Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Hin und wieder huschten ein paar Menschen vorbei mit Regenschirmen. Es war nicht besonders viel los. Marvin stand hinter dem Verkaufstresen und blĂ€tterte in einem Buch. Sein Chef kam zu ihm und blickte hinaus auf die StraĂe, dann meinte er:â Heute verirrt sich kaum einer zu uns. Der Regen vertreibt die Kunden.â
Marvin nickte nur stumm. Eigentlich störte es ihn nicht, dass wenig los war. So konnte er in Ruhe in seinem Buch lesen. Weil er in einem Antiquariat arbeitete, mangelte es ihm auch nie an Nachschub. Wenn ein Kunde etwas Bestimmtes suchte, war Marvin ein regelrechter Experte. Der Laden war dafĂŒr bekannt, dass man dort fast jedes Buch bekam. Leider suchten nur wenige Leute das Besondere. Meist bestand die Kundschaft aus Studenten, die wenig Geld besassen. Sie kauften gebrauchte LehrbĂŒcher. Nur selten war jemand hinter einem richtig alten Buch her.
Dabei brachten gerade diese BĂŒcher am meisten Provision. So hielt sich der Laden gerade so ĂŒber Wasser. Marvin und Herr Hubertus waren meist alleine.
âIch habe das Buch fĂŒr Frau Clausen gefundenâ, murmelte Marvin und reichte es weiter.
âSehr schön. Das wird sie freuen. Ein weiteres Kochbuch fĂŒr ihre Sammlungâ, bemerkte Herr Hubertus. Dann stellte er es in das Regal fĂŒr bestellte BĂŒcher und wischte etwas Staub ab.
DrauĂen regnete es indessen weiter. Autos fuhren durch die kleine StraĂe und Spritzwasser flog durch die Luft. Es war wirklich kein Tag, um im Freien herumzulaufen. Marvin war recht dankbar, dass er im warmen Laden stand. Er lutschte sein Bonbon und las.
Gegen Abend verabschiedete sich Herr Hubertus von Marvin. Der Chef musste etwas frĂŒher nach Hause, weil er Karten fĂŒr die Oper hatte.
Marvin war öfters alleine im Antiquariat und schloss spĂ€ter die TĂŒr ab. Herr Hubertus vertraute ihm völlig. Sie hatten ein eher freundschaftliches VerhĂ€ltnis mittlerweile.
Auch an diesem Abend bereitete Marvin alles vor, um pĂŒnktlich Feierabend machen zu können. Doch kurz vor Ladenschluss kam noch Kundschaft. Das kleine Glöckchen an der TĂŒr bimmelte. Marvin kam herbeigeeilt, um zu sehen, wer den Laden betreten hatte. Es war eine Ă€ltere Dame in einem beigen KostĂŒm und mit einem Stock.
âWas kann ich fĂŒr Sie tun?â fragte er höflich und trat einen Schritt an sie heran.
Die Frau blickte zu ihm auf, weil sie etwas kleiner war und gebĂŒckt ging. Sie lĂ€chelte. Marvin roch ein sĂŒĂliches ParfĂŒm, das ihn stark an seine eigene GroĂmutter erinnerte.
SchlieĂlich antwortete sie:
âIch bin auf der Suche nach einem ganz bestimmten Buch. Es ist circa 80 Jahre alt und einmalig. FĂŒr die meisten Menschen wird es nicht besonders viel Wert haben. Es ist nur fĂŒr mich sehr wertvoll. Ich suche schon seit 60 Jahren danach und konnte endlich den Autor herausfinden. Hier, ich habe Ihnen den Namen aufgeschriebenâ, erklĂ€rte sie und reichte Marvin einen kleinen Zettel. Marvin las den Namen und meinte:
âDen Autor kenne ich nicht, aber ich sehe gleich einmal nach, ob wir ihn hier haben.â
Dann verschwand er mit dem Zettel in ein Hinterzimmer, wo der Computer stand. Er setzte sich auf den BĂŒrostuhl, der mal wieder verstellt war. Er schaltete den Monitor an und drĂŒckte die Enter-Taste, um den PC wieder zu aktivieren. Sofort erschien die Suchmaske auf dem Bildschirm vor ihm. Er tippte den Namen des Autors ein und drĂŒckte wieder Enter. Nun brauchte er nur abzuwarten. Doch er hatte wenig GlĂŒck. Sie hatten das Buch nicht da. Er schaltete den PC aus und ging zurĂŒck in den Verkaufsraum, wo die alte Dame wartete. Diese schaute ihn gespannt an.
âEs tut mir leid, aber wir haben das Buch nicht hier. Wenn Sie wollen, kann ich aber fĂŒr Sie danach suchen. Ich bin recht gut im Auffinden seltener BĂŒcherâ, sagte Marvin mit einer Portion Stolz und wartete.
âDas wĂ€re nett. Wie ich bereits sagte, suche ich das Buch schon seit sechs Jahrzehnten. Ich werde bald meinen 80. Geburtstag feiern und brauche es sehr dringend. Bitte lassen Sie nichts unversuchtâ, bat die Frau mit flehenden Blick.
Marvin versicherte ihr, dass er alles Mögliche tun werde, um das Buch doch noch aufzutreiben. Sie dankte ihm herzlich und verlieĂ das Antiquariat wieder. Der Geruch ihres ParfĂŒms blieb.
Marvin schloss das GeschĂ€ft ab und ging nach Hause. Doch die alte Frau ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatte ihm ihre Telefonnummer gegeben. Zu Hause vor dem Computer suchte Marvin im Internet weiter nach dem merkwĂŒrdigen Buch, das es scheinbar gar nicht gab. Weder der Name noch der Titel war bekannt. SchlieĂlich verbrachte er Tage mit der Suche. Er surfte im Netz und klapperte AuktionshĂ€user ab. Auch seine Kontakte konnten ihm nicht weiterhelfen. Marvin telefonierte herum, um eine Spur zu finden. Er fĂŒhlte sich dabei jedes Mal wie ein Detektiv. Forschte in Archiven und befragte Leute. Dann kam nach fast vier Wochen ein Anruf. Einer seiner Kontakte hatte eine heiĂe Spur entdeckt. Im Nachlas eines Mannes aus Frankfurt hatte man ein seltsames Buch gefunden, das auf Marvins Beschreibung passte. Sein Kontakt nannte ihm die Telefonnummer. Die Landesbibliothek hatte es anscheinend.
âJa, das Buch war unter den BestĂ€nden. Wir haben es mit den BildbĂ€nden zusammen erworben. Doch niemand hier konnte so recht etwas damit anfangen. SchlieĂlich ist der Autor völlig unbekannt. So kam es in den Verkauf. Ich habe aber die Adresse von dem KĂ€ufer gefunden, der das Buch nach uns erwarbâ, erklĂ€rte Frau Roth und reichte ihm einen Zettel mit der Adresse.
âVielen, vielen Dank. Wenn ich das Buch finde, machen Sie eine alte Dame sehr glĂŒcklichâ, versicherte Marvin ihr und verlieĂ die Bibliothek wieder nicht ohne einen Rundgang zu machen. Er liebte diese AtmosphĂ€re und den Geruch von alten BĂŒchern.
Erst am nÀchsten Tag konnte er den Herrn, der zu der Adresse passte, aufsuchen.
âHerr Kovak? Wir hatten telefoniertâ, meinte Marvin, als ein Mann mittleren Alters die TĂŒr öffnete.
âJa richtig, der Herr vom Antiquariat. Kommen Sie herein!â forderte Herr Kovak Marvin freundlich auf. Marvin betrat eine kleine Wohnung, die jedoch vollgestopft war mit BĂŒchern.
Jeder Quadratmeter war ausgenutzt. Ein BĂŒcherfreund also.
âHaben Sie das gesuchte Buch noch?â wollte Marvin wissen.
âAber sicher doch. Ich werfe fast nie etwas fort. Ich bin ein Sammler. Es liegt schon fĂŒr sie bereitâ, sagte Kovak und ging zum Esstisch. Dort lag ein unscheinbares, kleines Buch mit einem vergriffenen Einband. Kovak hob es auf und reichte es Marvin.
Der befĂŒhlte es vorsichtig und las den Titel laut und andĂ€chtig vor:âJennifers Reise.â
Das war das richtige Buch und er hatte es endlich gefunden. Die alte Dame wĂŒrde sich freuen und hoffentlich auch viel Geld dafĂŒr bezahlen. Aber erst einmal musste er sich mit Kovak einigen. Dieser meinte, dass das Buch nicht wertvoll sei, deswegen wollte er es Marvin schenken. Damit hatte Marvin nicht gerechnet. Er bedankte sich vielmals bei ihm und verlieĂ die Wohnung wieder. Mit dem Buch in der Tasche stieg er in die StraĂenbahn und setzte sich auf einen Platz am Fenster. DrauĂen zogen StraĂen vorbei und Menschen gingen ihrer Wege. Marvin betrachtete die Welt eine Weile und holte dann doch das Buch aus seiner Tasche. Er war neugierig geworden. Vorsichtig schlug er es auf. Es war kein Verlag genannt. Die ersten Seiten waren komplett leer. Dann folgte der Titel und der Autor wurde genannt. Auf der nĂ€chsten Seite begann gleich die Geschichte. Scheinbar handelte es sich um eine Biographie. Das Leben einer Frau wurde beschrieben. Von der genauen Beschreibung ihrer Geburt, der Kindheit und Jugend bis hin zum hohen Alter. Marvin konnte sich nicht vorstellen, warum die alte Dame das Buch so dringend brauchte und bereits seit 60 Jahren danach gesucht hatte.
ZurĂŒck im Antiquariat rief er sie an und teilte ihr die freudige Botschaft mit. Sie freute sich sehr und wollte gleich vorbeikommen, um es abzuholen. Einige Minuten spĂ€ter betrat sie auch schon das GeschĂ€ft. Marvin strahlte sie an und reichte ihr feierlich das Buch.
Ihre Finger zitterten, als sie das Buch in den HÀnden hielt. So lange hatte sie danach gesucht und nicht mehr daran geglaubt, es je zu finden. Jetzt konnte sie die Geschichte Àndern. Sie hÀtte die Welt umarmen können.
âWas verlangen Sie dafĂŒr?â fragte sie Marvin.
âAch, mir wurde es geschenkt und ich verschenke es gerne weiterâ, sagte der etwas verlegen.
âNein, nein, ich möchte Ihnen etwas geben, denn Sie retten damit mein Leben. Hier, ich habe Ihnen einen Scheck ausgeschrieben. Es wird reichen, um Ihre WĂŒnsche zu erfĂŒllen. Ich hĂ€tte gerne mehr gegeben, aber ich brauche mein restliches Geld jetzt noch etwas lĂ€nger.â
Sie ĂŒberreichte ihm einen Scheck, den Marvin ohne ihn sich anzusehen festhielt. Bevor die alte Frau, das Antiquariat wieder verlieĂ fragte Marvin sie noch:âWarum endet das Buch kurz vor dem 80. Geburtstag der Frau? Was ist danach passiert?â
Sie erwiderte lachend:âWeil das Ende zum GlĂŒck noch nicht geschrieben ist. Bei jedem von uns bleiben die letzten Seite leer, weil man nie weiĂ, was die Zukunft einem bringt. Doch jetzt mit dem Buch kann ich das Ă€ndern.â
Die alte Dame war gegangen, da betrachtete Marvin das StĂŒck Papier in seinen HĂ€nden und hĂ€tte fast den Halt verloren, als er die Ziffern sah. Sechs Millionen Euro. Das war unglaublich. Dann betrachtete er die Unterschrift.
âJennifer Sommerâ
War das nicht der Name der Frau im Buch? Seltsam, dachte er noch. Er konnte sein GlĂŒck kaum fassen und feierte drei Tage lang durch. Weil er die Arbeit im Antiquariat so sehr mochte, blieb er dabei und unterstĂŒtzte Herrn Hubertus finanziell.
Fast ein Jahr spĂ€ter betrat eine junge Frau den Laden und sah sich kurz um. Sie lĂ€chelte Marvin freundlich an. Er hatte das unbestimmte GefĂŒhl, dass er die Frau kannte. Ihre Augen schienen ihm so vertraut zu sein. Sie kam ganz nah an ihn heran und flĂŒsterte ihm zu: âVielen Dank fĂŒr mein zweites Leben!â
Marvin wollte gerade fragen, was los war, da war sie schon verschwunden. Doch sie hatte ihm etwas auf den Tresen gelegt. Es war ein Zettel mit einem Buchtitel und dem Namen des Autors. Der Titel des Buches lautete:âMarvin und die BĂŒcherâ.
Letzte Aktualisierung: 23.08.2008 - 15.15 Uhr Dieser Text enthält 10200 Zeichen.