Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Thema: Affäre | September 2008
Inselzauber oder ein Schiff mit acht Segeln ...
von Elsa Rieger

John Bonville stakste in den überkniehohen Stulpenstiefeln auf dem Filmgelände umher.
Die „Eingeborenen“ gafften hinter dem Absperrband, seit das Team vor zwei Wochen mit drei Hubschraubern auf der Isla Margarita gelandet war. John winkte hinüber und rief: „Na, ihr Wilden, heute schon Voodoo gemacht?“
Sie nickten und lachten.
Unter ihnen bemerkte er nicht zum ersten Mal die zahnlose Alte mit dem verwitterten Steingesicht.

Die Unterkünfte für Schauspieler und Stab waren kärglich: Einfache Einmannzelte. Catering war auf diesem abgelegenen Strand zu vergessen; gespeist wurde aus Dosen, die Notdurft in Mobiltoiletten verrichtet, von denen es allerdings nur zwei für vierzig Ärsche gab.
Je länger John darüber nachdachte, desto grimmiger wurde er, auch wenn er endlich eine Hauptrolle ergattert hatte: Den Boss der Piraten, der grausam wie die Hölle war.
John trat vor sein Zelt und blickte über das Meer. Vor der Küste ankerten die Attrappen. Ein Piratenschiff und der Dreimaster, der gekapert werden sollte. Bisher hatte es ein paar Drehs an Land zwischen den Palmen und auf den Riffs gegeben. Großaufnahmen von John, wie er die gekidnappte Tochter eines reichen holländischen Handelsherrn gewaltsam an sich riss und küsste. Er konnte die Schauspielerin nicht ausstehen. Dauernd motzte Mariella herum, wenn er sie packen musste: „Nicht so grob, Bonville! Passen Sie gefälligst auf mein Kostüm auf. Haben Sie Knoblauch gegessen? Ist ja unmöglich!“
Am liebsten hätte er das dumme Weib ertränkt. John schüttelte sich.

Heute Abend brauchte das Team einen blutroten Sonnenuntergang, bei dem die ersten Szenen draußen auf dem Rah-Schoner gedreht werden würden. John übte erneut das Gehen in dem ungewohnten Schuhwerk. Durch die Bewegung kam sein Darm in Fahrt und John eilte auf die Klippe zu, hinter der die unsäglichen Aborte absentiert waren.
Andächtig lauschte er in sich hinein und freute sich an der Entladung. Durch die dünnen Kunststoffwände hörte er das Kreischen der Möwen und die Brandung ans Ufer schlagen. Befreit und erleichtert schmiss er die Tür zu. Er erschrak, denn vor ihm stand ein Eingeborenenmädchen, schön, wie er es nur in seinen kühnsten Träumen erlebt hatte – hinter ihm stank es.
Sie blickte ihn ernst an, die Arme vor den Brüsten gekreuzt. Der orangefarbene Pareo war locker um die Hüften geschlungen. John war nicht mehr jung, wahrscheinlich doppelt so alt wie sie. Er sollte längst zu Injektionen mit Botox greifen, wie viele andere das taten. Er zog den Bauch ein.
„Du wollen was?“, sagte er und setzte sein charmantestes Lächeln auf.
„Nimm mich mit nach England.“
John war entzückt: Eine Geliebte vielleicht? Warum eigentlich nicht? Er würde ihr eine Wohnung mieten, ein Nest der Lust. Mit ihr an seiner Seite würde sich ein brillanteres, wilderes Image bauen lassen. Er verlagerte das Gewicht auf ein Bein, kickte ein Steinchen über den Rand der Klippe, zwinkerte dem karamellhäutigen Mädchen zu und warf die Haarpracht schwungvoll in den Nacken. Für die Rolle hatte er sie monatelang wachsen und zudem Verdichtungen anschweißen lassen.
„Du lieben mich?“
„Vielleicht.“ Sie wich zurück, als John sie am Arm nehmen wollte.
„Was“, sagte er verwirrt, „Lieben ohne Anfassen?“
„Gehen wir ein Stück.“ Leichtfüßig lief sie durch den weißen Sand auf einen Palmenhain zu. John stapfte hinterher, fluchte über das dicke, steife Leder und die Stulpen, die sich oberhalb der Knie bei jedem Schritt in die Schenkel gruben. Schnaufend erreichte er den Schatten.
„Du heißen?“
„Jenny.“ Sie setzte sich, „mein Vater war Engländer, Mutter stammte von hier. Ich besuchte eine englische Schule. Als ich vierzehn war, verunglückten meine Eltern tödlich. Seither lebe ich bei meiner Großmutter. Du kennst sie – sie ist Dorfälteste hier. Eine heilige Frau und Voodoomeisterin. Ich soll ihre Nachfolge antreten.“
Mittlerweile hatte John es geschafft, sich trotz der hinderlichen Stiefel neben Jenny niederzulassen. „Deswegen möchtest du nach London ...“
„Ja. Ich bin eine moderne Frau.“
Er glotzte ihren Körper an. „Was bekomme ich dafür?“
„Mich. Willst du mich gleich?“ Jenny schickte sich an, den Pareo aufzuknoten.
„Aber nicht doch, meine Liebe!“ John hatte zur Eleganz seiner Sprache zurückgefunden, „So etwas gehört zelebriert. Ich könnte mir vorstellen, die Nacht auf dem Piratenschiff zu verbringen. Nach dem Dreh der Sonnenuntergangsszenen.“
Jenny nickte, erhob sich und lief davon.
Schwitzend kam John auf Hände und Knie und aus dieser Position in den aufrechten Stand. Er spazierte zur Crew zurück. Einige saßen träge auf Campingsesseln, andere planschten im flachen Wasser herum. Es wollte einfach nicht Abend werden. Die Warterei zwischen den Szenen ermüdete alle. In den Studios vertrieb man sich die Drehpausen in der Kantine – hier gab es nichts.

Doch Jenny brachte Licht in die Ödnis. John nahm sich vor, diesen wundervollen Satz zu notieren, um ihn später zu einem Gedicht zu verarbeiten – er betrachtete sich als Poet.
Er traf sie regelmäßig nach Drehschluss am Steg und ruderte zum Piratenschiff hinaus. John vermutete, dass das Team inzwischen Bescheid wusste. Kürzlich schnappte er die Wortfetzen auf: „... der alte John macht sich lächerlich, das Mädel benutzt ihn, das sage ich dir ...“
Mariella und der Regisseur verstummten, als er näher kam.

John blühte auf durch die tägliche Sexration und mimte den feurigen Piraten.
„Das nenne ich Grandezza!“, lobte der Regisseur begeistert, wenn John sich an der Takelage auf den Dreimaster hinüberschwang, um ihn zu kapern.

„In drei Wochen sind wir daheim“, sagte John, als sie für eine weitere Nacht zum Schiff ruderten. „Die Innenaufnahmen werden im Studio gedreht und du wirst London mit deiner Schönheit erobern.“
„Und du endlich die verfluchten Stiefel los sein!“ Sie lachte.
John behielt sie nämlich an. Die Mühsal des Ausziehens ersparte er sich meist, außerdem fand er, dass sie den Reiz des Liebesspiels für ihn erhöhten. Er fühlte sich mächtig männlich, wenn er Jennys Nacktheit genoss, während das Leder ihre Haut streifte.

An diesem Abend schien Jenny beunruhigt, als sie in die Kajüte traten.
„Was ist denn mit dir?“ John glühte vor Leidenschaft.
„Irgendetwas ist hier nicht wie sonst.“ Jenny schnupperte mit dem hübschen Näschen.
„Komm her“, sagte John, der sich der Kniehosen entledigt hatte und ausgestreckt wartete.
Jenny zuckte mit den Achseln. „Ach, ich ersehne so sehr, endlich wegzukommen von hier. Ständig sagt meine Großmutter, sie müsse mich endlich in die Künste der Magie einweihen. Das ist alles so altmodisch und irrational.“
„Die alte Hexe.“ John lachte laut.
Jenny ritt ihn wild, schließlich stöhnte er: „Hilf mir die Stiefel auszuziehen, ich sterbe vor Hitze.“
Jenny stieg ab und zerrte am Leder. Zu zweit schufteten sie ergebnislos. John hob den schweißtriefenden Kopf und verdrehte die Augen. Dann fröstelte ihn. Mitten im Raum stand die Alte mit dem Steingesicht. Sie stach mit dem Finger in ihre Richtung. „Jenny hat mich gewittert. Ich verbarg mich in der Seemannskiste. Und nun verfluche ich euch beide! Jenny, du bist keine würdige Erbin des heiligen Amtes mehr und du, weißer Mann, bist blind vor Eitelkeit. Möget ihr beide für alle Zeiten über die Meere kreuzen.“
Damit verschwand sie. Erstarrt lauschten die Verfluchten, die Planken knarrten. John und Jenny stolperten an Deck. Die Attrappe hatte sich in einen seetüchtigen Achtsegler verwandelt, der ächzend in die Weite hinaus fuhr.

John saß an Deck, die Haut wettergegerbt und schaute seine Stiefel an. Sie hatten sich in den fünfzig Jahren seiner Seefahrerei nicht verändert. Stabil und unzerstörbar wie das Schiff. Weder das Salzwasser noch der Wind konnten gegen die Plage an seinen Füßen etwas ausrichten. Seit dem Fluch der Hexe, war das Leder mit seiner Haut verwachsen. Er verzog das Gesicht, als Jenny, liebestoll wie immer, auf ihn zu strebte.
„John, mein Schatz, Jenny ist einsam ...“
John alterte nicht, bei Jenny schien es schnell voranzuschreiten, sie war eine Greisin geworden mit schlohweißem Haar, Hängesäcken statt Brüsten und einer welken Bauchfalte, die ihre Scham versteckte. Er wünschte, sie hätte von ihrer Großmutter Voodoo gelernt.
„Ja, ich komme, Jenny“, murmelte er den Möwen zu, die anzeigten, dass sie wieder einmal dem Land näher kamen, es jedoch niemals mehr betreten würden.
John sah gar nicht mehr hin, stand auf und folgte seiner Jenny hinunter, die wie eh und je vor ihm hertänzelte und zwitscherte: „Ach, John, ich liebe dich.“
Er starrte auf ihren runzeligen Hintern.

Unter Deck gaben sie sich dem ewig gleichen, monotonen Rhythmus hin,
der John schon lange keine Freudenschreie mehr entlockte, als sie wie elektrisiert auseinander fuhren. Motorenlärm? Oder ein weiterer böser Zauber?
„Hey, John! Wann habe ich dir das letzte Mal gesagt, dass ich dich liebe? Als wir geheiratet haben, warst du eitel und selbstverliebt und mich trieb Eigennutz, von Land’s End wegzukommen. Mit den Jahren ist aus dir ist ein ernstzunehmender Charakterschauspieler geworden und ich könnte überall auf der Welt leben, solange wir nur zusammen sind.“ Jenny gab ihm einen dicken Kuss. „Ich sollte wieder einmal Großmutter besuchen, sie ist schon fünfundneunzig ...“
John, der langsam wach wurde, den Stoßverkehr auf der Kensington wahrnahm, wunderte sich über das zauberhafte Gesicht, das sich über ihn beugte. Er rieb seine Augen. Seine linke Fußsohle juckte. Obwohl er sich eigentlich durch den Stiefel hindurch nicht kratzen konnte, hob er das Bein und – berührte seine Haut. Da wurde er völlig munter und begriff!

Gestern hatte man ihm ein überbezahltes Angebot für einen Piratenfilm gemacht, so was mit Insel und Voodoo. Er hatte seiner Frau noch nichts gesagt,
und das würde er auch nicht.

Und wie jedes Mal, wenn John seine Gefährtin vieler Jahre betrachtete, deren Gesicht zart graue Strähnen umspielten, bekam er Lust auf sie.
„Ja, Liebes“, sagte er, während er sie entkleidete, „wir können die nächsten Ferien gern bei deiner Großmutter in Land’s End verbringen.“


© Elsa Rieger

Letzte Aktualisierung: 09.09.2008 - 23.09 Uhr
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