„Tempo, Leute, die Zeit wird knapp!”
„Achtung, letzte Platte!“
Wie von Geisterhand bewegt, gleiten CMYK-Druckplatten in die Rotationsmaschinen, finden computergesteuert ihren Platz, setzen die Rallye in Gang. Mit elf Metern pro Sekunde jagen Papierbahnen in einer Gesamtlänge von 2.000 Kilometern aus den tonnenschweren Rollen. Bedruckt mit dem obligaten Ballyhoo der Gegenwart. 600.000 Zeitungen!
Obwohl im dritten Ausbildungsjahr, kann sich Dirk kaum der Faszination von KoeBau 2 und 3 entziehen. Neben diesen haushohen, 70 Meter langen Offsetdruckmaschinen kommt er sich winzig vor. Beeindruckende Giganten, die ihn heute an zwei andere Kolosse erinnern: die Brüste von Francesca D’Asaro. Nicht minder imponierend, zumindest die Männerwelt nicht weniger auf eine quantité negliable schrumpfen lassend. Manchem ihrer Vertreter schrumpft jedoch beim Anblick solcher Naturwunder nicht alles. Wenigstens nicht Dirk, ganz im Gegenteil.
Seit langem verfolgt er ihre Auftritte: Lichtblicke nicht nur für italienische Medien. Die Gattin des Regierungschefs ist in Dirks Augen das Superweib, die schaumgeborene Göttin und Mutter aller Träume. Ach, nur ein einziges Mal …
„Na, du Penner? Morgen kannste Franzis Titten auf Seite Eins bewundern.“
Dirk hasst den Ausbilder, hänselt Schlösser ihn doch seit Monaten. Hatte ihn vor drei Tagen beim sehnsüchtigen Blick in den Schrank ertappt.
„Hähähä! Sieh mal an, die Signora als Spind-Girl für unseren kleinen Wichser! Die kommt doch morgen nach Berlin. Willste frei ham?“
„Warum?“
„Na, ich dachte, du fährst einfach hin und stellst dich als Verehrer vor.“
„Und dann?“
„Dann? Auf dein Zimmer bringen, prego. Die First Lady bumsen, grazie. Was denn sonst, Arschloch!“
Schlösser hatte vor Vergnügen gewiehert.
„Weil du aber hier so unersetzlich bist, übernehm ich den Bericht. Deine Entwürfe sind eh nur Schrott, du Versager!“
So macht man sich keine Freunde. Dirk rafft eine erhebliche Portion Verachtung ins Gesicht und verlässt die Halle.
Er hätte heute gerne in die Redaktionskonferenz hineingeschnuppert. Ging aber nicht. Freizeitausgleich für Sonderaktionen ist Pflicht, da bleiben ausgerechnet jetzt nur einige Abendstunden für die Ausbildung. Kaum ein Trost, dass auch der Chefredakteur abwesend ist. Man hatte sich mittags ohne höchsten und niedrigsten Verlagsangehörigen in der Chefetage getroffen. Redakteure, Reporter, Layouter, Druck- und Systemtechniker hatten die Blattkritik und -planung diskutiert. Aber niemandem ist Näheres über den morgigen D’Asaro-Beitrag der Rheinischen Allgemeinen Tageszeitung, kurz RAZ, zu entlocken.
Zu Hause am Bildschirm: Staatschef Giuseppe D’Asaro war dienstags mit Gattin eingetroffen. Routinebesuch. Nach einem Empfang auf Schloss Bellevue eine private Auszeit am abgeriegelten Spreewinkel. Mittwochs Treffen mit dem italienischen Botschafter Carlo Tremonti, heute Arbeitsessen im Kanzleramt. Der hohe Besuch, das ist weniger Signore D’Asaro, sondern seine Ehefrau. Francesca weicht ihm als Blickfang nicht von der Seite. Zunächst hatte ihr Equipment aus Gucci-Kostüm mit Armani-Seidenbluse, sündhaft teuren Pumps und schwarzem Lackgürtel von Modezar Alaia bestanden. Heute das Outfit im leuchtenden Orange eines schlichten Etuikleides von Gap, wie Dirk modebewandert feststellt. Die raffiniert geschnittene A-Form betont eine rassige Taille, ein waffenscheinpflichtiges Gesäß und göttliche Brüste unauffällig auffällig. Dirk beglubscht die Mattscheibe mit Stielaugen. Meinungsforscher sind über die Wählerwirkung uneins. Aber was für eine Inszenierung von Busen und Po! Ihm wird beinahe schwindelig vor Kurven. Es mag spektakulärere Oberweiten geben. Pamela Anderson oder Dolly Buster, andere Busenwunder gar mit Körbchen 85 H oder 75 J. Wie unappetitlich! Keine sein Typ. Aber Francesca! Wichtig sind auch ein wenig die Feinheiten der Topografie.
Am nächsten Abend die erste Enttäuschung. Dirk hat den ganzen Tag zu Hause verbracht, um sich die Spannung zu erhalten. Und nun ist die RAZ draußen vergriffen! Er kauft zwei sonst strikt ignorierte Konkurrenzblätter und setzt sich in die Bahn. Wunderschöne Bilder von Francesca im Rheinlandreporter. Der Herr neben ihr ist erster Mann der italienischen Regierung, aber das nur nebenbei bemerkt. Ein Beitrag im Tagesecho über das Arbeitsessen. Naja. Aber was ist denn das? Im Feuilleton eine Nahaufnahme vom Spree-Ausflug? War doch hermetisch abgeschottet! Wer …? Aha, ein gewisser H. Weinert zeichnet verantwortlich. Die Eheleute sitzen entspannt im kleinen Kahn, halb unter den Uferweiden. Er macht seine Conversazione, sie lässt sich, zurückgelehnt, von Berlins Sonne kitzeln. Diesmal in Edeldesigner-Jeans und einem eleganten Top, das dem Betrachter das üppige Dekolleté ins Gesicht wogen lässt. Und dies, sich im Wasser spiegelnd, gleich doppelt. Man habe die Aufnahme auch schon gestern gebracht und wolle nun noch einige kulturelle Aspekte des Besuches beleuchten …
Francesca – Welch verführerische Silhouette! Von wegen sieben Hügel Roms. Sette più due! Nove. Bravo, Weinert!
Dirk betritt den Verwaltunstrakt. Es wieselt und wuselt. Warum heute Abend dieser Eindruck von Nervosität? Wo bleibt Schlösser? Wenigstens der Boss ist heute im Dienst. Aus der Chefredaktion hört er ihn durch die angelehnte Tür telefonieren.
„Gewiss, Signore Tremonti! Ich darf Ihnen versichern …“
Tremonti? Der Botschafter?
„Mi scusi! … Ma no, es wird nicht wieder vorkommen.“
Hä? So kennt man den Alten nicht.
„Si, Signore. Mille grazie … Natürlich. Mein Stellvertreter und dieser schäbige Redakteur wurden selbstverständlich fristlos entlassen. Wenn ich sonst noch …“
Dirk traut seinen Ohren nicht. Ein flüchtiger Blick auf die am Eintritt gekrallte neue RAZ. Auch hier dasselbe Foto wie im Tagesecho, sogar auf der ersten Seite, wie von Schlösser versprochen.
„Meine Empfehlung an Signore D’Asaro und seine reizende Frau Gemahlin! … Jawohl … Buon giorno und Arrividerci nach Berlin. Ciao!“
Der Chef wischt sich den Schweiß von der Stirn und starrt Dirk an, der sich aus dem Staub machen will.
„Halt! Sie sind doch Schlössers Auszubildender! Den hab ich vorhin gefeuert. Reinkommen und setzen, junger Mann! Und schauen Sie unser Titelbild ruhig mal genauer an.“
Dirk fühlt sich verlegen und geschmeichelt zugleich. Will schon auf die Identität mit dem Foto seiner Bahnlektüre hinweisen. Doch dann der Schock! Er blickt entsetzt auf seinen Arbeitgeber. Auch dieser fixiert – grimmig – die Idylle in der RAZ und berichtet …
Da kennen sich zwei Reporter vom Tennis. Weinert spielt Schlösser Dienstagabend das Foto zu, das ihm hinter dem Rücken der Bodyguards gelang. Bedeutet ihm, er, Weinert, werde es veröffentlichen und gleichzeitig das Gesicht oder besser den Busen der Dame wahren. Schlösser möge das Maul halten und es ihm gleichtun.
Oh weh, Signora trägt einen Spezial-Wonderbra! Dieser liegt zusammen mit wahrhaft monströsen Push-up Polstern neben Francescas Sitz. Ihnen verdankt sie also diesen verführerischen Vorbau mit den angehobenen, pikant zusammengedrängten Inhalten. Maßgeschneidertes Dessous-Wunderwerk, aber unbequem. Niemand guckt, Giuseppe zählt sowieso nicht, also weg mit den Cookies! Hier das Resultat, verbunden mit Schlössers Heuchelei über die dem Leser geschuldete Wahrhaftigkeit, blablabla. Im Gegensatz zum Tagesecho zeige nur die RAZ das authentische Bild, blubblubblub …
Und so bedeckt das „authentische Top“ eine recht unscheinbare, quasi „ungeschminkte“ Brust. Weinerts Bildbearbeitungstricks hingegen haben sie zum gewohnten Hingucker geschönt. Airbrush, Clone-Pinsel, Weichzeichner, Bildmontagen: Die Software modelliert Digitalfotos ganz nach Bedarf. Weinert hatte den Anstand für eine Beautyretusche. Schlösser jedoch hatte das gängige Fälschungsarsenal ungenutzt gelassen …
Dirks Francesca hat einen ganz gewöhnlichen „irdischen“ Busen! Sicher kaum mehr als Körbchengröße 75 A. Solche Detailkenntnisse sind ihm geläufig, ebenso wie die einschlägigen „Weisheiten“: Bescheiden, aber es ist etwas zu finden. Man sieht, wo hinten und vorne ist …
Obwohl kein Kostverächter, ist so etwas unter Dirks Niveau. Er vermutet, dass bei diesen dummen Sprücheklopfern oft noch weniger zu finden ist, sowohl unten als oben … Weinerts Artikel hervorkramen. Bildvergleich. Kein Zweifel: abgeflacht bei der RAZ, hier aber 80 C, wie er mit Kennerblick taxiert. Beneidenswert, wer DIE bewegen darf!
Das mögen jene typischen Zeitgenossen gedacht haben. Bis heute. Aber der Boss ist noch nicht fertig …
Den ganzen Tag glühen die Leitungen. Skandal auch in Italien. Verletzter Nationalstolz. Wortreiche Choreografien der Entrüstung, länderübergreifend.
„Unverschämt, die Deutschen!“
„Überempfindliche Italiener, typisch!“
Zeitungs-Kurzkriege. Protest-, aber auch Spottgetöse allenthalben. La Repubblica, Il Mondo, La Stampa und wie sie alle heißen. Ähnliches Bild in Deutschland. Immer je nach Couleur, vor allem die Politiker.
Mitte-Links-Bündnis: „Ein Regierungschef mit dieser Gattin ist untragbar. Wer solche Linien so aufbauscht, hält es auch sonst nicht mit der Wahrheit.“
Sprecher der Mitte-Rechts-Koalition: „Den primo ministro interessiert nur eine einzige Linie: die seiner Politik!“
Hohngelächter der Opposition. Bilaterale Krisensitzungen mit Außenministern, Botschaftern, Staatssekretären. Beide Regierungsspitzen mischen mit. Diplomatische Verwicklungen, Eskalation, Aufregung in der EG. Drohung mit Sanktionen. Alles innerhalb eines Tages. Es gelingt nur mühsam, die Gemüter zu beruhigen. Die RAZ hat eine „Richtigstellung“ vorbereitet, in welcher Schlösser der Kommunistennähe und schamlosen Bildmanipulation bezichtigt wird. Kein Wort über die exorbitanten Abfindungen für ihn und den zweiten RAZ-Geschassten.
Und Dirk? Selber kein Adonis, beschließt er notgedrungen, Francesca die Treue zu halten. Sie bleibt sein mit Grandezza umwehtes Idol. Auf innere Werte und Charisma allein kommt es an, genau wie bei ihm! Um dies zu erkennen, bedurfte es für Dirk schon einer kleinen Staatsaffäre.
Letzte Aktualisierung: 03.09.2008 - 11.30 Uhr Dieser Text enth�lt 10210 Zeichen.