Madrigal für einen Mörder
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Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Dezember 2008
Zwei Kerzen
von Thomas Jaenecke

Es brannten nur zwei Kerzen im Zimmer. Pema schloss die Augen und fing zu beten an, wie sooft. Das Schwarze vor ihren Augen – es war ihr so sehr vertraut. Sonderbar.

Waren es drei oder vier Monate gewesen, damals, als es kein Licht mehr gegeben hatte? Als man sie wegsperrte davon. Als es eine Qual war, im Licht zu sein. Nein, nicht nur eine Qual. Viele Qualen waren es, viele.
Nur zu den Verhören hatte man sie zurück in die Welt des Lichts geholt. Schon das war Folter. Ihre Augen schmerzten beim grellen Schein der Neonröhren, tränten, während die anderen lachten. Damit war es nicht genug. Damit war ihre Qual nicht beendet. Damit fing ihr Leiden erst an. Sie schlugen sie nieder und traten sie mit ihren kantigen Stiefeln. Sie rissen an ihren Haaren und zwangen sie, auf spitzen Holzkeilen niederzuknien. Sie schoben ihr Bambussplitter unter die Fingernägel, bis es rot von ihren Fingern tropfte, und die anderen ihre Schreie nicht mehr hören wollten. Dann brachten sie Pema zurück in die Dunkelheit. Dort lag sie mit brennenden Fingern, mit schmerzenden Knien, mit einem gequälten Körper. Aber wenigstens gab es Ruhe für ein paar Stunden, oder – wenn sie Glück hatte – für eine Nacht.
Ihre Augen waren oft nass, aber jedes Mal wurden sie getrocknet von den Bildern ihrer Kindheit – einer Kindheit des Glücks. Sie sah einen Film, in dem sie die Heldin war auf einer Leinwand, die irgendwo zwischen ihr und der Zimmerdecke schwebte. Bilder von grünem Gras und von den Bergen, von einem strahlend blauen Frühlingstag und von einer Nacht mit Sternen; vom Spiel mit der Schwester.
Nach drei Monaten, nach vier Monaten als ihre Augen wieder lernen mussten, was Tageslicht ist, war die Dunkelhaft und damit die schrecklichste Zeit vorbei. Gedemütigt wurde sie weiterhin, aber wenigstens konnte sie jetzt das Licht des Tages atmen, das durch ein kleines Fenster ihrer Zelle drang. So vergingen die Jahre, so verging ein Teil ihres Lebens. Wieviel davon? Die Hälfte, ein Drittel? Irgendwann ließ man sie frei mit dem erpressten Versprechen, über Dunkelhaft und Folter zu schweigen.
Wie freute sich ihre Schwester, als Pema in das elterliche Haus zurück kam, in das Dorf ihrer gemeinsamen Jugend. Sie waren einander immer sehr nahe gewesen; auch über Gefängnismauern hinweg. Und doch konnten die beiden Schwester unterschiedlicher nicht sein. Während Pema zusammen mit ihrem Vater und ihren Brüdern gegen die chinesischen Besatzer gekämpft hatte, hatte sich Dolkar mit der Mutter in den Bergen versteckt und als der Kampf verloren war ein einfaches aber bäuerlich gesundes Leben geführt.

Pema betete zu Seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama. Sie betete für ihre Schwester. Sie betete für ihr Volk. Sie schlug die Augen auf. Die beiden Kerzen waren fast niedergebrannt. Zwischen ihnen lag die Schwester auf einem einfachen Bett, als würde sie schlafen. Pema hätte nie gedacht, dass sie zuerst gehen würde. Sie betrachtete ihr Gesicht und schob ihr eine graue Haarsträhne zurück. Sie wartete bis die Kerzen erloschen. Erst in drei Stunden würde der Morgen grauen.

© Thomas Jaenecke

Letzte Aktualisierung: 17.12.2008 - 15.53 Uhr
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