Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Dezember 2008
Vier über Null
von Janine Gimbel

Die kühle Luft schlägt mir entgegen, als ich mich aufrappele. Eisige Grade nahe dem Nullpunkt, Tropfen laufen die Wände hinunter. Der Versuch ist misslungen, ein weiteres Mal gescheitert. Shallot ist neben mir zum Liegen gekommen und hat sich bisher nicht wieder vom Boden erhoben. Sie wird bei dem Sturz kaum Schaden genommen haben, es muss die Demütigung sein, die sie erstarren lässt.

Alles hatte ich bestens geplant. Wir warteten, bis die anderen eingeschlafen waren. Dann erst setzten wir unsere Flucht in die Tat um.
Seit Ewigkeiten dauerte unser Zustand bereits an. Zu bemängeln war nicht einmal die Kälte, die jegliche Form der Bewegung erschwerte. Nein, was uns wirklich zusetzte, war die Finsternis, die in unregelmäßigen Abständen von einem künstlichen Lichtschein durchbrochen wurde. Meist für Sekunden, woraufhin uns die Schwärze erneut umfing. An die Sonne hatte ich nur verschwommene Erinnerungen. Ihre Wärme war seit langem verflogen. Manchmal glaubte ich sogar, dass ich sie mir eingebildet, ja, dass sie nie existiert hatte.

„Shallot?“, bringe ich zögernd hervor, „Komm, wir können nicht ewig hier bleiben, lass uns zurückgehen. Es hat alles keinen Sinn ...“
„Keinen Sinn?“ Ihre Antwort ist ein dumpfer Klang, noch immer liegt sie reglos vor mir. „Du willst derart schnell aufgeben?“ Schnelligkeit ist relativ. Einige Tage müssen bereits vergangen sein, an denen wir Ausbruchversuche gewagt haben. Man verliert in dieser Dunkelheit jegliches Gefühl für die Zeit.

Quasi über Nacht sind wir in Gefangenschaft geraten. Tags zuvor schien alles normal: Menschen liefen geschäftig durch die Gänge, Musik ertönte zu unserer Unterhaltung. Ganz plötzlich begann alles zu rotieren, die Welt geriet aus den Fugen. Erschütterungen, Aufruhr, das Licht drang schwach zu mir vor. Nachdem ich wieder zu mir kam, war ich hier in der ewigen Nacht, eingekerkert und meines freien Willens beraubt. Ich war nicht der einzige Neuling, auch Shallot befand sich unter den Unglücklichen.
Manche nahmen es hin, blickten tatenlos ihrem Schicksal entgegen.

Nicht wir. Seit unserer Ankunft haben wir die meiste Zeit mit Gedanken an Flucht verbracht. Nach drüben sollte sie gehen. Raus in die Freiheit.
Ich will diesen Zustand nicht akzeptieren, wie es Müller und Ehrmann tun. Im Halbdunkel kann ich nur ihre Schemen erahnen. Sie stehen wie angewurzelt dort, warten. Aber Warten allein löst unser Problem nicht.

Einige sind bereits verschwunden, immer wenn die alles verriegelnde Tür aufgerissen wurde, die Helligkeit von drüben uns blendete. Wenn man die Luft spüren konnte, die so anders war als jene, die wir zu atmen gezwungen waren.
Chester war der erste, der abhanden kam. Wir hatten uns angefreundet, obwohl der robuste Kerl zugegeben von einem seltsamen Geruch begleitet wurde. Sekunden zuvor unterhielten wir uns in leisem Tonfall über die Zustände, denen wir uns gegenübersahen, und machten unserem Unmut Luft. Da wurde ganz unvermittelt die Tür aufgerissen. Im nächsten Augenblick war Chester wie vom Erdboden verschluckt. Lediglich der immer noch gegenwärtige Gestank erinnerte an ihn.
Aus dem Vorfall entwickelte ich Theorien und äußerte diese vor Shallot, der ich am meisten vertraute. „Sie beschatten uns?“, lachte sie über meine Mutmaßungen. „Porrum, warum sollten die das tun?“
„Totale Überwachung“, zischte ich. Nicht unbedingt die Antwort auf ihre Frage. „Beschwerst du dich, bist du weg vom Fenster. Wir dürfen gar nicht so offensichtlich über die Sache sprechen. Ich glaube, Müller hört mit!“ Gegen den Typen hegte ich seit unserem ersten Zusammentreffen Misstrauen. Er war seiner Ansicht nach ein Beweis von Perfektion, eine schlanke, hoch gewachsene Gestalt, mit der er den Damen den Kopf verdrehte. Shallot wurde unruhig, schaute skeptisch zu ihm hinüber. Da wusste ich bereits, dass ich sie für meine Sache gewinnen konnte. Wir würden fliehen, gemeinsam. Diese Mauer, dieses Gefängnis, das um uns errichtet worden war, konnten wir nicht hinnehmen!

Shallots Frage kommt mir wieder in den Sinn. Will ich aufgeben? Meine Leidensgenossin hat sich aufgerichtet, eine Aura der Entschlossenheit umgibt sie. „Na gut, werde ich eben ohne dich flüchten!“
„Nicht so laut!“ Erfolglos versuche ich, ihren Übermut zu bremsen. „Du weißt, dass ich dich nie allein gehen lassen würde. Wir bleiben zusammen.“
Sie nimmt mich beim Wort und wir setzen unser Werk fort. Der mühsame Aufstieg steht uns erneut bevor. Die Wände sind mit Furchen versehen, an denen man nach oben klettern kann. Hoch hinaus, bis zur obersten Etage, wo die meisten anderen nicht mehr zu sehen sind, weil die Finsternis sie verschluckt. Ein Blick nur, durch die Gitter nach unten gerichtet. Ich bin ein König, der über ihnen allen thront.
Und dann kommt der Moment.
Der Moment, der über das Gelingen der Aktion, das Schicksal, entscheidet.
Ein waghalsiger Sprung, ein banger Augenblick in der Schwebe. Schließlich der harte Aufprall gegen die Wand, die uns von der anderen Seite trennt. Mit ein bisschen Glück ... Freiheit! Ja, wenn alles gut geht, springt der Mechanismus auf, der Weg wird offen sein. Schluss mit der Eiseskälte!
„Bereit?“ So entschlossen Shallot auch sein mag, vor mir kann sie ihre Aufregung nicht verbergen. Ich stimme zu, wappne mich für den Satz nach vorne. „Jetzt!“

... So aufregend wie das erste Sonnenlicht, wenn man als Keimling endlich die Erdschicht zerbrochen hat. Wirklich frei, ein Blatt im Wind ...


„Das darf doch nicht wahr sein! Wer hat denn schon wieder den Kühlschrank offen gelassen?“

Letzte Aktualisierung: 22.12.2008 - 18.42 Uhr
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