Burgturm im Nebel
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"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Thema: Affäre | September 2008
Schwarzer Wein
von Claudia Göpel

„Du musst sie ganz vorsichtig zupfen, damit die Haut am Stiel nicht einreißt, sonst bluten sie aus,“ erklärte meine Großmutter, knipste eine große Beere mit Daumen und Zeigefinger ab, hielt sie vor meine Nase, steckte sie mir schließlich in den Mund und lachte.
Ihre Augen blitzen in einem Fächer aus Fältchen. Sie saß auf dem Schemel neben mir. Ihr Eimer war halb voll, bei meinem war nicht mal der Boden bedeckt. Ich pflückte lieber die roten. Diese hingen in dicken Trauben und waren viel leichter zu ernten. Unser Garten stand voll mit Johannisbeersträuchern. Zum Ende des Sommers roch man den würzigen Duft schon vom Tor aus. Großmutter war berühmt für ihr Gelee und den Johannisbeersaft. Die Erzeugnisse aus den roten Beeren verschenkte sie zu Weihnachten. Der schwarze Saft schmeckte leicht bitter und war nur der Familie vorbehalten.
„Alle zwei Tage ein Glas und du wirst nie krank.“
Ich mochte ihn nicht, aber das Gelee war eine Wucht. Jeden Sonntagmorgen bestrich Großvater dicke Brotscheiben mit Quark und ließ feierlich einen großen Klecks schwarzes Gelee vom Löffel obendrauf fallen.
„Das beste Essen wo gibt“, sagte er mit Verschwörerstimme zu mir und Großmutter strahlte.
Alle paar Jahre fiel die Ernte so riesig aus, dass sie den Überschuss zu Wein kelterte. Dafür benutze sie bauchige Glasbehälter im Keller und machte ein großes Geheimnis daraus. Säuberlich etikettiert lagen die abgefüllten Flaschen im Regal neben den Einweckgläsern mit dem Gelee.
„Wenn du alt genug bist, mein Kind, erkläre ich dir, wie es geht. Dieser Wein ist etwas ganz besonderes.“

„Träumst du, Mädchen?“
Schwach kam Großmutters Stimme aus dem Kissen. Sie wirkte verloren in dem weißen Bett, ihre Hände strichen zitternd die Decke glatt.
„Wie geht es dir Oma, hast du Schmerzen?“ Ich rutschte mit dem Besucherstuhl ganz nah heran und hauchte einen Kuss auf ihre zerknitterte Wange.
„Aber nein, sie kümmern sich großartig um mich und bald bin ich bei deinem Großvater. Er wartet schon.“ Ihre Augen fixierten einen Punkt in der Ecke, sie begann leise vor sich hin zu murmeln.
Ich unterdrückte die Tränen und streichelte über ihren Arm.
„Hast du auch den Wein nicht vergessen?“ fragte sie plötzlich.
“Jeden Tag ein Gläschen, du weißt doch.“
„Ja, natürlich“, antwortete ich und musste plötzlich schmunzeln. Ich brachte ihr täglich eine Flasche aus dem Keller, der Vorrat ging langsam zur Neige.
„Und du weißt auch noch, wie man ihn abfüllen muss? Es ist bald soweit, mache alles genau so wie ich es dir erklärt habe. Zeige es auch Deine Tochter, sie ist alt genug.“
„Ja, Oma.“

Ich befüllte eine leere Flasche mit der dunklen Flüssigkeit aus dem brodelnden Glaskolben, verkorkte und beschriftete sie mit „November 1993“.
„Du darfst jeden Monat nur eine Flasche abfüllen, hörst du?“
Warum, das hatte mir Großmutter nicht erklärt, aber ich würde mich an ihre Vorgaben halten. Ich hielt die Flasche gegen den schmalen Lichtstrahl, der durch das Kellerfenster schien. Samtschwarz und ölig, mit einem Schimmer burgunderrot.
Mein erster selbst gekelterter Wein!
Ich nahm die letzte alte Flasche aus dem Regal. „1985“ stand darauf, das Jahr in dem Großvater starb.

Großmutter bemerkte mich nicht, als ich das Zimmer betrat. Sie flüsterte, hielt inne, lächelte und begann von neuem.
Ich öffnete die Flasche und schenkte ein Glas ein, halb voll nur, damit nichts daneben ging.
„Mit wem redest du?“
„Oh, da bist du ja, meine Kleine.“ Sie griff nach dem Glas und trank in winzigen Schlucken. Ein Rinnsal lief den Mundwinkel hinab. Ich tupfte es mit einem Tuch ab.
„Mit wem ich gesprochen habe? Mit deinem Großvater. Sieh nur, er winkt uns zu.“
Ich schaute in die leere Zimmerecke und hob die Hand zum Gruß.
„Du glaubst mir nicht? Ach, Kindchen. Hast du denn schon den neuen Wein gekeltert, das hier ist die letzte Flasche, hab ich Recht?“
„Ja, Oma.“
„Schenk mir noch mal ein.“
„Jeden Tag ein...“
„Ach, papperlapapp.“
Ihre Augen blitzten, sie hob das Glas und prostete dem hinteren Teil des Zimmers zu.

Das war fünfzehn Jahre her. Das Weinkeltern hatte ich seitdem bis zur Perfektion ausgeübt. Leider konnte ich diese Tradition nicht weitergeben; meine Tochter hatte kein Interesse und Kinder wollte sie nicht.
Nun lag ich selbst im Krankenhaus, Krebs im Endstadium, da half auch kein Extrakt aus schwarzen Johannisbeeren. Meine Augen waren leer geweint.
Ich lauschte den beruhigenden Worten meiner Großmutter. Großvater saß daneben und nickte weise.

„Sieh nur, Schatz, da kommt Besuch“, säuselte sie verblassend.

„Mit wem hast du denn gesprochen, Mama?“
„Mit deinen Urgroßeltern. Sie sitzen dort in der Ecke“, sagte ich ernst.
Meine Tochter nickte.
„Alles klar, Mama. Du solltest nicht so viel von dem Wein trinken. Das ist übrigens die letzte Flasche aus dem Keller. Aber ich hab im Ökoladen um die Ecke nachgefragt, die kennen jemanden, der den selbst keltert. Ich habe gleich zwei Kisten geordert.“

„Was machen die Sträucher im Garten?“
„Mama, du weißt doch, dass ich dafür keine Zeit habe.“

Ich nickte müde und griff nach der Flasche, die sie mir reichte.
Auf dem Etikett stand mit verblasster Tinte das Datum „November 1993“.

Schwarzer Wein, die letzte Flasche meiner Familie.
„Schenk mir ein, Schatz“, sagte ich und lächelte meiner Tochter aufmunternd zu.
Den Satz: „alle zwei Tage ein Glas, und du wirst nie krank“, verkniff ich mir.

„Morgen bin ich bei Dir, Großmutter“, dachte ich und hatte seltsamerweise keine Angst bei diesem Gedanken.

© Claudia Göpel

Letzte Aktualisierung: 02.09.2008 - 15.17 Uhr
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