wurden schwächer, klangen erstickt, hörten auf.
Männerstimmen kamen näher, Stiefelabsätze pochten auf die Bretter der Veranda, die Tür knallte gegen die Wand.
Melly kroch tiefer in die Nische hinter der Kommode, eine natürliche Vertiefung der Felsen, an die sich die Hütte lehnte. Hier würde sie keiner finden. Trotzdem schlug ihr Herz so laut, dass sie befürchtete, es könnte sie verraten.
Was hatten sie bloß mit Mama gemacht? Mama, ... bitte leb noch ... bitte ... diese Schweine ... Mama ... Melly musste an sich halten, um nicht zu wimmern.

Die Stiefel marschierten in der Stube herum, ein Stuhl wurde umgestoßen. Das Poch, Poch, Poch näherte sich, hörte vor dem Möbelstück auf. Die Schubladen krachten auf den Boden.
„Verflucht, wo ist das Buch? Verdammt! Da nicht, da nicht, hier auch nicht!“
Bei jedem „da nicht“ erhielt eine der Schubladen einen Tritt, sodass sie gegen die Füße der Kommode knallte und diese erzittern ließ.

Melly bibberte ebenfalls. Die Beine bis zum Kinn hochgezogen, die Augen weit aufgerissen, nahezu atemlos kauerte sie auf dem Felsboden. Ihre kalten Finger umklammerten die kleine Bibel, das Heiligtum ihrer Mutter.
„Wenn mal was passiert, Melly“, hatte sie gesagt, „kriechst du unter der Kommode durch ins Versteck, hältst dich ganz ruhig und behütest meine Bibel.“
Sie hatten es sogar geübt. Die Kleine hatte ihre helle Freude an dem lustigen Versteckspiel gehabt. Und jetzt war es bitterer Ernst geworden.
Die Stiefel entfernten sich in Richtung Herd. Töpfe schepperten auf den Boden, Geschirr zerbarst.
Geht weg, geht bitte, bitte wieder weg! Melly fing an zu beten.

„Ich hau den ganzen Laden hier zusammen, wenn das Buch nicht bald auftaucht. Wo hat die Schlampe es versteckt?“ Die Männerstimme klang wütend.
Melly biss sich auf die Lippen. Schlampe sagt er zu meiner liebsten Mama! Sie ballte eine Hand zur Faust. Die andere schob Mamas Bibel zwischen ihren Oberkörper und die Beine. Ihre Lippen zitterten.
Wann geht ihr endlich wieder? Haut doch ab! Bitte, lieber Gott, mach, dass sie verschwinden! Bitte, lass meiner Mama nichts Schlimmes passiert sein! Melly schloss die Augen und konzentrierte sich völlig auf das Beten. So bekam sie nicht mehr mit, dass die Männer das Haus verließen und wegritten.

Melly rümpfte die Nase. Komischer Geruch ... Ihre Beine waren eingeschlafen, das Hinterteil tat ihr weh vom Hocken auf dem kalten Fels, sie war erschöpft.
Aber es roch eigenartig.
NEIN! Sie haben es angezündet! Das Haus brennt! Ich muss raus hier! Sie wand sich unter der Kommode hervor in die Stube. Es knisterte, zwischen den Balken drang Rauch durch das Ritzenmoos. Melly hustete, stolperte über einen umgestürzten Stuhl, fiel mitten in die Steingutscherben und schnitt sich ihre Knie und die linke Hand auf. In der rechten hatte sie Mamas Bibel, die den Boden nicht berühren sollte.
Au, au! Egal, nur raus hier, ich ersticke! Melly rappelte sich hoch, stolperte durch die Tür auf die Veranda und gleich weiter die Treppe in den Hof hinunter, die Stützbalken knackten in den Flammen.
„Mama! Wo bist du?“ Antwort gab nur das Knistern des Feuers. Die Scheune! Mirka und Tatti! Das Mädchen rannte über den Hof und stieß das Tor zum brennenden Ziegenstall auf. Die Tiere meckerten und quietschten in Todesangst, schlugen mit den Hufen und rannten mit den Hörnern gegen die Boxenbretter.
„Raus mit euch! Mama? Mama? Antworte doch!“

Mittlerweile brannte das Gehöft lichterloh. Melly floh aus der Hitze.
Nur weg hier ... Mama ... bist du weggelaufen? Wohin hast du dich gerettet?
Am Waldrand musste sich das Kind außer Atem und von Seitenstechen geplagt hinlegen. Seine Hand hielt immer noch die Bibel umkrampft.
Der kleine Talkessel war erfüllt von beißendem Rauch. Es war nichts mehr zu retten.
Warum lassen sie uns nicht in Ruhe? Was haben wir ihnen getan? Wieso will ständig jemand Mamas Bibel haben? Mama, wo bist du? Und wenn sie jetzt hier im Wald auf mich warten?
Melly blickte sich ruckartig um, schaute hierhin, dorthin, versuchte, mit den Augen das Dickicht zu durchdringen, lauschte angestrengt zwischen die Bäume.
Nichts. Das einzige Geräusch drang von unten herauf: Prasseln und Knacken. Kein Hufschlag, keine Rufe, nur die Stimme des Feuers.

Das Mädchen lehnte sich an einen Baumstamm. Sein tiefschwarzes Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst, Schmutzstreifen malten noch nicht vorhandene Runzeln in ihr Gesicht. Es hatte keinen Zweck, jetzt nach Mama zu suchen. Wenn das Feuer aus war, würde sie schon auftauchen.
„Bleib möglichst ruhig, wenn mal was ist“, hatte sie immer gesagt. „Hinsetzen, durchatmen und nachdenken.“
Ja, genau das würde sie tun. Die Bibel war gerettet, hier am Waldrand hatte Melly einen guten Überblick und wenn das Feuer verloschen war, würde sie hinuntergehen und Mama finden.
Außerdem kamen Papa und Jem sicher bald zurück.

Doch sie kamen nicht und nachdem Melly eine Nacht unter den Bäumen am Waldrand verbracht hatte, ihre Mutter sich auch am nächsten Tag nicht zeigte, begann das Mädchen durch den Wald zu marschieren. Irgendwo musste doch das Zelt des Großvaters stehen, Vater hatte viel davon erzählt.[/i]

An dieser Stelle ihrer Erinnerung ebbte die Beklemmung ab, die Indianerin schloss die Augen und bot ihr Gesicht dem Vollmond dar. Das silbrige Licht malte ihre Runzeln weich, das in all den Jahren ergraute Haar erschien im Schatten des Kopfes fast schwarz.

Die Alte mühte sich hoch, humpelte ins Tipi und kam mit einem in feines rotes Leder gehüllten Gegenstand zurück.
„Hier, die Bibel meiner Mutter. Euer Erbe. Hunter und seine Bande wollten sie haben. Wegen ihr ist meine Mutter verbrannt. Achtet gut auf sie!“
Travis blickte auf. Er schüttelte den Kopf. Die Alte ließ das Päckchen fallen, verschwand im Zelt, verschloss den Eingang und begann, eine an den Nerven zerrende Melodie zu singen.

„Sie ist es.“
„Ja, aber keiner außer uns weiß es. Sie vertraut uns.“
„Was machen wir jetzt mit dem Buch?“
„Glaubst du, dass es das Buch ist, von dem Vater gesprochen hat?“
„Schau nach!“
„Ich? Nein, ich fass das nicht an. Da klebt so viel Blut dran!“
„Wozu haben wir dann das alles auf uns genommen? Darum ging es doch!“
„Also ich wollte einfach Melly finden. Vater war sich so sicher, dass seine Schwester noch bei Großvaters Stamm lebt. Was brauchen wir das Buch? Es ist verflucht!“
„Travis, du bist abergläubisch.Verflucht? Quatsch. Eine Bibel ist sicher vor einem Fluch! Vater wollte, dass wir sie finden, beide, Melly und die Bibel seiner Mutter.“
„Wieso eigentlich?“
„Das weiß nur er und jetzt ist er schon zehn Jahre tot.“
Gregory griff nach dem ledernen Objekt und wickelte es auf. Eine kleine, unscheinbare Bibel kam zum Vorschein, wie sie viele Frauen im Westen besaßen. Greg blätterte das Bändchen durch. Im Mondlicht war nichts Besonderes zu erkennen. Schwarze Druckbuchstaben, links am Rand verziert mit ...
„Travis, schau mal, was sind das für komische Zeichen da? Auf jeder Seite.“
„Da hat jemand reingekritzelt. Tu’s weg, wir schauen es uns morgen an. Mir reicht es für heute.“

**********************

„Gregory, komm schnell, das ist ja unglaublich!“
„Kannst du was entziffern?“
„Ja, allerhand. Unser Abenteuer hat sich wahrlich gelohnt! Die Schrift am Rand auf jeder Seite ist eine Art Tagebuch. Die Mutter Mellys und unseres Vaters hat die Aufzeichnungen gemacht. Wir haben Glück, dass fast alles noch einigermaßen lesbar ist.“
Travis hielt Greg einen Stoß Blätter hin. Dieser vertiefte sich in das Geschriebene.
„Das gibt’s doch nicht! Da könnte man so manches Verbrechen Hunters im Nachhinein aufklären.“
„Hab ich’s dir nicht gesagt? Lies weiter, es wird noch besser!“

[i]Schwarze Feder will, dass es mir und den Kindern gut geht. Was sollte er mit einer Weißen bei seinem Stamm? Er meint, ich würde es nicht aushalten. In diesem Häuschen können wir unser Glück genießen. Er sorgt für uns. Ich bin so froh, dass er mich aus dem Zwang im Saloon befreit hat. Mein Geliebter! Unsere Kinder, meine Schätze!

Gestern sagte er: Es wird schlecht werden; sie töten uns; wir sind machtlos; versteck dich und die Kinder; wenn es vorbei ist, geh zur hohen Sonne, bis die Felsen grün werden. Dann suchst du den Adler; seine Jungen hüten eure Zukunft.

Hunter ist wieder hinter mir her. Wenn Schwarze Feder weg ist, kommt er. Aufdringlich, der Kerl. Er will mein Buch. Es steht alles drin und das weiß er. Er hat Angst. Da wird er zum Tier.

Es geht etwas vor. Schwarze Feder und Jem sind nicht da, Melly und das Buch müssen weg. Hunter ist grausam. Er wird kommen, ich weiß es.[/i]

„An dieser Stelle hört der Eintrag auf.“
„Und jetzt?“
„Gregory, ich sage dir: Das ist unser Erbe. Lies den drittletzten Absatz nochmals genau: 'Die Jungen des Adlers hüten eure Zukunft’. Das kann nur ein verborgener Schatz sein. Die alte Indianerin, Melly, unsere Tante, hat uns das Buch überlassen. Wir sind die Söhne ihres Bruders. Wir machen uns auf den Weg und holen, was uns zusteht.“
„Travis, mir ist nicht wohl dabei.“ Greg knetete sein Kinn. „Wir müssten zu dem Talkessel, wo heute noch die verkohlten Spuren der Hütte sind, wir müssten ...“
„Mein lieber Bruder: Du willst heiraten, ja? Du willst dir eine Existenz im Osten aufbauen, ja? Wovon?“
Gregory zögerte, dann atmete er tief durch.
„O.K., überredet. Wir holen uns das Gold. Ob es uns Glück bringen wird, sei dahingestellt.“
„Unser Großvater hieß Schwarze Feder. Es ist sein Gold. Wem sollte es Glück bringen, wenn nicht uns?“

Letzte Aktualisierung: 24.08.2008 - 20.54 Uhr
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