Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Ziellos schlenderte Lana durch die verwinkelten Gassen ihrer neuen Heimat. In ihrer Nähe schien alles zu verblassen. Die Geranien in den Fenstern knipsten ihre rote Farbe aus, Blätter wurden stumpf; die Sonne trug einen Trauerschleier. Vorbei eilende Menschen sahen durch sie hindurch, als wäre sie nicht Teil dieser Welt. Seit Peters Tod schien sie sich in einer dunklen Wolke zu bewegen. Die Tränen niederkämpfend, blieb sie stehen und schnäuzte sich. Dabei fiel ihr Blick auf ein Schaufenster. Das Sammelsurium im Laden erweckte einen Funken von Neugierde und sie trat ein. Der halbdunkle Raum quoll über von alten Büchern, Möbeln, Spielzeug, Küchenutensilien, Geschirr. Lana ließ ihren Blick schweifen, bis er an einem leuchtenden Blau hängen blieb. Ein einzelner Sonnenstrahl kroch durch das staubigtrübe Schaufenster und traf etwas Glänzendes. Lana bahnte sich einen Weg durch die Landschaft abgelegter Gegenstände, zu einer blauen Glaskugel, die auf einem Blumenhocker thronte, und nahm sie vorsichtig hoch. Die Oberfläche fühlte sich kühl und glatt an. Sie sah hinein. Bewegte sich da nicht etwas? Nein, im dunklen Blau verbargen sich helle Schlieren, wie Schönwetterwölkchen am Sommerhimmel.
Lana schloss die Tür hinter sich, ließ die Jacke fallen und trug den Rucksack ins Wohnzimmer. Vorsichtig packte sie die Kugel aus und legte sie auf den Schreibtisch. Das Blau leuchtete heller als im Laden, oder lag das an den Lichtverhältnissen? Egal, als Blickfang machte sich der Glasball gut. Mit einem Buch und einem Sandwich vergrub sie sich in ihren Lesesessel.
Sie las eine Seite, ohne zu verstehen, was sie gelesen hatte, und begann von vorne. Ein blauer Schimmer auf dem Papier ließ sie aufblicken. Die Kugel leuchtete! Lana näherte sich zögernd dem Schreibtisch. Mit angehaltenem Atem sah sie auf die Schlieren. Sie bewegten sich, eindeutig. Vor Lanas staunenden Augen wurden sie zu Figuren. Scharf zog sie die Luft ein. Das sah aus wie ... Peter! Auf seiner letzten Dienstreise, von der er nicht zurückgekehrt war. Der kleine blaue Peter in der Kugel setzte sich hinter das Steuer seines Sportwagens. Eine Frau im Minikleid, mit hochhackigen Schuhen, stieg hinzu. Eine Kundin? Lana runzelte die Stirn. Wer war das? Das Bild flackerte, änderte sich wie ein holpriger Filmschnitt. Der Wagen brauste jetzt über die Landstraße. Die Frau saß nicht mehr neben Peter. Wo war sie? Lana beugte sich näher über die Kugel, das Bild zoomte, als würde sie die Kameraführung beeinflussen, in das Wageninnere. O Gott, die Frau hatte den Kopf in Peters Schoß! Lana wurde übel, sie musste sich am Schreibtisch festhalten. Der Wagen streifte etwas Großes, Dunkles, überschlug sich, und blieb als Wrack liegen. Die Frau wurde in hohem Bogen hinausgeschleudert. Dass eine zweite Person in den Umfall verwickelt war, hatte die Polizei ihr verschwiegen. Hatten Peters Kollegen das eingefädelt? Er hatte eine andere, er hatte eine andere, er hat mich betrogen, das Schwein ..., unablässig hallten diese Worte durch ihren Kopf. Ohne nachzudenken, warf Lana mit einem angewiderten Aufschrei die Kugel auf den Boden. Sie zersprang in Tausende blaue Scherben. Schluchzend fegte Lana die Reste zusammen und warf sie in den Mülleimer.
In dieser Nacht schlief sie kaum, träumte immer wieder von Peter und der Fremden.
Lana erwachte davon, dass blaues Licht auf ihre Augen fiel und schreckte hoch. Die Kugel lag unversehrt auf ihrem Nachttisch! Sie stieß einen spitzen Schrei aus und warf ihr Kissen darüber. Das Leuchten drang hindurch, als wäre es nur ein dünnes Stück Stoff.
Mit fahrigen Bewegungen streifte sie Jeans und T-Shirt über, wickelte die Kugel in einen schwarzen Pullover und stopfte sie in den Rucksack. Sie musste dieses widerliche Ding zurückbringen, keinen Tag länger würde sie dieses Spiel ertragen.
Kurze Zeit später stand sie in der Straße, in der sie gestern den Laden gefunden hatte. Er war nicht mehr da! Das gibt es doch nicht, schoss ihr durch den Kopf. Hatte sie sich vertan? Sie sah sich um. Nein, vorne die Litfasssäule vor der Bäckerei, daran konnte sie sich vage erinnern. Mit immer schnelleren Schritten hetzte sie durch die Straßen, kreuz und quer, bis sie sicher war, die ganze Stadt durchkämmt zu haben. Vergeblich. Resigniert schloss sie am Abend ihre Wohnung auf. Sie würde den Rucksack im Schrank deponieren, dann musste sie wenigstens das Leuchten nicht mehr sehen.
Ohne, dass sie es beeinflussen konnte, packten ihre Hände stattdessen die Kugel aus und legten sie wieder auf den Schreibtisch. Als Lana merkte, dass sie wie in Trance darauf starrte, wieder und wieder die fremde Frau und den Unfall mit ansehen musste, floh sie mit einem Aufschrei in die Küche. Was sollte sie nur tun?
Wenig später stand sie erneut vor dem Schreibtisch. Sie hatte keinerlei Erinnerung daran, hierher gegangen zu sein. Gebannt starrte sie auf die Schlieren. Zwei Figuren wurden sichtbar. Peter und die Frau. In einem Hotelzimmer. Die Frau kniete auf dem Bett und Peter ... Lana unterdrückte ein Würgen, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und sank in sich zusammen.
Nach einiger Zeit stand sie auf und holte ein vorfrankiertes Postpäckchen aus dem Schrank. Sie bettete die Kugel, mit Zeitungspapier umwickelt, hinein. Aus dem Internet suchte sie eine Adresse in Alaska als Adressat, als Absender eine in Russland. Bevor sie zu Bett ging, musste die Kugel aus dem Haus sein, sie würde keine weitere Nacht mit dem Ding unter einem Dach verbringen. In der nächsten Stadt gab es einen Päckchenbriefkasten. Nachdem sie den Karton dort eingeworfen hatte, fühlte sie sich befreit. Sie schlief traumlos in dieser Nacht und erwachte erfrischt am nächsten Morgen.
Drei Tage später stand sie vor dem Gebäude ihrer neuen Firma und holte tief Luft. Erster Arbeitstag. Neuer Job, neue Wohnung, neues Glück? Sie musste endlich nach vorne sehen, auf die Füße kommen. Peter war es nicht wert, dass sie weiter trauerte. Die vergangenen vier Jahre konnte sie nur abhaken wie einen bösen Traum, zusammen mit der Kugel und ihren schrecklichen Bildern. Sie war jung, das Leben hatte doch gerade erst angefangen.
Herr Schwarz, ihr Abteilungsleiter, holte sie am Empfang ab.
„Guten Tag, Frau Ebert. Willkommen bei Heinbach Getriebe. Ich bringe Sie an Ihren Platz.“
Er führte sie in den zweiten Stock und klopfte an einer Tür mit der Aufschrift ‚Sekretariat’.
„Frau Blumenreich, hier ist Ihre neue Kollegin. Darf ich sie Ihnen anvertrauen, ich muss in eine Besprechung. Frau Ebert, ich wünsche Ihnen einen guten Start bei uns.“
„Vielen Dank, Herr Schwarz.“
Lächelnd kam Frau Blumenreich auf Lana zu.
„Dem schließe ich mich an. Hier beim Fenster ist Ihr Schreibtisch. Ah, jemand hat Ihnen bereits eine Firmentasse hingestellt. Nehmen Sie Platz, ich koche uns einen Kaffee. Nein, die Kaffeeküche zeige ich Ihnen später, richten Sie sich erst einmal in aller Ruhe ein.“
Lana stellte ihre Handtasche ab, setzte sich auf ihren Bürostuhl und griff zur Schachtel, auf der ein Kaffeebecher abgebildet war. ‚Heinbach Getriebe’ stand in gelben Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Warum war sie so schwer?
Frau Blumenreich ließ die Kaffeekanne fallen, als sie die gellenden Schreie hörte, und rannte los. Außer Atem erreichte sie das Büro und blieb abrupt stehen. Die neue Kollegin kniete am Boden, eine aufgerissene Pappschachtel in der Hand.
Blaues Licht quoll daraus hervor wie ein lebendiges Wesen und strahlte ihr zu einer Fratze verzerrtes Gesicht an.
Letzte Aktualisierung: 26.09.2008 - 11.30 Uhr Dieser Text enth�lt 8365 Zeichen.