Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
Klaus, der Trottel von Hausmeister des Trainingszentrums, hatte ihm nichts ahnend den Tipp des Jahrhunderts gegeben.
„Okay, Mädels, zum letzten Mal: ihr wehrt euch mit aller Kraft, ohne Rücksicht auf mich, ich werde auch nicht zimperlich mit euch umgehen! Ihr gebt alles, einfach alles, kapiert? Nackte Selbstverteidigung, klar? Anissa?“
Oh, wie sie es hasste, besonders hervorgehoben zu werden. „Ja, ja“, murmelte sie.
„Lauter, Anissa!“
„Ja, Danny!“
„Schrei mich an!“
Peinlich berührt sah sie sich in der Bar, in der sie sich getroffen hatten, um. „Ja, Danny!“. Einige Köpfe wandten sich erstaunt in ihre Richtung.
„Davor läuft keine Maus weg. Schreien sollst du! Wie willst du gleich im Wald die nötige Aggressivität aufbringen, wenn du nicht mal laut werden kannst?“
Die anderen Teilnehmerinnen verdrehten entnervt die Augen.
Hochrot im Gesicht holte Anissa tief Luft: „JA, DANNY!“
„Schon besser. Ina, du kommst als Erste. Anissa, du bist als Zweite dran, dann Alexa, dann Evelyne und zuletzt Britta. Ich gebe den wartenden Mädels jeweils über Handy Bescheid, wann sie losgehen können. Abgang in zwanzig Minuten, Ina! Also, bis dann.“
Er wusste genug, legte einen Fünfer auf den Tisch und verließ unbemerkt die Bar.
Ina, Alexa, Evelyne und Britta machten es sich an einem der Tische gemütlich und steckten die Köpfe zusammen, während Anissa zögerlich an der Theke stehen blieb. Kurz darauf verabschiedete sich Ina und ging zur Tür. „Zeig’s ihm, Ina!“, rief Evelyne, und die Mädchen johlten und pfiffen.
Er musste schnell sein, schnell und präzise. Der Nervenkitzel macht ihn hellwach und sein Gehirn arbeitete hochkonzentriert und zielstrebig.
Anissa blickte Ina hinterher und knetete ihre Hände. Wäre dieser Abend doch vorbei! Sie sehnte sich nach den starken Armen von Oliver. Obwohl, der hatte sie in diese Situation gebracht, eigentlich sollte sie ihm böse sein. Seit er diese Ausbildung zum Polizisten machte, war er wie besessen von der Idee, ihr könne etwas zustoßen. „Du bist das ideale Opfer“, war seine ewige Rede. „Sanft, lieb, zurückhaltend … und hübsch natürlich, mein Elfchen. Du bist auf das wahre Leben nicht vorbereitet. Du solltest einen Kampfsport lernen!“
Anissa schob das unbequeme Thema weit von sich. „Es ist ja nicht, als wohnten wir in einer Großstadt! Außerdem habe ich doch dich!“ Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln.
Als Oliver merkte, dass seine Mahnungen nicht fruchteten, meldete er sie kurzerhand zu einem Selbstverteidigungskurs an. “Da gehst du hin, und wenn ich vor der Tür Wache stehen muss!“
Den theoretischen Teil des Kurses fand sie interessant. Der praktische Teil war ein Reinfall. Sie war unfähig, laut zu werden, bestimmt aufzutreten, Aggressivität aufzubringen. Danny, der Trainer, schüchterte sie ein mit seinem knappen Sprachstil und seiner forschen Art. Es dauerte nicht lang, da hatte er sich auf sie eingeschossen. „Prinzessin, du trainierst mit mir!“, rief er meist, während die anderen Teilnehmerinnen die Techniken untereinander ausprobierten und erstaunlicherweise viel Spaß dabei hatten. Sie selber mochte sich keine unweiblichen Verhaltensweisen aneignen und keine Begeisterung dafür aufbringen, andere auf eine schmutzige Matte zu werfen. Sie mochte am allerwenigsten lernen, Männer dahin zu treten, wo es sie am effizientesten außer Gefecht setzt. „Verflixt, Anissa, wenn ich Olli nicht versprochen hätte, dich fit zu machen, ich hätte längst aufgegeben. Du bist ein hoffnungsloser Fall. Los, noch mal, mit etwas mehr Einsatz bitte!“
Als Anissa bewusst wurde, dass Danny nicht lockerlassen würde, begann sie, das Verhalten der anderen Teilnehmerinnen zu kopieren, und Selbstvertrauen und Aggressivität zu schauspielern, die sie nicht empfand. Hauptsache, sie hatte bald wieder ihre Ruhe.
Endlich meinte Danny: „Prinzessin, du bist nie hundertprozentig bei der Sache. Aber das wird! Nächste Woche machen wir als Abschlusstraining eine Real-life-Erfahrung. Du wirst sehen, das lockt sogar dich aus der Reserve. Ihr geht im Dunkeln eine vorgegebene Strecke durch den Wald, und irgendwo werde ich euch überfallen. Da könnt ihr zeigen, was ihr bei mir gelernt habt!“
Der aufdringliche Ton des Handys riss sie aus ihren Gedanken. „Anissa, du kannst los!“, rief Alexa ihr zu. Mit weichen Knien verließ sie die Bar, ging Richtung Waldrand und zwang sich aus dem Lichtkreis der letzten Straßenlaterne heraus. Am liebsten würde sie hier und jetzt abbrechen. Ein Fluch über sämtliche Männer und ihre Hartnäckigkeit!
Adrenalin kochte in seinen Adern, sein Herz pochte in einem schnellen Rhythmus, der ihn veranlasste, ständig vor sich hin zu summen: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen… .Erst den Trainer, dann das Mädchen!“ Er gackerte leise über seinen eigenen Witz.
Der Mond schien, und als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie einige Schritte weit sehen. Hinter den Bäumen am Wegesrand gähnte die schwarze Nacht. Eine Eule rief. Anissa zuckte zusammen und blickte wild um sich. Mit flatternden Händen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. „So geht das nicht!“, mahnte sie sich selbst, „das ist doch nur eine Übung!“ Sie atmete tief in den Bauch, wie Danny immer gesagt hatte. „Kopf hoch, Schultern zurück!“ Mühsam entkrampfte sie ihre Muskeln und richtete sich auf. „Fest und bestimmt auftreten!“ Sie stampfte bei jedem Schritt auf den weichen Waldboden. Ihre Angst wich. „Na also!“, sagte sie, lauter diesmal. Ihre Stimme klang schon fester.
Freudige Erwartung prickelte in seinen Eingeweiden. Zu wissen, dass sie kämpfen würde, machte ihn scharf, richtig scharf. Er fühlte sich lebendig, stark, wie eine Raubkatze.
Anissa schritt immer beherzter durch den Wald. Sie würde diese Geschichte hinter sich bringen, und zwar mit soviel Anstand und Würde, wie sie aufzubringen vermochte. Sie würde Danny überraschen, all ihre Kraft und Konzentration einsetzen. Wenigstens einmal sollte er sie loben und es
dabei ehrlich meinen! Und dann Schluss mit dieser nervtötenden …
Da, eine Bewegung! Sie erstarrte und verpasste den Moment, sich in eine gute Abwehrposition zu bringen. Der Schatten sprang sie an wie ein Panther. Hatte Danny im Training fest und bestimmt zugefasst, packte er sie jetzt brutal und rücksichtslos. Der Schmerz brachte Anissa endlich dazu, sich zu wehren. Sie wand sich, kratzte, trat um sich, erst wahllos, dann gezielter. Seine Grobheit machte sie wütend. Zwischen „nicht zimperlich“ und dieser Rohheit lag ein himmelweiter Unterschied!
„Ja, wehr dich, Herzchen, komm schon Baby!“ Danny spielte seine Rolle wirklich gut, sogar seine Stimme klang überdreht und widerlich geil. Das peitschte ihre Angst neu auf. Sie verdoppelte ihre Bemühungen, aber auch ihr Angreifer ging rabiater zu Werke. Er zerrte sie vom Weg ab, schleuderte sie zu Boden und warf sich auf sie. Ihre Rippen krachten schmerzhaft, sie hatte bestimmt Kratzer und blaue Flecken am ganzen Körper. Aufgebracht versuchte sie, ihn wegzustoßen. Sie stieß auf bullige Muskelmasse. Er fühlte sich nicht an wie Danny. Verdammt, er fühlte sich nicht an wie Danny! Fauliger Atem, irres Lachen. Sie hörte den Stoff ihrer Kleidung reißen. Nein!!!
An das, was im Anschluss geschah, erinnerte sie sich nur bruchstückhaft. Keuchen, Schmerzenslaute, Schläge, Stöße, grabschende Hände überall. Irgendwann fand sie sich mit stechenden Lungen auf dem Waldweg wieder, sie lief und lief und lief, bis sie schließlich schluchzend die Stadt erreichte, die Bar, Sicherheit.
Sie war davongekommen. Dannys Körper wurde im Morgengrauen von einem Suchtrupp gefunden.
Letzte Aktualisierung: 14.12.2008 - 20.01 Uhr Dieser Text enthält 7756 Zeichen.