'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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November 2008
Am Hexenstein
von Susanne Ruitenberg

Sina drehte sich vor dem Spiegel. Perfekt. Der Flickenrock sah schäbig aus, Mamas alte Strickjacke war warm genug und schön verschlissen, und die Ketten klimperten bei jeder Bewegung. Sie band sich einen Schal um den Kopf. Herrlich, selbst ihre zu große Nase, die sie sonst hasste wie die Pest, störte heute nicht, im Gegenteil - trug sie doch zum Gesamtbild bei. Sie nahm einen knorrigen Stock und humpelte durch ihr Zimmer.
Es klingelte. Mama musste die Tür geöffnet haben, nur Augenblicke später stürmten eine Vampirlady und eine Untote herein.
„Mensch, Schina, du schiehscht total escht ausch“, nuschelte Anja durch ihr Plastikgebiss.
Sina knickste. „Ihr seid aber auch schön grauslich. Habt ihr alles?“
Lynn drehte sich um und zeigte auf ihren Rücken. „Ein Rucksack voller Zutaten. Wir mixen uns nachher unsere eigenen Zombies.“
Kichernd machten sie sich auf den Weg zur Tür. Sinas Mutter schoss aus dem Wohnzimmer heraus.
„Halt, lasst euch ansehen. Hui, da kriegt man ja Angst. Viel Spaß!“
„Danke. Tschüss Mam!“

Auf dem Weg zur Haltestelle klapperte ein Skelett im Laufschritt hinter ihnen her. „Hallo Mädels.“
Sina drehte sich um und quiekte: „Jan! Wo hast du das Kostüm denn her?“
„Was heißt Kostüm? Ich habe einen Verwandlungstrank getrunken.“ Er grinste. Seine Totenkopfmaske leuchtete im Dunkeln.
Anja deutete auf eine Gruppe Gespenster. „Schaut, wir schind nischt die eintschigen.“
Sina probierte ein gackerndes Lachen aus. Dann sang sie mit knarrender Stimme: „Herbei, herbei, gekocht ist der Brei ...“
„Bratwurst wär’ mir lieber.“
„Jannemann, Skelette können nicht essen.“
„Dann musst du mich verhexen.“

Am Stadtrand stiegen sie aus dem Bus und marschierten zum Grillplatz. Halloweenkürbisse mit Kerzen darin säumten den Waldweg. Schon von weitem hörten sie die vertrauten Klänge der Rocky Horror Show. Am Hexenstein, der hinter der Grillhütte stand, hielt Sina an und legte ihre Hände darauf.
„Was machst du da? Zu den Hexen beten?“
„Weiß nicht, Lynn, das schien passend.“ Sina kratzte mit dem Fingernagel Moos von dem Stein. Als Kind hatte sie sich bei einem Spaziergang einmal verlaufen. Heulend und verzweifelt war sie durch den Wald gestolpert, überzeugt davon, dass Mami und Papi sie nie mehr finden würden. Blind vor Tränen, rannte sie schließlich gegen den Stein und fiel hin. Sie wischte sich die Augen sauber, blickte auf den Granitblock, während ihre Angst einer nie gekannten Ruhe wich. Dann hatte sie sich einfach auf den Stein gesetzt und gewartet, weil sie gewusst hatte, dass ihre Eltern sie finden würden. Auch jetzt spürte sie diese Kraft wieder. Liefen hier besondere magnetische Strömungen in der Erde entlang?
„Kommscht du endlisch?“
Anja zog sie fort, zum überdachten Grill. Ein Vampir wendete Bratwürste, während zwei Hexen Salatschüsseln auf einem langen Tisch anrichteten. Sina sah sich um.
„Suchst du Timo?“, fragte Lynn grinsend. „Was du an dem findest.“
„Er ist so – anders.“
„Du meinst, weil er dich immer anglotzt. Nee, im Ernst, der Kerl ist schräg. Von mir aus hätte er auf seiner Privatschule bleiben können.“
Sina zuckte die Achseln. „Die ist aber geschlossen worden wegen der Vorfälle.“
„Vorfälle ist gut. Drei verschwundene Schülerinnen ...“
„Dafür kann er doch nichts.“ Aber spürte sie nicht selbst, wenn ihre Blicke sich trafen, dass etwas in der Luft lag? Warum war sie so fasziniert von ihm? Sie schüttelte sich. Jemand starrte sie an! Beinahe konnte sie die Blicke als Stiche im Rücken fühlen. Langsam wendete sie sich um. Ein Henker mit heruntergezogener Kapuze stand hinter ihr. Er hob die Axt, die er in der Hand hielt. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Der Henker setzte die Kapuze ab, verbeugte sich, und überreichte ihr eine rote Rose.
„Timo! Musst du mich so erschrecken?“
Er lächelte, doch seine Augen blieben davon unberührt. „Ich bin im Auftrag des Herrn unterwegs.“ Mit einer fließenden Bewegung setzte er die Kapuze wieder auf und schlängelte sich zwischen zwei Spidermännern hindurch zum Grill. Sina betrachtete die Rose von allen Seiten. Was sollte das? „Au!“ Eine Dorne steckte in ihrem Daumen. Sie zog sie heraus und leckte das Blut ab. Dann folgte sie Timo. Lange standen sie schweigend vor dem Feuer und starrten in die Glut. Als der Grill fast leer war, hielt Timo seine Axt in die Kohlen.
„Was tust du da?“
„Feuer reinigt, kleine Hexe.“ Mondlicht spiegelte sich in seinen Augen.

Stunden später sah Sina auf die Uhr. Gleich Mitternacht. Lynn stupste sie an. „Kommit, wir woll’n uns im Kreis um’n Hexenstein aufstellen, an Händen halten.“ Ihre Augen glänzten und sie roch, als hätte sie sich in Wodka gewälzt.
„Warum?“
„Einfach s-so.“ Lynn hakte sich bei Sina ein, sie konnte kaum mehr gerade gehen. Sina reihte sich zwischen einer anderen Hexe und Lynn in den Kreis ein. Alle machten mit. Sie fassten sich an den Händen. Irgendwer begann, sich rhythmisch zu wiegen. Keiner sagte einen Ton. Sina gab sich ganz der Bewegung hin, roch das Grillfeuer, feuchte Erde, Alkoholdünste, spürte eine kalte und eine schweißfeuchte Hand in ihren. Jetzt stampften einige abwechselnd mit den Füßen, bald griffen alle die Bewegung auf. Der Boden zitterte. Sina öffnete die Augen einen Spalt. Der Hexenstein leuchtete! Hatte jemand etwa Leuchtfarbe ...? Plötzlich verschwand alles; die Freunde, die Grillhütte, die Geräusche. Die Bäume veränderten sich, einige wichen, andere wurden kleiner; neue standen, wie von Zauberhand eingefügt, wo sich vorher keine befunden hatten. Sina schluckte und blickte um sich. Dann erstarrte sie. Was war das? Ein Scheiterhaufen, kaum drei Meter vor ihr! Eine junge Frau war daran gefesselt. Sie wandte den Kopf und sah ihr in die Augen. Sina war es, als blicke sie in einen Spiegel. Die junge Frau nickte einmal. Jetzt näherte sich eine Gruppe Männer in altmodischer Kleidung. Einer trat aus ihrer Mitte auf den Scheiterhaufen zu. Er trug eine Kapuze. Mit einer Fackel entzündete er das Reisig unter den Füßen der Frau. Die Flammen fraßen sich gierig durch die Zweige, leckten an den Fußsohlen der Gefesselten. Sina hielt sich die Ohren zu, doch die Schreie drangen bis in ihre innersten Fasern. Sie schloss die Augen, aber sie konnte alles sehen. Eine Ewigkeit dauerte es, bis die arme Frau verstummte.
Männerstimmen sprachen durcheinander. Sina öffnete ihre Augen wieder. Der Henker drehte sich zu ihr, nahm die Kapuze ab und sah sie an. Das war doch ...? Sie stieß einen Schrei aus.

„Sina, ist alles in Ordnung?“ Kopfschüttelnd kam sie zu sich; sie hing zwischen Lynn und dem Hexenmädel, würgte einmal, erbrach sich. Auf einmal traten durchsichtig schimmernde Frauen in den Kreis, Frauen in Lumpenröcken, mit langem Haar. „Räche uns, Sina“, flüsterten sie. Federleichte Berührungen halfen ihr auf die Beine. Die anderen sahen die Gestalten auch, wichen zurück, manche schrieen. Die Lumpenfrauen traten zur Seite und gaben den Blick frei auf drei Lichtmädchen in Schuluniformen. Grässliche Wunden verunstalteten sie, überall, am Kopf, an den Armen. Wie auf Kommando drehten sie sich in eine Richtung.
Sina trat in das Innere des Kreises. Sie hob die Hand und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du warst es. Ich habe es gesehen.“ Timo stand direkt hinter dem Hexenstein, seine Silhouette gespenstisch ausgeleuchtet vom Grillfeuer. „Was redest du für einen Unsinn?“
Sina ging auf ihn zu. „Henkerssohn. Dein Vorfahre hat Frauen verbrannt, unschuldige Frauen, sie sind hier, siehst du sie nicht? Und du hast auch getötet. Die drei Vermissten, du hast sie in den Wald gelockt, hast schlimme Dinge mit ihnen getan und ihre Leichen wie Müll verscharrt. Damit muss Schluss sein.“ Ohne zu wissen warum, hob sie beide Hände. In dem Moment erzitterte der Hexenstein, als würde von unten jemand an ihm rütteln und brach mitten entzwei. Sina spürte eine Kraft, die durch ihre Arme schoss, als hätte sie in eine Stromleitung gefasst. Timo wurde nach hinten geschleudert und blieb reglos liegen. Jemand kreischte. Die leuchtenden Frauen umringten Sina, sie fühlte sich eingehüllt von Kraft und Liebe und hob die Hände gen Himmel. Dann verblassten die Frauen. Sina wandte sich um und schritt, ohne sich noch einmal umzusehen, Richtung Pfad.

Letzte Aktualisierung: 24.11.2008 - 16.18 Uhr
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