Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Dezember 2008
Ihre dunklen Monate
von Helga Rougui

Jedes Jahr, Anfang November, steigen die Schatten empor, umstellen Alina, hüllen sie ein und werfen sie in die Vergangenheit zurück, als die Dunkelheit begann.

Sie begann in dem Moment, als Alina ihre Mutter von der Seite anschaute, wie sie, klein und verängstigt und es nicht zugeben wollend, auf dem Krankenhausflur zwischen ihnen lief, von ihrer Familie gleichsam umringt, und sagte - es ist wohl Krebs, Darmkrebs - und Alina dachte und alle mit ihr - Krebs, das ist kein Wort, das zu uns paßt. Krebs haben die anderen. Vielleicht geht es gut. Aber es wird nicht gutgehen.

Es kamen die Monate, die Jahre, wo der Kampf der Mutter ums Ãœberleben das Dasein aller bestimmte.

Als ihr letzter Sommer kam, glaubte Alina – sie war widerwillig und schlechten Gewissens in Urlaub gefahren - den Versprechungen eines tunesischen Soukverkäufers und brachte ein todsicheres Mittel gegen Krebs mit nach Hause, das die Mutter, damals schon ausgezehrt und mitgenommen von den Chemos und beinahe schon in der Mitte durchgebrochen wegen der Tumore im Rückenmark, an sich nahm, man kann schließlich alles probieren, warum nicht, wer weiß.
Daß es ein todsicheres Mittel war, war einige Monate später evident.
Beim Ausräumen ihrer Sachen fand Alina das unangebrochene Päckchen in der Nachttischschublade des elterlichen Ehebetts.
Ihre Mutter hatte es nie geöffnet.

Dann wurden die Krankenhausaufenthalte häufiger, und einmal sagte sie, Kind, was guckst du denn so traurig, da muß ich jetzt durch.
Alina dachte, aber wohin denn, du weißt doch auch, wohin der Weg führt, und du sagst mir, nicht traurig sein, wo du allen Grund für endgültige Tränen hättest.

Und es kam die Zeit, als die Mutter zum letzten Mal ins Krankenhaus kam, abgeschnitten von der Außenwelt, da man ihr das Hörgerät entfernt hatte, und betäubt durch Morphium, das die Schmerzen nur unvollkommen abmilderte und nicht verhindern konnte, daß sie beim Umbetten bei der kleinsten Berührung ihres Leibes schrie.
Und je nach Naturell erwiesen sich die Familienmitglieder als Feiglinge oder als fürsorglich. Die einen konnten ihr nur die Hand halten, die anderen taten darüber hinaus, was nötig war. Alina sah zu, wie ihre Schwester den vom mühevollen Atemholen verklebten Mund der Mutter auswusch, und sie sah ihren Vater, der stumm am Krankenbett saß und es nicht faßte, daß die Liebe seines Lebens und ihr Leben und sein Leben von ihm gingen.

Einmal in dieser Zeit kam Alina in eine Verkehrskontrolle, sie war zu schnell gefahren, und nach Aufnahme des Tatbestands sagte der Polizist zu ihr, warum fahren Sie denn auch so schnell. Alina war ausgestiegen, stand neben ihrem Wagen und antwortete, ich hab an was anderes gedacht, und es war ihr, die sie Zeit ihres Lebens ängstlichen Respekt vor Autoritäten aller Art gehabt hatte, dieses hier so egal, daß sie sich kaum rührte.
Und sie dachte,
meine Mutter stirbt,
aber dir sage ich das nicht und ich erkläre nichts
und werde sie nicht als Entschuldigung mißbrauchen.

Und dann kam der Anruf morgens um zehn nach sechs.
Der Vater hatte eine brachiale Nachtschwester davon abgehalten, seine tote Frau sofort in den Keller in die Kühlkammer bringen zu lassen - nicht bevor die Töchter sie ein letztes Mal gesehen hätten, und er hatte Stunden gewartet, bis er anrief, hatte am Bett der Toten bis zum Morgen gewacht, damit die Kinder nicht mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen würden.
Und sie kamen, sahen auf dem weißen Laken, seitlich zusammengekrümmt, die kleine weiße Gestalt, die nicht mehr ihre Mutter war, und dann wurde sie abtransportiert und störte den normalen Krankenhausalltag nicht länger.
Alina fuhr nach Hause und folgte der Bundesstraße und sah wieder dieses Haus an einer ganz bestimmten Kurve kurz vor der Autobahnauffahrt, das ihr jedesmal aufgefallen war, wenn sie von einem der Krankenbesuche gekommen war in den letzten Monaten, und sie wußte, daß sie sich, jedesmal wenn sie wieder daran vorbeiführe, an diese Rückfahrt erinnern würde.

... … …

Einige Jahre später, Anfang Dezember, sah Alina ihren Vater ausgestreckt in seinem Wohnzimmer auf dem Boden liegen, wohin ihn der Pfleger – jung, unerfahren, verstört durch die Situation - gebettet hatte zwecks Wiederbelebungsversuchen, die nichts gefruchtet hatten.
An diesem Montagmorgen gegen halb acht, als er den Kaffee machte in der Küche, war der Vater in seinem Sessel mit einem Seufzer in sich zusammengesackt und starb, noch ehe er den Boden erreicht hatte.
Die Schwester kam dazu, Formalitäten wurden erledigt und das nämliche Beerdigungsinstitut wie damals bei der Mutter beauftragt. Die Schwestern machten alles so, wie sie es ihren Vater seinerzeit für seine Frau hatten tun sehen, nur diesmal waren sie doch auf sich allein gestellt und konnten sich hinter keinem Erwachsenen mehr verstecken.
Und abends endlich, als der Vater abgeholt wurde, waren beide völlig hysterisch und außerhalb dieser Welt.

Eigentlich hatte Alina gedacht, sie würden ihren Vater noch Monate und Jahre pflegen. Als er aus dem Krankenhaus kam und ein paar Tage zuhause war, wurde klar, daß er nicht mehr allein bleiben konnte und daß auch ein Pflegedienst dreimal am Tag nicht genügen würde.
An einem Abend in der Woche vor seinem Tod kam sie und fand ihn auf seinem Sessel,
er hatte versucht, sein Hemd auszuziehen und es nur halb geschafft und steckte seit Stunden im Ärmel fest.
Während sie ihm half, sah er auf seine gewohnte Umgebung, die silbergerahmten Bilder mit Szenen aus glücklichen Zeiten, die vertrauten Möbel und seine geliebte Sammlung, die ihn hier wie überall im ganzen Haus, unzählige Regale und Vitrinen füllend, umgab, und sagte, wenn ich hier weg soll, das alles nicht mehr sehen soll, was soll ich dann noch auf der Welt.
Und Alina wollte plötzlich nach Hause und sagte, gleich kommt die Pflegerin und bringt dich zu Bett.
Als sie ins Auto stieg, kam ihr die brillante Idee, nachzuprüfen, wann genau diese Pflegerin denn einträfe. Sie stellte sich mit dem Wagen in eine Seitenstraße und beobachtete. Erst eine Dreiviertelstunde später kam der Wagen des Pflegedienstes, und ihr wurde klar, daß sie auch mit dem Vater zusammen im Haus hätte warten können.
Aber sie hatte es nicht getan.
Nein, sie hatte den alten Mann allein da sitzen lassen und ging, um Spielchen zu spielen.
Aber schlimmer noch war, daß sie einfach nicht wieder hatte hineingehen können, um mit ihm zu warten.

Und dann machte sich der Vater einfach davon.
Am Tag zuvor war Alina plötzlich entschlossen aufgebrochen und spätabends bei ihm erschienen. Die Pflegerin, die gerade da war – wieder nicht besonders früh, wie sie fand - hatte ihn mit ihrer Hilfe ins Bett gebracht, und er lag da, klein und weiß und verkrümmt, die Beine verkrampft und halb angezogen, als ob er friere, und dies Bild war bereits in ihrem Kopf vorhanden.
Er halluzinierte, war benommen von den Schmerzen, aber das Liegen schien ihm momentane Erleichterung zu bereiten.
Alina fuhr nach Hause, ihr Mann hatte Nachtschicht, und sie war allein im Bett und brach in Tränen aus und wußte nicht, warum sie weinte.
So hatte sie nur selten in ihrem Leben geweint.

Ihre Mutter starb im November, ihr Vater starb im Dezember.
Seitdem sind der November und der Dezember ihre dunklen Monate.
Kalte, traurige, starre, ohnmächtige Monate.
Schwarz wie die Schatten, in denen wir alle versinken werden.

Manche von uns stellen in dieser Zeit eine Kerze auf,
damit die Toten uns sehen können.

Alina stellt keine Kerze auf.
Sie macht weiter und wartet auf die Silvesternacht.
Da wird es wieder hell.
Und damit meint sie nicht das Feuerwerk.

Letzte Aktualisierung: 22.12.2008 - 18.39 Uhr
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