'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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Dezember 2008
Gefangen
von Olga Sanockaja

„Weg! Nichts wie weg hier!“, war sein einziger Gedanke. Aber wohin? Er saß fest. Vor ihm flackerten unentwegt die roten Lichter auf, die das Rückgrat einer riesigen Würgeschlange zu markieren schienen.

Unsichtbar war der Leib dieses Ungeheuers, das sich in der Dunkelheit wand, und nur die glühenden Punkte auf seinem Rücken verrieten seine unheilvolle Präsenz.

Er blickte in den Rückspiegel: Wie pupillenlose Augen starrten ihn Scheinwerfer des hinteren Wagens an – unbeteiligt, mit der Gelassenheit eines Mörders, der sich an der Ohnmacht seiner Opfer labt.

„Das ist nicht wahr. Das hätte nicht passieren dürfen!“, pochte in seinem Kopf. Und dieser stumpfe Schmerz strahlte in seinen Hals und die Schultern aus, kroch langsam über seinen Rücken, umschlang seine Brust und bohrte sich in den Magen, wo es, bevor es versickert war, das Gefühl der Übelkeit hinterließ.

Sein Brustkorb hob und senkte sich immer schneller, und doch bekam er nicht genug Luft. Im verzweifelten Versuch, die Blockade seiner verkrampften Lungen zu durchbrechen, legte er den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund.

Ihm wurde heiß. Sein Gesicht war schweißbdeckt. Der ekelhafte Schweißfilm legte sich auch auf seine Hände und ließ die Finger, die das Lenkrad umklammerten, herunter gleiten.

„Es hätte nicht passieren dürfen“, flüsterte er. War doch der Verkehr mit Ampeln vor der Einfahrt geregelt. Die Ampel stand auf grün, als er in den Tunnel fuhr. Nur neun Minuten trennten ihn von seinem Ziel, dem anderen Ende dieser Betonröhre. Nur neun Minuten - und er hätte wieder den Tag begrüßen können. Er wäre weitergefahren, durch die malerische Berglandschaft, die von der Frühlingssonne liebkost wurde. Er wäre gegen zwölf Uhr angekommen, hätte seine Präsentationsmappe auf dem Glastisch des Kunden ausgelegt, die Worte, die schon hunderte Male über seine Lippen gegangen waren, in einstudierter Überzeugungsmanier rezitiert. Dann hätte er in einem heimeligen Restaurant zu Mittag gegessen und wäre nach Hause gefahren. Vielleicht mit einem neuen Auftrag in der Tasche…

Hatte er da vorne, durch die Nebelwand, die sich vor seinen Augen erhob, etwas gesehen? Die Luft schien zu flimmern, graue Schlieren zogen sich zusammen und wurden immer dichter. Etwas passierte dort, etwas, was er nicht verstehen konnte. Etwas kam auf ihn zu. Die roten Lichter wurden heller und verwandelten sich schließlich in scharfkantige Sterne.

Das Licht war so grell, dass er seine Hand schützend vor den Augen strecken musste. Es war nichts zu erkennen, außer diesem Leuchten. Und da, wo die Strahlen gebrochen wurden, legten sich tiefe Schatten, die ihr eigenes Leben führten.

Horrormeldungen aus der Presse und dem Fernsehen tauchten in seinem Kopf auf und schwammen dort an der Oberfläche der sumpfigen Masse, die seine Gedanken bildeten. „Feuer im Tunnel“, „Erstickt“, „Verbrannt“, „Verkohlt“.

Es gab keinen Ausweg. Er war in diesem zuckenden Körper, dessen Umrisse sich in der Finsternis verloren, gefangen. Unklare Schemen traten aus dieser Finsternis hervor und verschmolzen zu bizarren Bildern. Sie waren wie Geister. Sie umstellten ihn und kamen immer näher. Übermächtig und sich ihrer Beute sicher. Und wie gelähmt saß er in seinem Wagen, vergiftet war sein Verstand und unfähig, die Flucht zu ergreifen.

Er glaubte in den Schatten einzelne Gesichter zu sehen. Verzerrt und hasserfüllt, waren sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Verkrümmte Auswüchse stülpten sich aus den grauen Schwaden hervor und traten ihren Weg zu ihm an. Kalte Finger legten sich um seine Kehle.

„Nein!“, schrie er.

Die Nebelwand stürzte ein, und nun blickte er in seine eigenen wirren Augen im Rückspiegel.

„Ich habe Angst“, sprach er zu seinem Spiegelbild.

„Wovor denn?“, kicherte eine leise Stimme.

Die Stimme gehörte zweifellos einem der Geister, die ihn umschwebten.

„Vor der Dunkelheit.“

Er spürte, wie sein Bein zu zittern begann und sein Fuß vom Bremspedal rutschte.

„Handbremse. Wo ist die Handbremse?!“ Er zog den Hebel mit aller Kraft nach oben. Noch nie kam ihm das rackernde Geräusch des Mechanismus so melodisch vor.

Erleichtert nahm er die beiden Füße von den Pedalen. Glucksend quittierte der Motor diesen Vorgang und ersoff. Das Auto zuckte zusammen.

„Der Gang! In den Leerlauf schalten… Wo ist der Zündschlüssel?“ Seine bebende Hand zuckte zwischen dem Schalthebel und dem Lenkrad und fiel dann kraftlos auf sein Knie.

„Es ist sinnlos“, stellte die Stimme, die an Kraft gewonnen hatte, fest. „Du kommst hier nie wieder raus. Es ist ein Massengrab. Ein Sarkophag.“

Sarkophag. Ja, das war es. Er roch sogar den modrigen Staub, der die Wände auskleidete. Die roten Lichter vor ihm gingen eins nach dem anderen aus – das Ungeheuer starb. Die Nacht zog in diese makabre Stätte ein, wo die Zeit stehen geblieben war.

„War das alles?“, fragte er die Stimme.
„Ja“, meinte diese apathisch.

Er legte die Arme auf das Lenkrad und presste seine Stirn darauf.

Nach und nach verschmolz er mit der Nacht, die um und in ihm herrschte. Die Angst war verschwunden. Und auch kein anderes Gefühl regte sich in seiner Seele, die auf Wanderschaft durch die Dunkelheit gegangen war…

Ein lautes Hupen ließ ihn aufschrecken. Er blickte durch die Frontscheibe und sah, dass sich die Schlange vor ihm in einen dunkelgrauen Streifen verwandelt hatte. Es gab keine roten Lichter mehr und die Scheinwerfer seines Wagens leuchteten in die Leere.
Der Weg war frei. Er drehte den Zündschlüssel um und fuhr langsam los.

Als er den Tunnel verlassen hatte, fuhr zu der ersten Tankstelle aus, suchte eine Telefonzelle und sagte seinen Kundentermin ab. Danach aß er im Bistro zu Mittag, stieg wieder in sein Auto und fuhr nach Hause. Dieses Mal nahm er die Straße über den Pass.

Letzte Aktualisierung: 17.12.2008 - 20.55 Uhr
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