Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Michael Pick IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Oktober 2008
Die Schläferin
von Michael Pick

Die schwarzen, glatten Haare streichelten die leichte Senke knapp über ihrem Po. Sie stand im Schatten des grünen Samtvorhanges, der auf das dunkle Parkett haufte. In ihrem Rücken setzte das sanft stampfende Atmen für einen zufriedenen Seufzer aus, als wenn ihr Mann sein Glück nicht fassen konnte. Der Ton zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht, doch gleich nahm das Geschehen auf der Straße ihre Aufmerksamkeit wieder in Anspruch.
Der Postbote schob sein Fahrrad vor die gusseiserne Pforte und warf die Plane zurück, die er über die ausgebeulte Tasche vor dem Lenkrad geworfen hatte. Ein Schwall Regenwasser warf sich in den Vorgarten. Mit forderndem Griff zog der Mann eine Zeitung und zwei oder drei Briefe aus der Tasche und dann die Plane wieder zurück.
Beim Anblick der Post schnellte ihre Zunge nach vorne und überzog die Lippen mit einem glänzenden Film. Der Postmann hatte kaum die Schreiben durch den Schlitz in den Briefkasten geworfen, als die Haustür einen Spalt geöffnet wurde und ein nackter Arm sich zum separaten Fach für die Zeitung schlängelte. Noch bevor der Mann seiner Überraschung Ausdruck verleihen konnte, war die Zeitung herausgezogen und samt Arm wieder hinter der Haustür verschwunden.
Sie barg das Papier an ihren nackten Brüsten wie einen Säugling, der nach Nahrung schrie. Ein sorgfältiges Auge betrachtete die leeren Züge des Schläfers, der, seine Decke halb abgeworfen, quer über das Bett lag. Sie zog die Nase an und roch Tannenzweige und Backwerk, obgleich es mitten im August war.
Eine Hälfte der Zeitung hatte mehr Nässe abbekommen und tropfte eine Perle auf ihre nackte Haut. Die Kälte erinnerte sie an einen Mann, den sie für ihren Vater hielt, an den Mann mit den gezogenen Gräben auf dem Lappen Haut zwischen Fellmütze und Pelzjacke. An seine leeren Augen, deren Farbe sie nie entdecken konnte, an die Lippen, die kein Gefühl verrieten. Und die Haut, die gröber war als die Zähne eines Wolfes.
Sie erinnerte sich auch an das Lager, in dem sie aufwuchs, an die Haustür, die sie wie einen Spiegel sah, an die Tage in der dunklen Kammer, die ewig gleichen Worte, die ewig gleichen Reaktionen ...
Sie schüttelte die Gedanken so energisch ab, dass ihre Haare um ihren Hals klatschten. Das alles war Vergangenheit und nur der Hunger nach der Zeitung, genauer nach dem Tageshoroskop, war davon übrig geblieben.
Auf der ersten Seite blickte sie in das Gesicht ihres Mannes mit seinem breiten Lachen. Das Foto traf die Wirklichkeit und sie konnte verstehen, warum er als aussichtsreicher Kandidat für die Parlamentswahl galt. Die große Hoffnung seiner Partei. Und meine große Hoffnung, dachte sie. Nein! Mehr als das: Er war mein Leben, die Kirsche auf meiner Torte. Der erste Hirte, der es verstanden hatte, ihre verirrten Schafe einzufangen. Dabei war es mehr als Zufall gewesen, dass ihre Lebenslinien sich gekreuzt hatten.
Auf Seite vier standen die Voraussagen für den heutigen Tag: „Sie fühlen sich so gut, wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Es ist der Tag, aufzuwachen und zu tun, was man gelernt hat.“
Sie spürte die Bewegung in ihrem Rücken mehr, als sie sie hörte. Die Hitze seines verschlafenen Körpers brannte auf ihrer Haut, noch bevor sich seine Hand auf ihre Schulter legen konnte. In einer Bewegung fuhr sie herum und stand ihm entgegen.
Seine Hand sank auf ihre Schulter. Das Merkwürdigste waren seine klugen, grauen Augen, die sie überrascht fixierten. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, wie lange sie sich gegenüberstanden und ansahen. Endlich öffnete er den Mund. Ein dickes, pulsierendes Rinnsal floss von dort über sein Kinn und tropfte auf seine Brust, wo es sich zwischen den dunklen Haaren verlor.
Das Wunder in seinen Augen verschwand auch nicht, als er hintenüberfiel, seine Muskeln in einem letzten Aufbäumen versuchten, ihn von der Gefahr fortzubringen. Sie zog das Messer aus seinem Herzen und wischte es, ohne weiter nachzudenken, am Samtvorhang ab.

Letzte Aktualisierung: 14.10.2008 - 10.55 Uhr
Dieser Text enthält 3958 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.