Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
Der Garten – wie immer am Ende des Sommers – ein seltsamer Abschied. Vom Ort. Von der Zeit. Von mir an diesem Ort – dem Haus.
Die Wolken – das Loch im Himmel wie ein Auge – die alte, hohe Tanne vor dem Haus, die schlank gewachsenen Birken dahinter - Das Rauschen der Birkenblätter im Wind. Und kein Zug mehr, der hinter dem Garten vorbeifährt – dort – im breiten Schienengraben, nur drei Meter hinter dem Gartenzaun – dort – wo noch die alten verrosteten Gleise liegen.
Aber vor allem ist da – das Haus. Und die Dunkelheit, die es von Anfang an umgeben hat , so scheint es, ist eher noch stärker geworden, schwärzer, geheimnisvoller.
Es ist da diese ganz bestimmte Atmosphäre im Haus. Das ganze Grundstück scheint so etwas wie einen eigenen Atem zu haben, ein eigenes verschwiegenes Leben. Dunkelheit selbst am hellstenTag.
Es ist auch dieser alte Holzklappstuhl, in dem Mama einst so gern gelegen hat. Jetzt sitze ich darin, auf einem kleinen Rasenstück im stillen hinteren Winkel des Hauses. Es ist sogar Ma´s altes Polster, das ich zuvor hinter meinen Rücken lege.
Langsam atmend blicke ich auf die sich hochtürmenden Wolkenberge hoch und spüre es erneut. Die Luft im Garten hat den Hauch alter Zeiten und den Atem von Menschen, die in diesen Zeiten gestorben sind.
Erinnerungen.
Ein Zimmermann mit weißen Bartstoppeln in seinem länglichen, zerfurchten Gesicht ist mir unheimlich gewesen. Zugegeben hatte ich Angst vor ihm, vielleicht auch seines Namens wegen, Deufel. Und er verhielt sich entsprechend launig, Wenn er in der nahe gelegenen Dorfkneipe sein Geld beim Spielen und Saufen verprasst hatte, kam er laut fluchend nach Mitternacht nach Hause.
Er betrat sein Zimmer dabei nie von vorn, sondern immer über selbstgebaute Stufen vom rechten seitlichen Gartenteil aus. Die Fenster waren dabei immer so angelehnt als ob sie verschlossen wären. Damals, kurz nach dem verlorenen Krieg, gab es noch keine Diebe in Gründorfen. Es war ein Ort, an dem nichts zu holen war. Deufel, der Zimmermann, verhielt sich dennoch wie ein Dieb in der Nacht. Und er war in jedem Moment, ob er sich bewegte oder auch nur auf dem alten
Holzbett saß, unheimlicher als flackerndes Kerzenlicht in einem Halloweenkürbis. Und manchmal, wenn Deufel nachts auf Klo schlich, und ich, aufgewacht, vom oberen Stockwerk durch eine Luke nach unten blickte, erschrak ich. Deufel trug immer lange, weiße Nachthemden und sah immer wie ein Geist aus.
Z urück im alten Schaukelstuhl im Garten ...
Der Wind rauscht nachmittags über die schnell sich duckenden Birkenzweige, und von den Wolken aus blicken zwei riesige Augen auf unser Grundstück, auf mich. Die Wolken zerren an den Augen, verformen sie zu einer Katze, dann zu einem Blasinstrument – und irgendwie fällt mir dabei Cynthie ein.
Es ist sehr lange her, daß ich mit meiner ausgefallenen Freundin namens Cynthie nach Gründorfen zu Besuch gekommen war.
Sie nannte sich selbst „Cynthie“, da sie tatsächlich die seltene Begabung besaß, Cynthesizer der verschiedensten Arten perfekt nachzuahmen, nur mithilfe ihrer Stimme und ihrer Lippen. Als wir dann den Garten betreten hatten, ging Cynthie plötzlich seltsam gebückt, so, als ob sie sich an unsichtbaren Dingen ihren Kopf anstoßen könnte.
Im Haus war es nicht anders. Dann, als meine Mutter den Kaffee servierte, wurde Cynthie immer unruhiger, beinahe übernervös. Eilig hatte sie eine Tasse gelehrt, als sie schon aufgesprungen war.
„Verzeihung“, hatte sie schnell gesagt, „aber ich habe ganz einen Termin in der Stadt vergessen ... Bringst Du mich noch zur Tür?“ Natürlich hatte ich sie begleitet – nur um den Grund ihres schnellen Abschieds zu erfahren. „Tut mir leid, Kathie, aber hier kann ich nicht atmen! Es ist das Haus! Es sind die niedrigen Decken ... alles ist niedrig ... und ich kann den Atem des ganzen Grundstücks spüren ... Ich habe das Gefühl, wahnsinnig zu werden, wenn ich nur eine halbe Stunde länger hier bleibe. Tut mir leid – wegen Dir!“
Ich sehe Cynthie wie gestern den Weg zur alten Gartentür rennen, sie aufreißen ohne sich umzublicken und wegzulaufen. Sie rannte, als ob sie jemand verfolgen würde ... das Haus?
Der Wind im Garten heult erneut auf. Doch nur kurz, wie ein langes, kräftiges Gähnen. Dann ist wieder alles still. Alles für einen Moment.
Unwillkürlich muß ich an die letzten deutlichen Träume denken, die ich von Gründorfen hatte.
Wie auf einer überdimensionalen Leinwand blickte ich zuerst von oben auf das Grundstück innerhalb der alten Siedlung. Dann sah ich mich selbst – im Dunkel des Hauses – in der Küche ... (wieviel Zeit hatte meine blinde Mutter dort verbracht?) ... Dann, unheimlich, das Wehen der Vorhänge. Kurz blicke ich zum gegenüberliegenden Haus. Alles finster. Unter unserem Fenster der leere Vogelkäfig. War denn niemand sonst im Haus? Und plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, griffen sie an. Eine kräftige Hand schien quasi aus den wehenden Küchenvorhängen heraus zu kommen. Und in Sekundenbruchteilen spürte ich: ich habe das alles erwartet ... In der einen Richtung kontere ich mit einem seitlich ausgeführten Handkantenschlag, in der anderen setze ich gleich zwei Techniken ein. Ich greife mit einer Hand nach dem Wesen, halte es unsichtbar fest und kicke dann blitzschnell mit dem rechten Fuß gegen seine vermeintliche Nierengegend. Ein Wesen greift mich überraschend von hinten an und ich trete sofort mit einem Rückwärtskick dagegen.
Für einen Moment scheinen die Angriffe das doppelte Ausmaß anzunehmen – entsprechend verdoppele ich meine Schläge mit Füßen und Handkanten in alle spürbaren Richtungen. Inmitten
der sonst so kleinbürgerlichen Küche vollführe ich einen Art Schattenkampf-Tanz und kann dabei nur zu deutlich die Energie „der anderen“ spüren. So, wie man beim Öffnen eines Kühlschranks die Kälte spürt.
Die Vorhänge in der Küche waren dabei immer mit in Bewegung gewesen – so, wie die Bäume im Nachbarsgarten. Bis mit einem Mal alles wieder vorüber war, der Wind, der Angriff, die Spannungen im Raum.
„Im Traum“ sehe ich mich selbst zur Ruhe kommen. Wie nach einem Budo-Training, für das ich gerade sehr dankbar bin, atme ich nur kurz durch und widme mich dann wieder ganz normalen Dingen ...
Es ist Mamas Liege, in der ich senkrecht sitze und ich nicht umhin kann, komische Ideen zu haben. Was träumte ich noch? Kam mich Mama Monate später nicht in meiner Münchner Wohnung besuchen? Es war erneut so unglaublich realistisch ...
Es ist eine Mischung aus „mich“ sehen und alles auch selbst auszuführen ... als ob ich im Traum, vom schlafenden Körper gelöst, ein Doppelleben führte ...
Dunkel – der Flurgang ist nur spärlich beleuchtet. Habe ich Geräusche gehört?
Vorsichtig (und auf fast alles gefaßt) öffne ich, wie in Zeitlupe, die Haustür, zuerst nur einen Spalt. Im Halbdunkel des Treppenhauses spähe ich neugierig die Treppe hinab, und sehe „etwas Helles“, das langsam immer näher kommt. Dieses „etwas“ ist in seiner Proportion ähnlich einem Schneemann, drei runde Kugeln, eine kleine für den Kopf, eine dicke für den Oberkörper, und eine mittelgroße für den Unterkörper. Diese drei weißlich-geleeartigen Elemente bilden für mich einen deutlich fühlbaren Ektoplasmakörper, den ich sofort erkenne: es ist Ma. Eindeutig Ma.
Und Mamas Astralkörper kommt weiter näher, strahlender ...Ich müßte mich eigentlich über ihr Erscheinen freuen – aber dann reagiere ich einfach erschreckt, will die Tür vor ihr zuknallen, spüre aber so etwas wie Gegenwehr – und wache auf. Wie aus einem Albtraum, obgleich es doch keiner war. Oder?
Als ich aufgewacht war, war ich vollkommen durcheinander, weil alles einfach so „echt“ gewesen war, und sich alles nur wenige Meter von meinem Bett abgespielt hatte.
War dies ein Grund für mich gewesen, längere Zeit nicht nach Gründorfen zu fahren? Und doch war ich erneut dort, in Träumen ...
... das Dunkel um. Mitternacht? Ich stehe in meinem Dachzimmer und will die Vorhänge vom Fenster zuziehen, das direkt zum Nachbarhaus hinüber blickt. Ich ziehe die Vorhänge fast zu, als ich in meiner Bewegung innehalte, und mein Gesicht fest an die Fensterscheibe presse, um besser ins Nachbargrundstück sehen zu können. Unheimlich irgendwie, das Fuchteln kleiner Lämpchen am dortigen Gartenzaun. Ich spüre mehrer Wesen, auch Frau Müller, die nur kurze Zeit nach Mamas Tod ebenfalls verstorben war, aber noch weitere Wesen ... Es sind viele. Und sie schwenken ihre Lichter, als ob sie mich einerseits grüßen wollen, aber ... andererseits? Kann es sein, daß sie sich gerade über mich lustig machen? Ich kann meinen Blick nicht abwenden ... Gartengeister ...
Ich war also im Traum im Haus, weil ich sonst keine Gelegenheit dazu hatte?
Jetzt habe ich wieder die Möglichkeit, hier zu sein. Ich sitze in Mamas altem Liegestuhl und betrachte die Wolken gerade so neutral wie möglich. Nur ganz kurz friere ich. Der Hochsommer war wie so oft Mitte August zu Ende. Dennoch erlebten die Gärten von Gründorfen noch ein paar warme Tage. Konnte ich das aber wirklich genießen?
Das Haus war ein sehr geeigneter Ort dafür, um Vergangenheiten sonderbar deutlich zurückzubringen – ohne daß ich mich dagegen wehren konnte. So, als ob da eine ganz eigene unsichtbare Kraft eine unsichtbare Leinwand für mich aufstellt, und nur ich diesen einen Film sehen kann, den vom Haus, von Deufel, das ewige Dunkel.
Dann der Ruf meines Vaters. Die Leinwand ist verschwunden. Es ist Zeit, ins Haus zu gehen. Mir ist nicht immer wohl dabei. Denn manchmal, so denke ich, ist das Haus dunkler als es die Nacht selbst sein kann. Und ich friere erneut.
Letzte Aktualisierung: 22.12.2008 - 18.38 Uhr Dieser Text enthält 9712 Zeichen.