Der Tod aus der Teekiste
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Dezember 2008
Ayperi
von Karl-Otto Kaminski

Dirk schlug fröstelnd seinen Kragen hoch. Das war kein Wetter für einen Fußgänger. Die Straße führte durch verwildernde Industriebrachen und unter dem weitläufigen Bahngelände hindurch in die Nordstadt. Seit die letzte Firma hier geschlossen wurde, war sie bedeutungslos geworden. Aber sie blieb Teil seines täglichen Weges zu seiner Arbeitsstelle und zurück. An diesem nebligen Novemberabend schien er der Einzige zu sein, der sie benutzte.

„Denk an was Schönes!“, redete er sich in Gedanken zu. „Denk an Ayperi!“
Die sei heute krank gemeldet, hieß es in der Kantine. Aber warum? Gestern war sie doch noch ganz gesund gewesen, hatte ihm liebevoll zugelächelt, als er sich von ihr den Teller mit Bohneneintopf über den Tresen reichen ließ.
War da was im Busch in ihrer Familie? Ihre Eltern waren ja so furchtbar konservativ. Und Hüsam, Ayperis älterer Bruder, hatte sogar schon mal gedroht, sie umzubringen, wenn sie sich mit einem „dreckigen Ungläubigen“ einließ. Das hatte sie Dirk erst vor drei Tagen erzählt, bei einer ihrer heimlichen Treffen in der Stadtbibliothek.
Hüsam bedeutet „das scharfe Schwert“, hatte sie ihm erklärt. Auf diesen Namen sei er sehr stolz. Er war noch in der Türkei geboren und hielt eisern an den archaischen Ehrbegriffen des ländlichen Anatolien fest.
Aber nur, weil zwei Menschen unterschiedlichen Kulturkreisen angehören, kann man ihnen doch ihre Zuneigung nicht verbieten, dachte Dirk. Ihre Liebe war groß und echt, das fühlte er. Sie kannten sich jetzt seit über zwei Monaten, seit der Betriebsfeier im September.
Die schöne junge Frau hatte an der Veranstaltung teilgenommen, obwohl ihre Familie das zunächst ablehnte, zumal es erst ihr zweiter Arbeitstag in dieser Stellung war. Irgendwie aber hatte sie wohl erfolgreich ihren reizenden Kopf durchgesetzt.
Und Dirk, der aufstrebende Bürokaufmann, hatte sich sofort verliebt in die Küchenhilfe aus der Werkskantine. Abfällige Bemerkungen seiner Kollegen hatte er ignoriert. Sein Herz stand in Flammen. Die Neidhammel konnten ihn alle mal kreuzweise!
Der aufgesetzte Frohsinn der Veranstaltung war an den Beiden völlig vorbei gegangen. Ayperi hatte keinen Zweifel daran gelassen, das Dirk ihr auch sympathisch war. Sie hatten in einer Ecke des Festsaales gesessen, sich in die Augen gesehen und geredet, geredet …

Jetzt marschierte Dirk einsam durch das trostlose Schwarzgrau. Nebelschwaden schluckten die entfernten Geräusche der Großstadt, griffen mit nasskalten Händen nach ihm. Das Licht der schwachen Straßenlaternen hatte Mühe, den Boden zu erreichen.

Ihr Name sei schwer zu übersetzen, hatte Ayperi ihm erklärt und etwas verlegen die langen schwarzen Wimpern gesenkt. Er bedeute etwa „so bezaubernd wie der Mond“, behauptete sie. „Aber so bezaubernd bist du ja auch!“, hatte Dirk sich begeistert. „Du bist so schön.“ Den zweiten Satz hatte er ganz leise gesagt. So leise, dass es im Chaos der vielen angeheiterten Stimmen und der Konservenmusik eigentlich nicht zu hören war. Doch Ayperi hatte ihn gut verstanden. Das sagte ihm ein einziger Blick aus ihren nachtdunklen Augen.
Noch vor Ende der Veranstaltung waren sie damals aufgebrochen. Sie hatte sich verpflichten müssen, vor zehn Uhr zu Haus zu sein, wenn sie denn schon zu solch einem Fest ging ohne männlichen Schutz aus ihrer Familie. Und weil beide in der Nordstadt wohnten, somit ein gutes Stück den gleichen Heimweg hatten, konnte Dirk sie begleiten. Nicht bis vor die Haustür natürlich!

Wieso fuhr heute Abend eigentlich nicht ein einziges Auto hier entlang, kein Moped, nicht mal ein Fahrrad? Der Nebel schien die Straße aus der Stadt heraus gelöst zu haben und Dirk mit ihr.

Nein, er hatte sie nicht geküsst an jenem Abend, obwohl er es wahnsinnig gern getan hätte. Aber da war etwas in ihr, das ihn auf Distanz hielt. Keine Abweisung, keine ausgesprochene Bitte um Geduld oder so etwas. Er spürte ihre Zuneigung, glühte selbst vor Liebe, aber eine seltsame Scheu hatte ihn daran gehindert, Ayperi ohne ihr ausdrückliches Einverständnis einfach in die Arme zu nehmen.
Diese Zustimmung erhielt er vierzehn Tage später in einer Kabine des altersschwachen Aufzugs im Verwaltungsgebäude der Firma, in der sie jetzt beide arbeiteten. Der war freundlicherweise zwischen dem sechsten und siebten Stock hängen geblieben. Für wunderbare sieben Minuten waren sie allein auf der Welt und unbeobachtet. Die unbeschreibliche Wärme ihrer Umarmung und ein paar Dutzend leidenschaftlicher Küsse hatten Dirk das Gefühl gegeben, dem Himmel wirklich nahe zu sein.

Über dieser dunklen Straße gab es keinen Himmel. Das fahle Laternenlicht hatte sich endgültig in grauem Brei verloren. Der Gehweg war nur noch zu erahnen. Dirk fühlte sich unendlich einsam. Die Nebelfeuchte kroch deprimierend in seinen hoch geschlagenen Kragen.

Ayperi war in Deutschland geboren, hatte die mittlere Reife und sprach kaum Türkisch. Ärztin wäre sie gern geworden. Aber dazu würden ihre Eltern und ihr älterer Bruder nie die Zustimmung geben. Wozu sollte so was auch gut sein? Sie, eine attraktive junge Frau, war doch dazu bestimmt, zu heiraten, einen Gläubigen türkischer Herkunft natürlich, ihm zu gehorchen und viele Kinder zu bekommen. Ihre Versuche, sich weiterzubilden und eine interessante Arbeit zu bekommen, wurden von der Familie torpediert. Also jobbte Ayperi hier und da als Reinigungskraft oder Küchenhilfe. Zurzeit gab sie halt Essen aus in der Betriebskantine.

Dirk seufzte sehnsüchtig, steckte seine klammen Hände tief in die Manteltaschen und ging etwas schneller.

Bei ihren heimlichen Treffen in der Stadtbibliothek hatte er ihr immer wieder geschworen, sie aus der Umklammerung ihrer Sippe herauszuholen. Hatte versprochen, sich so bald wie möglich in den USA eine Stelle zu suchen, sie einfach dorthin mitzunehmen … Aber Ayperi hatte zu seinen euphorischen Plänen stets nur etwas traurig gelächelt und geschwiegen.

Auch die Unterführung war schlecht beleuchtet. Aber bis hier herunter hatte sich der Nebel noch nicht geschlichen. In den Nischen zwischen den eisernen Streben der Brückenkonstruktion knüllten sich achtlos weggeworfene Papiertaschentücher, vergammelten Reste von Zeitungen und Prospekten. Die grauen Betonwände waren mit Graffiti beschmiert, obwohl die phantasielosen Tags hier unten sicher niemand zur Kenntnis nahm. Die feuchte Novemberluft roch unangenehm nach Urin und Abfall. Dirk hasste diesen schier endlosen dunklen Tunnel. Das Dröhnen eines Zuges über ihm übertönte das leise Rascheln der wenigen welken Blätter, die der Sturm vorgestern von den Bahndämmen bis hier herunter geweht hatte.
Klang das Echo seiner Schritte heute anders als sonst? Dirk meinte Geräusche zu hören, die nicht zu dem normalen Widerhall seiner Sohlen passten. War er nicht allein hier? Wurde er verfolgt? Er beschleunigte seine Schritte. Das Echo auch. Er blieb einen Augenblick stehen. Das Echo verstummte.
Vorsichtig drehte er sich um. Aber da war nichts. Nichts als eine hässliche dunkle Unterführung voller Gestank und Abfall. Und mit vielen Verstecken, in denen jemand sich unsichtbar machen konnte. Lauerte dort der Mann, der unbedingt verhindern wollte, dass seine Schwester sich mit einem „dreckigen Ungläubigen“ einließ? Warum war Ayperi heute nicht zur Arbeit erschienen? Hatte Hüsam womöglich schon etwas unternommen? Und wenn ja, was? Um Himmels Willen!
Angst begann Dirk zu würgen. „Nichts wie raus hier! Weg aus dieser stinkenden Gruft!“, dachte er und begann zu rennen, auf die Kreuzung zu mit der Tankstelle, deren verheißungsvolles Licht am Ende der Unterführung durch die zähen Nebelschwaden schimmerte.
Das Echo holte ihn ein. Ein spitzer, kalter Schmerz stahl sich unter sein linkes Schulterblatt. „Ayperi!“, dachte er, als der schmutzige Asphalt ihm entgegen stürzte. „Liebste Ayperi!“
Das Herausziehen des Messers nahm er nicht mehr wahr.

Letzte Aktualisierung: 21.12.2008 - 18.40 Uhr
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