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August 2008
Der Buchesser
von Gary Kilian

Ich glaube, mein Blut muss erst zu Tinte werden, bevor es mir gelingt zu schreiben, so zu schreiben, wie die Schriftsteller, die wahren Schriftsteller. Solche die Bücher schreiben, die zu Klassikern werden. Bestseller genügen mir nicht. Es gibt Bestseller, die ich nicht mag. Schundliteratur. In meinen Augen.
Ich will, nein ich muss schreiben. Und ich schreibe. Noch ist es das mechanische Aufschreiben von Gedanken. Gut, manchmal sind es auch Geschichten oder Geschichtchen. Aber nichts ist so, dass es mir gefiele. Manchmal denke ich, ich sollte das, was ich schreibe, nicht lesen, wenn es fertig ist. Wenn ich denke, dass es fertig ist. Denn dann bin ich enttäuscht. Immer. Es ist nie gut. Nicht gut genug. Nein, nicht gut. Meistens erschreckend schlecht.
Nie habe ich einen Text jemandem gezeigt, um ein Urteil eines anderen zu hören. Sie würden doch nur Mitleid haben, oder über mich lachen. Natürlich würden sie den Text nicht schlecht machen. Das wäre unhöflich und verletzend. Niemand will das.
Sie würden sagen: „Das ist gut, wirklich gut“.
Unnötig!
„Die Situation kenne ich, genau so habe ich es auch empfunden. Das hast du sehr realistisch geschildert“. Wie man einem Kind sagt, dass sein in Tusche gemaltes Bild – Kreis, Punkt, Punkt, Bogen, zwei Ohren dran und ein paar Haare oben drauf – genau wie Opa aussieht. Jeder weiß, dass es Unsinn ist, aber man will das Kind schließlich nicht demotivieren, ist aber froh, wenn es daraufhin nicht das Wohnzimmer mit den vermeintlichen Porträts der Familie behängt.
Andere, die sich vielleicht schon einmal Gedanken über Texte gemacht hatten, könnten dann so etwas sagen wie: „Der Charakter ist sehr plastisch angelegt und der Spannungsbogen trägt wirklich bis zum Schluss“. Das kann jeder sagen, und jeder sagt es. Gib jemandem deinen Text und er sagt es. Oder auch: „Du solltest den Erzählrhythmus noch dichter fassen“. Und man glaubt, es handle sich um eine konstruktive Kritik. Tut es aber nicht. Was hilft das? Wo ist die Konstruktion. Es soll lediglich heißen: ‚Ich kann etwas Interessantes dazu sagen‘. Es ist nicht interessant. Es bedeutet nichts. Es ist kein Interesse darin zu erkennen. Wahrscheinlich hat sie mein Text gelangweilt. Und mich langweilen ihre Kommentare. Sie würden mich langweilen, hätte ich je etwas vom mir gezeigt.
Ich halte mich lieber an die wahren Schriftsteller. Ich versuche zu verstehen, warum sie so gut sind. Nicht einfach: das gefällt mir, das gefällt mir nicht, das ist sehr spannend oder anrührend und so weiter. Viel zu oberflächlich. Ich will die Essenz des Textes, die Macht des lyrischen Geistes verstehen, den Bodensatz, das Konzentrat aller geschriebenen Worte eines Buches.
Ich sollte meine Texte nach der Fertigstellung nicht lesen. Es führt nur dazu, sie leidlich zu finden, und sie zu überarbeiten. Dadurch werden sie manchmal besser, oftmals auch schlechter. Dann überarbeite ich sie wieder. Nächte lang, ein und denselben Text. Wenn er nicht besser wird, tue ich ihn nach soundso vielen Überarbeitungen weg. Wird er aber besser, nehmen die Überarbeitungen zu und kosten meine ganze Kraft und meine Nächte, und meine Seele scheint dabei abzunutzen. Und dann, wenn ich merke er wird nicht mehr besser, es hat keinen Zweck mehr, dann beginne ich diesen Text zu hassen und lösche ihn von meiner Festplatte, so gründlich, dass ich weiß, ihn niemals wieder hervor holen zu können.
Ich muss das, was das Schreiben ausmacht, begreifen, es in meine Texte hinein bringen.
Erst las ich nur die Bücher, und unterstrich, was wichtig war. Und las sie wieder. Aber es genügte nicht. Ich verglich die Texte. Das eine Buch, ein gutes Buch, mit dem anderen, das auch sehr, sehr gut war. Ich wusste, dass beide Bücher gut waren, und doch waren sie völlig unterschiedlich. Ich nahm ein drittes Buch dazu. Verglich es mit den anderen. Und noch eines, und noch eines. Alle ganz und gar unterschiedlich.
Und doch fand ich, nach langem Suchen Übereinstimmungen. Ich prägte sie mir ein, überprüfte sie an weiteren Büchern. Jahrelang.
Um schneller an die wichtigen Passagen der großen Schrift¬steller heran zu kommen, wann immer ich sie brauchte, riss ich die mir wichtigen Seiten aus den Büchern heraus und heftete sie an die Pinwand vor mir, vor meinen Arbeitsplatz. So konnte ich sie sehen, und wenn ich wollte, auch berühren. Von neuem unterstrich ich wichtige Zeilen, machte Zeichen, die ich mir ausdachte für Besonderheiten. So ergaben sich Muster, Zusammenhänge, und die schon erwähnten Übereinstimmungen wurden deutlich. Rote Zusammenhänge und grüne mit einem Marker angebrachte Übereinstimmungen. Ich konnte sie über mehrere Seiten unterschiedlicher Autoren, ganz und gar unterschiedlicher Epochen durch mit einem Lineal gezogene Linien verbinden und so Strukturen hervorheben. Ich benutzte immer ein Lineal, zog nie freihändig Linien.
Diese Arbeit half mir sehr. Nur die Pinwand war bald zu klein. Ich heftete mehr Seiten an die Wände daneben und bald auch darüber. Nun konnte ich während des Schreibens sehen, wie es richtig gemacht wurde. Ich sprang manchmal auf während der Arbeit, ging zu einer Seite, las, schrieb dann weiter. Ich schrieb jetzt nicht mehr so viel wie vorher, aber besser.
Gleichwohl war das, was ich schrieb, noch nicht gut. Aber es musste gut werden. Irgendwann würde ich ein Buch schreiben, davon war ich überzeugt und bin es noch. Ein gutes Buch.
Ich ging dazu über mehr und mehr der Seiten zu lernen. Das heißt, auswendig zu lernen. Den Geist der Lyrik wollte ich in mich aufnehmen. Dabei stellte ich fest, dass ich am besten auswendig lernte, wenn ich auf dem Boden saß. Ich musste mich konzentrieren und nichts sehen außer den Text in Drucker¬schwärze auf dem Papier, auf der herausgerissenen Seite eines Buches. Den Titel oder den Autor des Textes hatte ich nicht auf jeder Seite notiert. Sie waren sozusagen verloren gegangen. Sie waren nicht mehr zu rekonstruieren. Bei genauer Betrachtung war aber gerade das ein Vorteil. Die literarische Vollkommen¬heit, die diese Seiten beinhalteten, war unabhängig von den Büchern aus denen sie stammten. Ich konnte sie nun frei und unbeeinflusst von den Namen der Autoren aufnehmen.
Es waren in den Jahren meiner Studien viele Seiten geworden. Das lernen dauerte dementsprechend lange. In dieser Zeit war an schreiben nicht zu denken, kaum kam ich noch zum Essen. Ich saß da auf den Knien, das Blatt in der Hand und las laut die Sätze. Dabei gewöhnte ich mir an, zu wippen. Mit dem Oberkörper vor und zurück zu wippen. So lernte ich besser. Ich las laut oder murmelte vor mich hin. Es wäre einem unbekannten Beobachter, und wen kannte ich schon, sicher sehr eigenartig vorgekommen, wenn er mich so gesehen hätte. Es sah sicher aus wie Beten, wie Beten eines orthodoxen Juden, vielleicht. So stellte ich es mir vor. Vor und zurück wippend und brabbelnd. Sicher sehr komisch anzusehen. Aber, es sah ja keiner.
Auch kamen in dieser Zeit keine neuen Seiten zu denen an den Wänden hinzu. Die vielen, die es geworden waren, bedeckten jetzt auch die anderen Wände des Zimmers, aber nicht die Decke. Was hätte das für einen Sinn gemacht, an der Decke. Dort konnte man sie nicht lesen. Es war einerseits gut, dass keine neuen dazu kamen. Es waren von der Anzahl her genügend vorhanden. Andererseits hatte ich immer das plagende Gefühl, etwas zu verpassen, etwas Wichtiges nicht an meiner Wand zu haben. Damit konnte ich aber umgehen, musste nicht immer weiter machen, wie ein schrulliger Sammler. Ich hatte das im Griff. Schließlich war ich nicht gaga. Ich war ein ernsthaft Lernender. Meine Lernmethoden waren meinen Bedürfnissen angepasst, weit entwickelt und sehr ernsthaft. Man sollte nicht an meiner Ernsthaftigkeit zweifeln.
Ich lernte Seite für Seite auswendig. Bald konnte ich sie rezitieren. Ich brauchte nur das erste oder die beiden ersten Worte der Seite – und der Text kam aus mir heraus geflossen. Manchmal begann die Seite mitten in einem Satz oder mit dem letzten Wort eines Satzes. Das ließ sich nicht ändern. Es musste so gelernt werden, wie es dort stand. Das war wichtig, um die Muster nicht zu zerstören.
Immer intensiver lernte ich die Seiten. Beim Wiederholen des Gelernten bemerkte ich bald, dass ich das Papier auf der Haut meines nackten Unterarms rieb. Im Rhythmus der gesprochen Worte. Erst war es überraschend, doch dann machte es mehr und mehr Sinn. Ich rieb die Worte auf meine Haut.
Die Haut ist durchlässig, wie jeder weiß. Unser größtes Organ. Sie kann fast alles aufnehmen, Luft, und Sonne, Gefühle, Stoffe wie Cremes und Salben, auch Gifte gelangen über unser Haut in die Blutbahn. So tun es auch Worte. Ich weiß es. Ich lernte besser, wenn ich die Worte zusätzlich zum Lesen, Sprechen und Memorieren über die Haut aufnahm.
Durch meine Studien habe ich erfahren, dass nicht nur das gesprochene oder auch das gelesenen Wort die Information übermittelt. Der geschriebene Text enthält sein Geheimnis in sich selbst, in den Schriftzeichen, in der Tinte der Schriftzeichen und ein wenig auch in dem Zeichen tragenden Papier. Es ist also nicht ausreichend zu lesen, die Worte im Kopf kreisen zu lassen. So versteht man vielleicht den oberflächlichen Sinn aber nicht die tiefere Weisheit, das Mysterium. Es ist mehr so, und das wollen viele der so genannten Wissenschaftler nicht akzeptieren, dass man um zu verstehen, den ganzen Schriftkörper, also das Buch, oder doch wenigstens die wichtigsten Seiten, inkorporieren muss. Also physisch in sich aufnehmen.
Seit mir diese Erkenntnis zu Teil geworden ist, bin ich meinem Ziel, ein gutes Buch zu schreiben, ja, ein guter Schriftsteller zu werden, einen großen Schritt näher gekommen. Jetzt hänge ich die gelesenen und auswendig gelernten Seiten nicht mehr zurück an die Wände. Ich nehme sie ganz in mich auf. Ich esse sie.
Die Druckerschwärze wird in mir zur Tinte, die Tinte geht in mein Blut. Und mit diesem Blut werde ich mein Buch schreiben.
Bald!
Auch haben die Wände wieder Platz für neue Seiten, die ich finde und aus den Büchern reiße.

Letzte Aktualisierung: 14.08.2008 - 16.35 Uhr
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