Ganz schön bissig ...
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November 2008
Hungerphantasien
von Rita Hausen

Hänsel und Gretel waren die Kinder eines armen Holzhackers. Die Zeiten waren schlecht, der Vater bekam für seine Arbeit gerade einmal den Mindestlohn. Schließlich wurde er sogar aus der Firma „Holz und Wege“ entlassen und musste von Hartz IV leben. Das reichte hinten und vorne nicht. Seine Frau war verzweifelt, sie wusste nicht, wie sie ihre Familie ernähren sollte.
Als Hänsel den dritten Abend hungrig ins Bett ging, träumte er des Nachts, dass er sich mit seiner Schwester im Westerwald verirrt hatte. Er kam an ein Haus, das ganz aus Lebkuchen bestand. Als er sich ein Stück abbrach, schaute eine alte Frau aus dem Fenster und lud ihn und seine Schwester ein, hinein zu kommen. Dort tischte sie den beiden die köstlichsten Speisen auf. Sie aßen Lamm mit Pfefferminze, Kalbsbraten mit Spätzle, Mousse au chocolat, Marzipanpralinen, Erdbeeren mit Schlagsahne und tranken dazu Bionade.
Gretel träumte, dass sie bei einer alten Rentnerin war, der sie den Haushalt führte. Sie bereitete mit ihr zusammen die köstlichsten Speisen zu. Sie aßen Hirschragout mit Rotkohl und Schwarzwälder Kirschtorte.
Eine Seniorin, die von ihrer Rente kaum leben konnte, träumte, dass sie in einem Lebkuchenhaus lebte und dass zwei Kinder sie besuchten, denen sie leckere Speisen kochte.
Hänsel hatte im Traum so viel gegessen, dass diesem ein Alptraum folgte. Ihm träumte, dass die Alte eine böse Hexe war und ihn mästen wollte, um ihn dann im Ofen zu backen und zu essen.
Gretel träumte, dass sie schwere Arbeit verrichten musste. Eine alte Frau nutzte sie aus. Da sie aber nicht wusste, wie sie sich sonst ihren Lebensunterhalt verdienen sollte, blieb sie. Immerhin konnte sie sich hier satt essen.
Die Rentnerin erwachte mit einem Schrei. Sie hatte geträumt, dass zwei Kinder sie in einen brennenden Ofen schubsen wollten.
Als Hänsel und Gretel am Morgen erwachten, hatten sie das elende Leben satt. Sie sagten ihren Eltern, dass sie ihr Glück in der Stadt versuchen wollten. Sie trampten nach Köln und sahen sich die Schaufenster an. Auf den Stufen vor dem Dom saß eine alte Frau, die Hänsel irgendwie bekannt vorkam. Auch Gretel war sie sonderbar vertraut. Sie kamen ins Gespräch und die Alte lud die beiden ins Café ein. Es war ihr, als ob die beiden Kinder ihr schon einmal begegnet waren. Sie sagte, sie heiße Anneliese und erzählte ihnen, dass sie zwar nicht viel Geld habe, aber eine große Wohnung. Dort fühle sie sich oft so allein. Kurzum, sie bot den beiden an, bei ihr zu wohnen. Aber die finanziellen Mittel reichten nicht für drei. Hänsel und Gretel sollten versuchen, etwas zu essen aufzutreiben. Dabei verirrten sie sich im Straßengewirr der Großstadt. Hänsel hatte aber schlauerweise bei jedem Abbiegen die Ecken mit Sprühfarbe markiert, so dass sie wieder zu Anneliese fanden. Zu essen hatten sie allerdings nichts entdeckt.
Im Fernsehen kam eine Sendung über Managergehälter.
Auch am nächsten Tag irrten sie durch die Straßen, schauten sich Schaufenster mit den köstlichsten Sachen an, die sie sich nicht leisten konnten. Aus einem Mülleimer fischten sie ein noch essbares Brot. An einer Kirchentüre lasen sie, dass es für Bedürftige eine kostenlose Mittagstafel gebe. Sie nahmen sich vor, am nächsten Tag dorthin zu gehen. Aber es kam anders.
Im Fernsehen wurde eine Dokumentation über die Bankenkrise gesendet. Hänsel, Gretel und die Alte sahen sich entgeistert an. Hänsel meinte: „Bevor die all das Geld verbrennen, sollten wir uns noch mit ein paar Scheinen eindecken. Was meint ihr?“ Gesagt, getan. Sie kauften vom letzten Geld eine Spielzeugpistole. Anneliese hatte von früher ein Hexenkostüm mit allem drum und dran. Vor allem die Maske war an Scheußlichkeit nicht zu überbieten. In diesem Aufzug überfiel sie die Sparkasse an der Ecke, wo sie ihr Konto hatte. Der Kassierer bekam einen großen Schrecken und gab ihr zitternd das Geld. Da die Alte mit der Beute nicht so schnell flüchten konnte, schnappten sich Hänsel und Gretel die Tüte mit dem Geld und flitzen von dannen, denn sie konnten nicht sicher sein, ob der Kassierer nicht den Alarm ausgelöst hatte. Anneliese verdrückte sich auf die Toilette und kam als harmlose arme Alte zum Vorschein, die man nie und nimmer verdächtigen würde. Bei ihr hätte man ja auch nichts gefunden. Als die Polizei eintraf, berichtete der Kassierer, der seinen Schock noch nicht überwunden hatte: „Es war eine Hexe mit einem ziemlich scheußlichen Gesicht. Ich glaube aber nicht, dass sie an dem Geld viel Freude hat, zwei Jugendliche haben sie offensichtlich beobachtet und ihr das Geld abgejagt. Dann hat sie sich in Luft aufgelöst. Sie hat den Trubel, den die beiden Jugendlichen verursachten, genutzt, um zu verschwinden.“
Zu der Zeit saßen die Drei bereits in Omas guter Stube und zählten das Geld. Es waren immerhin 20 000 Euro, davon konnten sie eine Zeitlang gut leben.
In den Nachrichten ging es um ein Milliardenhilfsprogramm der Bundesregierung für die armen Banken.
Die Kinder und die Rentnerin konnten sich endlich mal was Gutes leisten. Sie bereiteten zusammen ein Festmahl vor, zu dem sie auch die Eltern einluden. Diese waren glücklich, dass es die Kinder in der Stadt zu etwas gebracht hatten und fragten nicht nach der Herkunft des Geldes.
In der folgenden Nacht schliefen alle prächtig, Gretel träumte von einem Knusperhäuschen, in dem sie alle bis ans Ende ihrer Tage in Freuden lebten.

Letzte Aktualisierung: 19.11.2008 - 15.41 Uhr
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