Bitte lächeln!
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Dezember 2008
Die Dunkelheit wird kommen
von Eva Fischer

Der Fahrtwind streift sanft über mein Gesicht. Ich trete in die Pedale. Meine Muskeln sind angespannt.
Ich kenne den Weg, bin ihn schon hunderte Male gefahren. Ich hoffe, der Weg hat sich nicht verändert, der Sturm hat keinen Ast auf den Boden geworfen, über den ich stolpern werde.
Ich habe Angst.
Schatten lösen sich von den Bäumen. Sie kommen mir auf dem engen Waldweg entgegen. Wenn sie mir nahe sind, werde ich sie erkennen können. Werde ich ihnen rechtzeitig ausweichen können oder werden sie mich zu Fall bringen?
Ich habe Angst.
Ein wütendes Klingeln schreckt mich hoch. Umgeben von Schwarz erkenne ich eine Fratze.
Ich lächle. Das wird sie beruhigen.
Seit längerem erkenne ich sie nur an ihren Stimmen, aber die mir hier entgegen kommen, sprechen nicht.

Ich will mein gewohntes Leben nicht aufgeben.

Jeden Tag fahre ich diesen Weg zu meiner Arbeit. Ich bin Lehrerin und liebe meinen Beruf.
Ich stelle mein Fahrrad an der gewohnten Stelle, an einer Hausmauer unweit der Schule, ab.
Stimmengewirr empfängt mich. Ich höre ein freundliches „Guten Morgen, Frau Müller.“
Das ist Kevin aus der 7a. Gleich werde ich ihn in Geschichte unterrichten.
Vorsichtig betrete ich das Schulgebäude. Die steinernen Stufen sind zuverlässig. Sie sind 50 Jahre alt, so alt wie diese Schule, so alt wie ich.
Im Lehrerzimmer rieche ich den Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee. Heute verzichte ich auf eine Tasse Kaffee, denn ich weiß nicht mehr genau, wo ich meine Tasse gestern hingestellt habe, stattdessen lasse ich mich auf ein Gespräch mit einem Kollegen ein.
Kevin hat gestern seine Englischhausaufgaben nicht gemacht, es aber erst zugegeben, als es zu spät war. Mein Kollege hatte unerwartet eine Stichprobe gemacht.
Nun erwägt er einen Tadel für Kevin. Ich bin die Klassenlehrerin, werde ihn unterschreiben müssen. Vorher werde ich das Gespräch mit Kevin suchen.
Die Tür zur 7a steht offen. Stühle werden gerückt. „Guten Morgen, Frau Müller!“ ertönt es im Chor. Wieder Stühle rücken, dann setzen sich 27 Schüler.
Unser Thema ist das finstere Mittelalter, der Gang nach Canossa von Heinrich IV. „Nur mit einem Büßerhemd bekleidet, stand er, der König, bei Schnee und Eis vor der Pforte des Papstes und bat um Einlass. Könnt ihr euch das vorstellen?“
Unwilliges Raunen. Nein, meine Schüler verstehen den König nicht, wissen nicht um die Macht eines Bannes, der den König aller Macht beraubt.
Ich taste nach meinem Geschichtsbuch und führe es nah an meine Augen. „Schlagt Seite 35 auf und beantwortet die Fragen schriftlich.“
Sie leisten keinen Widerstand, auch wenn ich dem Gemurmel entnehme, dass es sich mehr um Partnerarbeit als um Einzelarbeit handelt. Teamarbeit ist die Zukunft, denke ich lächelnd.
Mein Gehör hat sich in letzter Zeit verbessert. Das wissen auch die Schüler, aber mein Sehen verschlechtert sich zusehends.
Seit meiner Kindheit bin ich stark kurzsichtig. Die Brille tauschte ich später gegen Kontaktlinsen aus. So sehe ich nicht mehr wie ein Monster aus, über das sich meine Spielkameraden einst lustig machten.
Meinen persönlichen Gang nach Canossa habe ich hinter mir. Ich ging von Arzt zu Arzt, suchte diverse Spezialisten auf. Meinen Bann konnten die weißen Päpste nicht lösen. Sie stellten immer die gleiche Diagnose. „Frau Müller, Sie leiden an einer Netzhautablösung, ablatio retinae. Stellen Sie sich darauf ein: Sie werden erblinden. Aber mit Ihrer Krankheit können Sie lange leben“, fügten sie aufmunternd hinzu.
Nach der Stunde rufe ich Kevin zu mir. „Du kannst dich nicht durch das Leben pfuschen. Du musst den Dingen ins Auge sehen, sonst machst du alles nur schlimmer.“ Aus den Umrissen seines Gesichtes sehe ich wache Augen auf mich gerichtet. Ungläubig.
In seinem Alter sah ich auch die Welt mit anderen Augen. Da gab es noch das Spiel mit der Dunkelheit, da versteckten meine Brüder und ich uns im Spätherbst im Wald. Die Verbote der Eltern kümmerten uns wenig. Gewonnen hatte der, der die schaurigsten Gruselmärchen erzählen konnte, der, der seine Angst besiegte.

Der Schulleiter hat mich in der großen Pause zu sich bestellt. „Frau Müller, ich weiß, dass Sie gern unterrichten, aber so leid es mir tut, Sie müssen Ihre Frühpensionierung einreichen. Ich kann die Verantwortung für Sie und die Schüler nicht mehr übernehmen.“
Wie ein geprügelter Hund schleiche ich mich durch das Lehrerzimmer. Die Blicke der Kollegen folgen mir, halb mitleidig, halb neidisch. Frühpensionierung würde ihnen gefallen, Blindheit weniger.
Wie kostbar ist mir das, was ich nun für immer verlieren werde.
Ich werde keine Bücher mehr lesen können, nur noch mit den Stimmen aus den Hörbüchern vorliebnehmen müssen.
Im nächsten Frühling werde ich die Blumen in meinem Garten nicht mehr sehen, aber die Erinnerung wird bleiben, ihr Duft, die Berührung.
Ich mache mich auf dem Heimweg. Noch sind die Schüler in der Schule, noch setzen sie nicht mit ihren Rädern zu gewagten Überholmanövern an, noch bin ich relativ sicher.
Leichter Sprühregen hüllt mich ein und vermischt sich mit meinen Tränen.

Letzte Aktualisierung: 01.12.2008 - 08.59 Uhr
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