Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Thema: Affäre | September 2008
Mia Nova
von Annabell Jung

Nova lief immer weiter. Einfach immer weiter geradeaus. Mal hier einem Baum ausweichend, mal dort einen Busch umrundend oder dann wieder über einen umgestürzten, mit Moos und Pilzen bewachsenen, alten Baumstamm steigend.
Es war ein warmer Sommertag. Die Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Blätterdach und verwandelten das düstere Licht in ein herrliches Schimmern und Flimmern aus Gold-, Gelb- und Grünnuancen. Die Vögel, gut getarnt oben im Dach des Waldes, zwitscherten munter um die Wette. Einer schöner als der andere. Es war ein prächtiger Tag.
Aber Nova nahm all diese Herrlichkeiten um sie herum nicht wahr. Sie lief völlig mechanisch, stolpernd, wie fremd gesteuert weiter.. Ihre nackten Arme hingen wie leblos an ihrem Körper und streiften ab und zu das fast durchsichtige cremefarbene, mit Tupfen verzierte Kleid. Es ließ Nova so zart und kindlich erscheinen. Sie hatte es nur für ihn angezogen.
Ihr langes braunes, sonst immer seidig glänzendes Haar war zerwühlt und hing strähnig auf ihren Rücken herunter. Ein paar vertrocknete Blätter und kleine Zweige hingen darin. So als hätte sie gerade irgendwo unter einem Baum gelegen und geschlafen. Aber Nova schlief nicht. Sie war hellwach.
Ihr Kopf war – bis auf den einen ewig wiederkehrenden Gedanken – leer. Dieser Gedanke kreiste in ihrem Schädel, links herum, rechts herum. Er wollte nicht verschwinden, so sehr Nova auch versuchte, ihn loszuwerden, es gelang ihr nicht. Warum? Warum nur hatte er das getan? Wie konnte er ihr so viel Schmerz zufügen? Er hatte sie verraten. Verkauft und verraten! Die Tränen stiegen ihr in die Augen und ließen sie die Umgebung nur noch vage erkennen.
Bis zum heutigen Tag war alles zwischen ihnen so perfekt gewesen. Sie waren glücklich gewesen. Alles kam ihr vor wie in einem Traum. Aber die Realität zeigte ihr mit jedem Tag, dass es kein Traum, dass ihr Glück wahrhaftig war. Und er empfand genau wie Nova. Sie wusste, dass er auch so fühlte, denn er flüsterte es ihr oft ins Ohr. Sein Atem kitzelte sie dabei auf diese angenehme, warme Art und Weise, dass ihr jedes Mal ein wohliger Schauer über den Rücken lief. Mia Nova – mein Stern, so nannte er sie immer. Der Schmerz wetzte aufs Neue seine Messer und stach ihr wild ins Herz, als sie daran dachte. Die Stiche ließen sie sich zusammenkrümmen und nun liefen die Tränen wie kleine Bäche über ihr sonst so strahlend schönes Gesicht. Sie kniete sich hin, weil der Schmerz sie übermannte, und schluchzte laut auf.
Nova ging die Szenerie wieder und wieder durch. Es verursachte ihr unsagbare Schmerzen, aber sie konnte nicht anders. Sie musste es immer wieder tun, um es irgendwie verstehen zu können. Sie wollte es verstehen. Es gelang ihr nicht.
Vor ihrem inneren Auge sah sie die Bilder. Sie hatte dort auf ihn gewartet. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen und neben sich gestellt. So konnte sie das weiche Gras unter ihren Füßen spüren. Sie liebte dieses Gefühl. Dann sah sie ihn kommen. Nova hatte sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. So, wie er auf sie zu kam, an ihrem Platz unter der großen ausladenden alten Trauerweide, unten am Fluss. Die Zweige des Baumes hingen bis auf den Boden und bildeten so eine Art Versteck. Von außen konnte man im Vorbeigehen nichts erkennen, aber von innen hatte man, wenn man wollte, eine gute Sicht. Sie hatten diesen Baum auf ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang entdeckt und ihn zu ihrem Platz auserkoren. Sie hatten oft dort gesessen und die Stimmung genossen. Erträumten sich ihre gemeinsame Zukunft in den schönsten Bildern und Farben. Wie zarte, schimmernde Seifenblasen stiegen ihre Träume hinauf in die Zweige des Baumes und dort hingen sie für sie beide wie kleine leuchtende Sterne. Jedes Mal, wenn sie unter dem Baum saßen, konnten sie so ihre Träume betrachten.
Und dann kam es Nova vor, als erschüttere ein unmerkliches Zittern diese Traumblasen. Es begann, als Nova ihn die Wiese herunterkommen sah. Er war anders. So verunsichert. So kraftlos. Er wirkte so unendlich müde. Nova ergriff eine Unruhe. Sie wusste selbst nicht, woher diese auf einmal kam. Als kröche sie von den Wurzeln der alten Trauerweide ihre Beine herauf, bis in ihr Herz. Und dort blieb sie und wuchs mit jedem Schritt, den er näher kam. Das Zittern der Traumblasen wurde stärker.
Nova lächelte ihn an und wollte ihn in die Arme nehmen und küssen. So wie immer, wenn sie sich begrüßt hatten. Aber er erwiderte die Berührung ihrer Lippen auf den seinen kaum. Sie wollte ihm in die Augen sehen. Einen kurzen Moment hielt er ihrem Blick stand, dann wandte er sein Gesicht ab. Das Lächeln auf Novas Gesicht erstarb. Wie viel Angst und Qual lagen in diesem Blick! Die Unruhe in Novas Herz begann sich in Furcht zu verwandeln. Bis jetzt hatten sie noch kein einziges Wort miteinander gesprochen. Nova öffnete gerade den Mund, um ihn zu fragen, was denn los sei, da kam es aus ihm heraus. Anfangs zögernd, dann immer schneller, als müsse er sich durch das Reden selbst erst den Mut holen, den er brauchte, um ihr alles zu erzählen. Nova verstand nicht, was er da sagte. Sie hörte ihn, und jedes einzelne Wort, das er sagte, aber sie verstand es nicht.
Von einer Frau sprach er, seiner Frau, und Kindern, seinen Kindern. Und von einer schlimmen Krankheit, Krebs, die seine Frau bekommen hatte. Und davon, dass er sie, Nova, über alles lieben würde, mit ihr sein restliches Leben verbringen wolle, aber dass er kein Unmensch sei, und seine Frau und die Kinder jetzt nicht im Stich lassen dürfe, nicht im Stich lassen könne. Nova wollte, dass er aufhört von diesen Dingen zu reden, wollte ihn aufhalten. Aber er ließ es nicht zu. Es wollte alles raus aus ihm, es musste alles raus aus ihm. Sie, Nova, sollte endlich alles erfahren. Und zwischen all diesen grausamen Neuigkeiten beteuerte er immer wieder seine Liebe zur ihr und streichelte dabei unsicher ihren Arm.
Irgendwann war er still. Er hatte alles gesagt. Hatte sich alles von der Seele geredet. Er blickte Nova hilflos an und wartete auf eine Reaktion von ihr. Doch Nova schwieg. Sie fühlte sich wie betäubt, und die Betäubung ließ nur langsam nach. Ganz langsam, tropfenweise, drangen die eben gesprochenen Worte in ihr Bewusstsein. Und ebenso langsam wurde ihr die Bedeutung dieser Worte klar.
Und dann fielen die Traumblasen herab aus den Zweigen der Trauerweide und zerplatzten am Boden, alle auf einmal. Es blieb keine übrig. Ein schrecklicher Gedanke bemächtigte sich ihrer: Das war’s! Es war aus! Er hatte soeben mit ihr Schluss gemacht!
Er hatte schon eine Familie! Eine andere Frau, Kinder! Alles das, was sie sich zusammen für ihre Zukunft erträumt hatten, hatte er schon mit einer anderen! Und sie hatte nichts von alldem gewusst. Eine eisige Kälte umklammerte ihr Herz. Sie hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, als wenn ihr die Luft wegbleiben würde. Sie musste sich mit der Hand an der Trauerweide abstützen. Den Blick zu Boden gerichtet, hielt sie sich mit der anderen Hand den Bauch und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Langsam hob sie den Kopf und sah ihn an.

An ihrem stumpfen, erloschenen Blick sah er, dass er alles zerstört hatte. Sie sah ihn mit diesem Blick an und in ihren Augen war nur ein Wort zu erkennen: Warum?! Dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. Nova drehte sich ohne ein weiteres Wort um und lief davon. Durch die Zweige der Trauerweide hindurch, über die Wiese zur Straße. Bis in den Wald. Es war ihr völlig egal wohin sie lief. Hauptsache weg von ihm, weg von ihrem Leben.
Mia Nova – der Stern war soeben erloschen und würde nie wieder strahlen können.

Letzte Aktualisierung: 13.09.2008 - 14.12 Uhr
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