Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Es war einmal … eine sehr sehr alte graue dicke Landschildkröte, die lebte in den heißen, staubigen Hügeln des Taygetos. Sie war die letzte ihrer Familie, und sie lebte allein.
Des Morgens wachte sie zeitig auf, wedelte sich den Morgentau vom Stummelschwanz, frühstückte das eine oder andere Kräutlein und machte sich dann zu ihrem Morgenspaziergang auf, der sie an eine frische Quelle führte, an der sie ihren Durst stillte. Dann kroch sie langsam zurück zu ihrer Höhle und widmete sich ihrer Lieblingstätigkeit: sie dachte nach.
Sie dachte nach über die Sonne, den Regen, die Steine, den Staub, die Gräser und die Kräuter, sie dachte nach über das Woher und Wohin und über das Leben und die Liebe. Auch sie hatte einst die Liebe gekannt, aber nun hatte sie sich an das Alleinsein gewöhnt und war ihres Alltags zufrieden.
Eines Tages gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand und die sehr sehr alte Schildkröte nach dem Mittagsgras in der Hitze döste, sah sie etwas Goldenes vor ihren Augen vorbeiflirren. Sie blinzelte und erblickte einen goldenen Pirol, der sich vor ihr aufgeplustert hatte und sie, das Köpfchen geneigt, mit trillernden Tonkaskaden begrüßte:
- Wunderschön bist du, o mächtige Kröte, ich liebe deine imposante Gestalt und deinen feingezeichneten Panzer.
Da wurde es der Kröte warm ums Herz, und sie verliebte sich in das goldene Gefieder des Pirols und in seine eisblauen Augen.
Nun begann eine schöne Zeit. Die beiden trennten sich nie. Sie frühstückten miteinander, gingen und flogen zusammen zur Quelle, und dann tirilierte der Pirol, und die sehr sehr alte Schildkröte dachte über den schönen Gesang ihres Freundes nach, und manchesmal versuchte auch sie zu singen, und der Pirol dachte darüber nach, was für eigenartige Töne eine singende Schildkröte zustandebringen konnte. Und dann kam die Nacht, und der Pirol kuschelte sich in die Halsbeuge der Kröte, und sie schliefen zufrieden ein, um einen gemeinsamen neuen Tag zu erleben.
Mit der Zeit allerdings mußte sich die sehr sehr alte Landschildkröte eingestehen, daß der Pirol immer unruhiger wurde. Sein Gefieder wurde stumpf und seine Lieder einfallslos. Er flog auch öfter weg, und wenn er wiederkam, war er meist etwas zerstreut und nicht so ganz bei der Sache, wenn es ums Tirilieren oder Nachdenken ging.
So konnte es nicht weitergehen. Eines Abends faßte sich die sehr sehr alte Landschildkröte ein Herz – das einzige, das sie hatte und von dem sie ahnte, daß es gleich gebrochen würde – und fragte den Pirol, warum sich alles unmerklich verändert habe. Der Pirol zögerte zuerst, denn er wollte seiner Freundin nicht wehtun, aber dann gestand er, er habe im nächsten Tal eine sehr alte Schildkröte getroffen, für die er von nun an gerne singen wolle. Auch sie war nicht jung, aber eben nicht sehr sehr alt, sondern nur sehr alt, und mit ihr wolle er ein gemeinsames Leben versuchen.
Da weinte die sehr sehr alte Landschildkröte ein bißchen, aber sie wußte auch, daß man den Lauf des Lebens nicht aufhalten kann, und sie bewahrte ihre Würde und wünschte dem Pirol alles Gute und ließ ihn ziehen.
Als er fort war, weinte sie noch einmal ein bißchen, und dann öffnete sie der Einsamkeit erneut die Tür zu ihrem Leben und bat sie herein.
Die Tage zogen vorbei, Sonne wechselte mit spärlichem Regen, die Kräuter wuchsen und wurden gefressen, der Winterschlaf kam und der neue Frühling zog herauf.
Eines Morgens im Mai machte sich die sehr sehr alte Landschildkröte wieder einmal auf den Weg zur Quelle, um ihren Morgentrunk zu nehmen. Dort angekommen, sah sie am Rand des Wassers eine schlanke grünglänzende Smaragdeidechse sitzen, die sie mit ihren nachtschwarzen Augen heiß ansah und zu ihr sprach:
- Guten Morgen, wunderschöne Kröte! Ich liebe deine erlesene Gestalt….
Letzte Aktualisierung: 22.01.2009 - 22.06 Uhr Dieser Text enthält 3818 Zeichen.