Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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August 2008
Jennifers Reise
von Anissa Heinrichs

Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Hin und wieder huschten ein paar Menschen vorbei mit Regenschirmen. Es war nicht besonders viel los. Marvin stand hinter dem Verkaufstresen und blätterte in einem Buch. Sein Chef kam zu ihm und blickte hinaus auf die Straße, dann meinte er:” Heute verirrt sich kaum einer zu uns. Der Regen vertreibt die Kunden.”
Marvin nickte nur stumm. Eigentlich störte es ihn nicht, dass wenig los war. So konnte er in Ruhe in seinem Buch lesen. Weil er in einem Antiquariat arbeitete, mangelte es ihm auch nie an Nachschub. Wenn ein Kunde etwas Bestimmtes suchte, war Marvin ein regelrechter Experte. Der Laden war dafür bekannt, dass man dort fast jedes Buch bekam. Leider suchten nur wenige Leute das Besondere. Meist bestand die Kundschaft aus Studenten, die wenig Geld besassen. Sie kauften gebrauchte Lehrbücher. Nur selten war jemand hinter einem richtig alten Buch her.
Dabei brachten gerade diese Bücher am meisten Provision. So hielt sich der Laden gerade so über Wasser. Marvin und Herr Hubertus waren meist alleine.
“Ich habe das Buch für Frau Clausen gefunden”, murmelte Marvin und reichte es weiter.
“Sehr schön. Das wird sie freuen. Ein weiteres Kochbuch für ihre Sammlung”, bemerkte Herr Hubertus. Dann stellte er es in das Regal für bestellte Bücher und wischte etwas Staub ab.
Draußen regnete es indessen weiter. Autos fuhren durch die kleine Straße und Spritzwasser flog durch die Luft. Es war wirklich kein Tag, um im Freien herumzulaufen. Marvin war recht dankbar, dass er im warmen Laden stand. Er lutschte sein Bonbon und las.
Gegen Abend verabschiedete sich Herr Hubertus von Marvin. Der Chef musste etwas früher nach Hause, weil er Karten für die Oper hatte.
Marvin war öfters alleine im Antiquariat und schloss später die Tür ab. Herr Hubertus vertraute ihm völlig. Sie hatten ein eher freundschaftliches Verhältnis mittlerweile.
Auch an diesem Abend bereitete Marvin alles vor, um pünktlich Feierabend machen zu können. Doch kurz vor Ladenschluss kam noch Kundschaft. Das kleine Glöckchen an der Tür bimmelte. Marvin kam herbeigeeilt, um zu sehen, wer den Laden betreten hatte. Es war eine ältere Dame in einem beigen Kostüm und mit einem Stock.
“Was kann ich für Sie tun?” fragte er höflich und trat einen Schritt an sie heran.
Die Frau blickte zu ihm auf, weil sie etwas kleiner war und gebückt ging. Sie lächelte. Marvin roch ein süßliches Parfüm, das ihn stark an seine eigene Großmutter erinnerte.
Schließlich antwortete sie:
“Ich bin auf der Suche nach einem ganz bestimmten Buch. Es ist circa 80 Jahre alt und einmalig. Für die meisten Menschen wird es nicht besonders viel Wert haben. Es ist nur für mich sehr wertvoll. Ich suche schon seit 60 Jahren danach und konnte endlich den Autor herausfinden. Hier, ich habe Ihnen den Namen aufgeschrieben”, erklärte sie und reichte Marvin einen kleinen Zettel. Marvin las den Namen und meinte:
“Den Autor kenne ich nicht, aber ich sehe gleich einmal nach, ob wir ihn hier haben.”
Dann verschwand er mit dem Zettel in ein Hinterzimmer, wo der Computer stand. Er setzte sich auf den Bürostuhl, der mal wieder verstellt war. Er schaltete den Monitor an und drückte die Enter-Taste, um den PC wieder zu aktivieren. Sofort erschien die Suchmaske auf dem Bildschirm vor ihm. Er tippte den Namen des Autors ein und drückte wieder Enter. Nun brauchte er nur abzuwarten. Doch er hatte wenig Glück. Sie hatten das Buch nicht da. Er schaltete den PC aus und ging zurück in den Verkaufsraum, wo die alte Dame wartete. Diese schaute ihn gespannt an.
“Es tut mir leid, aber wir haben das Buch nicht hier. Wenn Sie wollen, kann ich aber für Sie danach suchen. Ich bin recht gut im Auffinden seltener Bücher”, sagte Marvin mit einer Portion Stolz und wartete.
“Das wäre nett. Wie ich bereits sagte, suche ich das Buch schon seit sechs Jahrzehnten. Ich werde bald meinen 80. Geburtstag feiern und brauche es sehr dringend. Bitte lassen Sie nichts unversucht”, bat die Frau mit flehenden Blick.
Marvin versicherte ihr, dass er alles Mögliche tun werde, um das Buch doch noch aufzutreiben. Sie dankte ihm herzlich und verließ das Antiquariat wieder. Der Geruch ihres Parfüms blieb.
Marvin schloss das Geschäft ab und ging nach Hause. Doch die alte Frau ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatte ihm ihre Telefonnummer gegeben. Zu Hause vor dem Computer suchte Marvin im Internet weiter nach dem merkwürdigen Buch, das es scheinbar gar nicht gab. Weder der Name noch der Titel war bekannt. Schließlich verbrachte er Tage mit der Suche. Er surfte im Netz und klapperte Auktionshäuser ab. Auch seine Kontakte konnten ihm nicht weiterhelfen. Marvin telefonierte herum, um eine Spur zu finden. Er fühlte sich dabei jedes Mal wie ein Detektiv. Forschte in Archiven und befragte Leute. Dann kam nach fast vier Wochen ein Anruf. Einer seiner Kontakte hatte eine heiße Spur entdeckt. Im Nachlas eines Mannes aus Frankfurt hatte man ein seltsames Buch gefunden, das auf Marvins Beschreibung passte. Sein Kontakt nannte ihm die Telefonnummer. Die Landesbibliothek hatte es anscheinend.
“Ja, das Buch war unter den Beständen. Wir haben es mit den Bildbänden zusammen erworben. Doch niemand hier konnte so recht etwas damit anfangen. Schließlich ist der Autor völlig unbekannt. So kam es in den Verkauf. Ich habe aber die Adresse von dem Käufer gefunden, der das Buch nach uns erwarb”, erklärte Frau Roth und reichte ihm einen Zettel mit der Adresse.
“Vielen, vielen Dank. Wenn ich das Buch finde, machen Sie eine alte Dame sehr glücklich”, versicherte Marvin ihr und verließ die Bibliothek wieder nicht ohne einen Rundgang zu machen. Er liebte diese Atmosphäre und den Geruch von alten Büchern.
Erst am nächsten Tag konnte er den Herrn, der zu der Adresse passte, aufsuchen.
“Herr Kovak? Wir hatten telefoniert”, meinte Marvin, als ein Mann mittleren Alters die Tür öffnete.
“Ja richtig, der Herr vom Antiquariat. Kommen Sie herein!” forderte Herr Kovak Marvin freundlich auf. Marvin betrat eine kleine Wohnung, die jedoch vollgestopft war mit Büchern.
Jeder Quadratmeter war ausgenutzt. Ein Bücherfreund also.
“Haben Sie das gesuchte Buch noch?” wollte Marvin wissen.
“Aber sicher doch. Ich werfe fast nie etwas fort. Ich bin ein Sammler. Es liegt schon für sie bereit”, sagte Kovak und ging zum Esstisch. Dort lag ein unscheinbares, kleines Buch mit einem vergriffenen Einband. Kovak hob es auf und reichte es Marvin.
Der befühlte es vorsichtig und las den Titel laut und andächtig vor:”Jennifers Reise.”
Das war das richtige Buch und er hatte es endlich gefunden. Die alte Dame würde sich freuen und hoffentlich auch viel Geld dafür bezahlen. Aber erst einmal musste er sich mit Kovak einigen. Dieser meinte, dass das Buch nicht wertvoll sei, deswegen wollte er es Marvin schenken. Damit hatte Marvin nicht gerechnet. Er bedankte sich vielmals bei ihm und verließ die Wohnung wieder. Mit dem Buch in der Tasche stieg er in die Straßenbahn und setzte sich auf einen Platz am Fenster. Draußen zogen Straßen vorbei und Menschen gingen ihrer Wege. Marvin betrachtete die Welt eine Weile und holte dann doch das Buch aus seiner Tasche. Er war neugierig geworden. Vorsichtig schlug er es auf. Es war kein Verlag genannt. Die ersten Seiten waren komplett leer. Dann folgte der Titel und der Autor wurde genannt. Auf der nächsten Seite begann gleich die Geschichte. Scheinbar handelte es sich um eine Biographie. Das Leben einer Frau wurde beschrieben. Von der genauen Beschreibung ihrer Geburt, der Kindheit und Jugend bis hin zum hohen Alter. Marvin konnte sich nicht vorstellen, warum die alte Dame das Buch so dringend brauchte und bereits seit 60 Jahren danach gesucht hatte.
Zurück im Antiquariat rief er sie an und teilte ihr die freudige Botschaft mit. Sie freute sich sehr und wollte gleich vorbeikommen, um es abzuholen. Einige Minuten später betrat sie auch schon das Geschäft. Marvin strahlte sie an und reichte ihr feierlich das Buch.
Ihre Finger zitterten, als sie das Buch in den Händen hielt. So lange hatte sie danach gesucht und nicht mehr daran geglaubt, es je zu finden. Jetzt konnte sie die Geschichte ändern. Sie hätte die Welt umarmen können.
“Was verlangen Sie dafür?” fragte sie Marvin.
“Ach, mir wurde es geschenkt und ich verschenke es gerne weiter”, sagte der etwas verlegen.
“Nein, nein, ich möchte Ihnen etwas geben, denn Sie retten damit mein Leben. Hier, ich habe Ihnen einen Scheck ausgeschrieben. Es wird reichen, um Ihre Wünsche zu erfüllen. Ich hätte gerne mehr gegeben, aber ich brauche mein restliches Geld jetzt noch etwas länger.”
Sie überreichte ihm einen Scheck, den Marvin ohne ihn sich anzusehen festhielt. Bevor die alte Frau, das Antiquariat wieder verließ fragte Marvin sie noch:“Warum endet das Buch kurz vor dem 80. Geburtstag der Frau? Was ist danach passiert?”
Sie erwiderte lachend:”Weil das Ende zum Glück noch nicht geschrieben ist. Bei jedem von uns bleiben die letzten Seite leer, weil man nie weiß, was die Zukunft einem bringt. Doch jetzt mit dem Buch kann ich das ändern.”
Die alte Dame war gegangen, da betrachtete Marvin das Stück Papier in seinen Händen und hätte fast den Halt verloren, als er die Ziffern sah. Sechs Millionen Euro. Das war unglaublich. Dann betrachtete er die Unterschrift.
“Jennifer Sommer”
War das nicht der Name der Frau im Buch? Seltsam, dachte er noch. Er konnte sein Glück kaum fassen und feierte drei Tage lang durch. Weil er die Arbeit im Antiquariat so sehr mochte, blieb er dabei und unterstützte Herrn Hubertus finanziell.
Fast ein Jahr später betrat eine junge Frau den Laden und sah sich kurz um. Sie lächelte Marvin freundlich an. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass er die Frau kannte. Ihre Augen schienen ihm so vertraut zu sein. Sie kam ganz nah an ihn heran und flüsterte ihm zu: “Vielen Dank für mein zweites Leben!”
Marvin wollte gerade fragen, was los war, da war sie schon verschwunden. Doch sie hatte ihm etwas auf den Tresen gelegt. Es war ein Zettel mit einem Buchtitel und dem Namen des Autors. Der Titel des Buches lautete:”Marvin und die Bücher”.

Letzte Aktualisierung: 23.08.2008 - 15.15 Uhr
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