Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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November 2008
Schräglage
von Robert Pfeffer

Liebe Sonja,

du bist meine beste Freundin, seit wir im Sandkasten gesessen haben und das ist jetzt immerhin schon knapp über dreißig Jahre her. Wir haben gemeinsam Herrn Hamacher in der Grundschule und Frau Biesenbach auf dem Gymnasium überstanden, uns den ersten Kuss in aller Ausführlichkeit geschildert und auch das, was man darüber hinaus unter Frauen in Sachen Liebe erzählen kann. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, richtig?

Also ... eigentlich müsste ich jetzt zum Telefon greifen und dir erzählen, was in den letzten sieben Monaten geschehen ist. Ich platze fast vor Neuigkeiten für dich und trotzdem scheint es mir sinnvoller, nicht mit dem Glöckchen klingeln, um dich zur Bescherung herein zu bitten. Lass sacken, was ich dir heute auf diese Weise sagen möchte und dann reden wir.

Liebe Sonja, mein Leben ist in eine totale Schräglage geraten. Der langsame Spannungsaufbau liegt mir nicht, das weißt du, daher schieß ich den dicksten Pfeil im Köcher nun ohne Vorwarnung ab: Ich bin eine Hexe! Nein, nicht wie damals, als ich den bedauernswerten Winfried abserviert habe. Er schimpfte mich eine widerliche Hexe und hatte wohl auch recht damit ..., was war ich für ein Luder, au weia. Es ist aber nicht so, wie er es meinte, sondern, na ja, ich bin wirklich eine. Meine Mama war eine Hexe und ich bin ganz die Tochter.

Du ahnst nicht, wie ich es erfahren habe! Damals stand Marga plötzlich vor der Tür. Sie war eine uralte Freundin meiner Mutter Marianne, eher so was wie eine Mentorin, und ging stramm auf die Hundert zu. Sah übrigens auch genau so aus. Wir saßen bei einer Tasse Kaffee zusammen und plötzlich holte sie dieses Buch hervor, legte es auf den Tisch, schwieg einen Moment und sagte: „Serafina, du bist eine Hexe, genau wie Marianne. Sie konnte es dir nicht mehr sagen. Du warst ja noch keine zwei Jahre alt, als sie starb. Dein Vater weiß von all dem nichts. Ich habe deine Mutter ausgebildet. Für mich ist es bald soweit und so erfülle ich noch meine letzte Pflicht, dich einzuweihen. Erst jetzt darf ich es tun, denn ich hörte den Ruf, dass meine Zeit bald gekommen ist.“

Stell dir vor: Marga hat gewusst, dass ich an dem Nachmittag alleine und Walter auf Dienstreise war, so konnten wir ungestört reden. Vier Stunden hat sie geplaudert, mir Kontakte genannt, die ich brauchen würde. Der Rest stünde im Buch. Dann ist sie einfach aufgestanden und gegangen, ohne sich umzudrehen.

Das Buch, das sie auf den Tisch gelegt hatte, war das Hexenbuch meiner Mama. Nun gehört es mir. Marga ist tatsächlich drei Wochen danach gestorben. Mit Walter darf ich über all das nicht sprechen. Marga hat es verboten. Die Regeln sagen: Genau eine Person ist jeder Hexe als Assistentin erlaubt, aber niemals ein Mann. Und mit der Assistentin kann man über alles quatschen, sich beraten und so weiter.

Es ist faszinierend und auch wieder grässlich: Jeden Tag sitze ich Walter am Tisch gegenüber und bringe mich fast um, ihm nicht ein Wollknäuel in die Suppe zu hexen. Andererseits darf ich nicht mit ihm teilen, was ich erlebe.

Seit drei Monaten besuche ich Abendkurse im Hexenzirkel. Also, wenn du je gedacht hast, hexen zu lernen ist wie bei Harry Potter, dann vergiss das gleich alles wieder. Ich geh durch keine Wände auf irgendwelchen Bahnhöfen, sondern bei uns im Ort in die Volkshochschule. Das war einer der Tipps von Marga. Offiziell ist es ein Kochkurs. Asiatische Küche, erzähle ich Walter. Es ist übel, ihn anzulügen, doch mir bleibt keine Wahl. Die Zutaten sind allerdings gewöhnungsbedürftig. Kräuter ... in Ordnung, aber Krähenfüße und Schweineaugen ... da schüttelt es mich jedes Mal. Der Sud, der dabei herauskommt und mit dem man fast alles heilen kann, schmeckt wie abgestandener Kaffee.

Beim Stöbern im Hexenbuch habe ich dagegen einige Dinge gefunden, die wirklich Spaß machen. Wir Hexen haben eine große Verantwortung, wenn wir unsere Kräfte einsetzen, schon klar, aber man will ja auch einfach mal Spaß haben, oder? Letzten Montag in der Straßenbahn wollte ich was ganz Harmloses hexen. Alle Handys sollten auf einen Schlag klingeln. Ziel und Ergebnis lagen leider deutlich auseinander, denn stattdessen haben sich alle Regenschirme aufgespannt. Auch jene, die noch in ihren Hüllen oder in Taschen steckten. Ich musste drei Haltestellen zu früh aussteigen und hab mich dann auf dem Bahnsteig über ein Geländer gehängt, um die Tränen einfach gleichmäßig abtropfen zu lassen. Eine Woche später dann mein zweiter Versuch in der Bahn: Ich wollte lediglich einen kleinen Hund mit einem Kind im Kinderwagen tauschen. Aber irgendwie hab ich eine Silbe wohl falsch gemurmelt, jedenfalls saß der Hund auf dem Plastiksitz, das Kind lag auf dem Boden und die Mutter im Kinderwagen. Ich sag ja, übermütige Spielereien.

Am meisten Freude habe ich jedoch an Sprachhexerei. Vor ein paar Tagen war ich auf einer Podiumsdiskussion. Da haben einige Politiker darüber diskutiert, was sich für Deutschland ändert, wenn Obama Präsident der USA werden sollte. Als die Jungs da auf der Bühne mal wieder besonders langweilig wurden, hab ich kurzerhand etwas Schwung reingebracht. Nur ein paar harmlose Worte murmelte ich und schon sagte der Bundestagsabgeordnete unserer Stadt: „Meine Hamen und Derren, in Funkland würde es nie deutschionieren, einen werbeminütigen 30-Spot zu senden. Die Lenschen in diesem Mande sind für derlei Fanzefirl auf zu vielgeklärt!“ Ich liiiiebe Wortverdrehungen. Das war ein Gegröle, kann ich dir sagen. Da ich den armen Kerl nicht komplett auseinander nehmen wollte, hab ich den Zauber direkt wieder zurückgenommen.

Die wirklich kritischen Momente habe ich dir bislang allerdings verschwiegen. Zeit für Geständnisse also. Meine erste Besenreitstunde war eine totale Katastrophe. Das fing schon mit der Vorstellung an. Als ich der Lehrerin sagte, dass ich Serafina Besenbinder heiße, da hat sie sich erstmal weggeschmissen vor Lachen. Hättest du gedacht, dass ein Besen schwer zu steuern ist? Auf diesem dünnen Holzstock die Balance zu halten, ist nicht so leicht wie Radfahren! Gut, der Besen ist quasi wie Automatik, es gibt nur einen Gang. Wenn ich sage „Jedulum“, saust er vorwärts. Mit „Verumar“, hält er die Geschwindigkeit und beschleunigt nicht weiter. Murmele ich „Batadelas“, bremse ich langsam ab, um dann mit „Nimivor“ zu halten. Aber mit „Kontapur“ stoppt der Besen auf der Stelle, im Zweifel auch aus vollem Tempo! Das ist mir einmal passiert, als ich im Wohnzimmer geübt habe. Mich hat es heftig in die Sitzgruppe gefeuert, während der Besen noch über dem Esstisch schwebte. Es sah aus, als würden die Borsten grinsen, als ich aus den Kissen wieder an die Oberfläche kam. Aber zurück zur ersten Reitstunde.

Da fragt die Lehrerin mich glatt, ob ich schon mal auf einem Besen gesessen hätte. Ich kam mir so bescheuert vor, als ich das Holz zwischen die Beine nahm und da stand. Sie sagte schließlich ohne Vorwarnung „Bibitur“ und der Besen ging einen halben Meter in die Höhe, schwebte praktisch in Hab-Acht-Stellung. Blöd war, dass ich nicht mitschwebte. Durch den Ruck bin ich nach rechts abgestiegen und auf das Linoleum der Turnhalle geknallt, in der wir geübt haben. Das Besenreiten kann nämlich nicht im Kochkurs verpackt werden. Dazu meldet der Hexenzirkel eine ganz normale Turnstunde an und es gibt eine Vereinbarung mit dem Hausmeister, dass niemand gucken darf und wir abschließen können. Aber ich schweife ab. Beim nächsten Versuch hab ich schon selbst den Befehl gegeben. Leider war das Ergebnis ähnlich ernüchternd. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb ich oben sitzen, dann verlor ich aber wieder den Halt. Nur runtergekracht bin ich diesmal nicht. Nach anfänglicher Verkrampfung pendelte ich unter der Besenstange in aller Ruhe aus. Frau Besenbinder in Lauerstellung sozusagen. Tja, das war die erste Reitstunde. Zuhause hab ich bis zur zweiten Stunde fleißig geübt. Anfangs auf unserem Vorwerk, weil der in der Mitte stabiler ist, aber schon bald auf dem richtigen Besen. Bist du mal Wasserski gelaufen? Beim ersten Start auf einer Zuganlage ist es ähnlich wie beim Besenreiten. Den meisten geht es wie folgt: Der Zug kommt auf das Seil, reißt einen ins Wasser, während die Ski an Land bleiben. Zum Schreien komisch. Aber nach zwei bis drei Starts hat man raus, was man machen muss. So war es schließlich auch mit dem Besen. Heute dreh ich nachts hin und wieder ein paar Runden, wenn ich nicht zu müde bin. Es ist faszinierend, wie die Stadt im Dunkeln aus 50 Metern Höhe aussieht.

Als gute Assistentin kannst du viele Kleinigkeiten selbständig hexen und Besenreiten musst du natürlich auch lernen. Du darfst sogar mit auf unser Walpurgisnacht-Treffen! Also pass auf: Ende November ist Walter zu einer Tagung ein komplettes Wochenende weg. Hast du Zeit? Meine Schräglage ist schon ein wenig begradigt, aber ich muss trotzdem unbedingt mit dir reden.

Ach ja, eins noch: Ich habe bloß diesen einen Versuch, mir eine Assistentin zu suchen. Wenn du nicht willst, verstehe ich das. Leider wird sich dieser Brief dann vor deinen Augen in Luft auflösen. Ich bekomme dadurch ein Signal und werde alles in deinen Gedanken so verdrehen, dass dir eh niemand glaubt, wenn du es erzählst. Das ist so ein bisschen wie mit dem Sprachhexen ... nur echter.

Lass uns gemeinsam die Sitzgruppe ausprobieren ... so oder so!

Alles Liebe
Deine Serafina

Letzte Aktualisierung: 22.11.2008 - 17.37 Uhr
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