Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
Wilhelm - ein schwerer Ausnahmefehler
von Robert Pfeffer
Märchen haben einen großen Vorteil. Sie sind besser als H-Milch oder Sauerkonserven, denn sie sind ewig haltbar. Und nicht nur das. Sie haben so was zeitlos Aktuelles in ihren Botschaften. So etwa, dass es nicht immer von Nachteil sein muss, wenn du auf dem Heimweg einen Schuh verlierst. Früher griff ich unkontrolliert zu, sobald mir jemand seinen Zopf am Turm herunter ließ und mich hinauf bat. Heute vergewissere ich mich erst, wer am anderen Ende auf mich wartet. Durch Märchen lernte ich, dass und warum Brotkrümel als Wegmarkierung ungeeignet sind. Besuche ich meine Oma und ihre Ohren erscheinen mir ungewöhnlich groß, jage ich sie erst mal aus dem Bett. Und ganz wichtig: Ich lasse mir keinen teuren Fummel andrehen, den angeblich nur Designer und Markenklamottenverkäuferinnen sehen können, während ich selbst mich nackt fühle.
Umso erstaunlicher ist, dass es da eine Sache gibt, die heutzutage jeder kennt, der halbwegs krauchen kann, und trotzdem schreibt keiner was wahrhaftig Märchenhaftes dazu. Seit der Nahe Osten so problematisch ist, würden manche selbst bei was aus tausend und einer Nacht einen islamistischen Hintergrund vermuten. Andersen hat, glaub ich, schon die Rente eingereicht und die Grimm-Jungs hatten lange nichts Neues mehr. Ich sag Ihnen was: Hier tut sich eine Marktlücke auf. Also mach ich das jetzt. Ich schreibe ein Märchen. Und ich widme es den vielen Millionen Menschen, die nach Blau Rot sehen! Ich nenne es:
***
Wilhelm – ein schwerer Ausnahmefehler
Es war einmal ein junger Bursche, der hieß Wilhelm Tore. Er war der Sohn eines angesehenen Advokaten und einer Lehrerin. In wohlgefälliger Art wuchs der Kleine auf und kam eines Tages in die Schule. Statt sich am Quell der Bildung zu laben, zog es ihn und einige andere Knaben jeden Tag in eine abgelegene Kammer seiner Schule vor einen kleinen Kasten. Vor eben jenem stand ein Brett mit kleinen quadratischen Feldern darauf. Wilhelm und seinen Freunden bereitete es große Freude, durch Drücken auf die Felder Zahlen und Buchstaben zu erzeugen. Ihre Lehrmeister jedoch erlaubten ihnen dies nur für kurze Zeit am Tag. Denn sie hatten Sorge, Wilhelm und die anderen würden sonst versäumen zu lernen, welche Dinge für den wirklichen Ernst des Lebens von Bedeutung seien. Die Kinder aber waren uneinsichtig und grässliche Gedanken bemächtigten sich ihrer. Um mehr Zeit für das Felderdrücken zu erreichen, verhexten sie den Kasten auf schändliche Weise. Auf der Vorderseite standen schließlich folgende Worte geschrieben: „Schwerer Ausnahmefehler“. Darob ward die Kammer öd und leer.
Ein Sommer ging ins Land, während dessen die Kinder zur Strafe nicht ihrer Vorliebe frönen durften. Doch Wilhelm hatte die Zeit genutzt und einen frevelhaften Plan geschmiedet. Er bot den Lehrmeistern einen Handel an: Nur er wisse, wie der Kasten wieder zum Leben erweckt werden könne, aber dafür brauche er mehr Zeit, um davor zu sitzen. Die Lehrmeister berieten seinen Vorschlag, waren aber tumb und hilflos. Sie erkannten zwar, dass Wilhelm und seine Freunde das Übel erst herbei gedrückt hatten, aber sie wussten keinen anderen Ausweg, als sie gewähren zu lassen, und gingen auf den Handel ein.
Fortan saß Wilhelm über viele Stunden und Tage immer wieder in der Kammer. Er erdachte verschiedene Arten, die Zahlen und Buchstaben zu drücken. Es entstanden wahre Sprachen. In diesen unterhielten sich Wilhelm und seine Freunde miteinander. Die Lehrmeister hingegen verstanden noch weniger als zuvor. Sie wurden außerdem gewahr, dass Wilhelm mittlerweile meisterlich immer neue Fehler erfinden konnte, die ihm wieder mehr Zeit vor dem Kasten einbrachten. Doch sie waren machtlos und schwach, wurden erst erlöst, als Wilhelm eines Tages von dannen zog.
Er ging auf die Universität, aber er tat es nur zum Schein. Denn auch dort gab es solch eine Kammer, in der zahlreiche Kästen standen. Nach einigen Jahren, er hatte viel gelernt, aber nicht, was er vorgeblich studierte, verließ Wilhelm die Universität wieder. Aus seinem Ziel, für sich mehr Zeit vor dem Kasten zu erreichen, war ein noch viel verwerflicherer Plan geworden.
Wilhelm wollte Taler verdienen, viele Taler. Er begann damit, den Menschen an den Marktplätzen seines Landes weiszumachen, dass sie ohne seine Erfindung, die in wirr scheinender Sprache bedient werden musste, nicht mehr leben könnten. Der Blick auf jene Glasscheibe, so versprach er, sei wie der Blick durch ein Fenster, nein, durch viele Fenster. Die Welt sähe bunter und schöner aus. Fortan wollten selbst in den entlegensten Winkeln des Erdballes die Menschen nun Wilhelms Kästen ihr Eigen nennen.
Wilhelm verdiente gut und freute sich seines Lebens, doch eines Tages kam ein Mann zu ihm, als er gerade in einer der dreißig Kammern seines Hauses vor dem Kasten saß.
„Ich entbiete Euch einen guten Tag, Wilhelm. Was tut Ihr da gerade?“
„Nun, Fremder, seid herzlich willkommen in meinem Haus, aber es geht Euch nichts an, was ich hier tue!“
„Doch, Wilhelm, es geht mich etwas an. Ich sehe seit einiger Zeit, dass ihr Eure Fensterkästen feilbietet und viele Taler dafür erhaltet. Doch gleichzeitig sind in den Kästen ‚schwere Ausnahmefehler‘ und andere Schändlichkeiten verborgen, die den Menschen dunkle Schatten auf ihr Gemüt werfen. Außerdem gebt Ihr vor, Ihr allein würdet die Antwort zur Beseitigung der Übel des Kastens kennen.“
„Wer seid Ihr, dass Ihr solch Wort zu sprechen wagt?“
„Nun, das will ich Euch gerne sagen. Wilhelm, Ihr wildert in fremdem Garten! Den Menschen erst Fehler zu verkaufen und danach ein Gegenmittel ... Euch dies auch noch fürstlich versilbern zu lassen ... das ist Teufelswerk. Was denkt Ihr: Wer allein ist berechtigt, Teufelswerk zu vollbringen?“
„Ihr meint wohl den Teufel, Fremder, aber ich sehe an Eurem Kopf keine Hörner, an Eurer Rückseite keinen Schwanz und Ihr wandelt auch nicht auf Hufen. Also was hat mich zu scheren, was Ihr vorbringt?“
„So will ich Euch zeigen, wer ich bin, auch wenn die Attribute, die Ihr aufzähltet, nicht mein Äußeres widerspiegeln. Schließet nicht vom Äußeren auf das Innere. Das gilt ja auch für Eure Erfindung!“
Und aus des Fremden Augen kam ein gleißender Strahl von Buchstaben und Zahlen hervor, der direkt in Wilhelms Kasten hinein stach.
„So hört, Wilhelm, ich bin der Teufel und heute gekommen, Euch das zu bringen, was Ihr verdient. Wie ein Virus möge es in Euch und Euren Kästen wirken. Dermaleinst werde ich Euch einen Menschen schicken, der Euer verwerfliches Tun aufdecke.“
Mit dem Versiegen des Strahls löste sich auch die Erscheinung des Fremden in Luft auf.
Wilhelm saß gramgebeugt in seiner Kammer. Der Teufel hatte ihn entdeckt und von der anderen Seite durch seine Fenster in den Kasten gesehen. Er grübelte, wie er den Fluch vielleicht besiegen könnte und beschloss, fortan mit einem Teil seiner Taler Gutes zu tun, damit den Menschen nicht auffiele, dass er fehlerhafte Waren und die Gegenmittel feilbot. Mit der Zeit vergaß Wilhelm seine Betrübnis wieder, denn das Volk in seinem und in anderen Ländern kaufte weiter seine Fensterkästen mit der seltsamen Sprache und den mannigfaltigen Fehlern. Er vergaß auch die Drohung des Teufels.
Doch eines Tages traf Wilhelm Tore auf einen Mann namens Stefan Berufe. Stefan interessierte sich ebenso für die Kästen, wie Wilhelm dies tat, und er hatte damit begonnen, Wilhelm ein Konkurrent zu sein. Seine Kästen aber waren den wenigen Menschen, die sie besaßen, eine viel größere Freude, weil es leichter fiel, sie zu bedienen. Auch belästigte Stefan die Menschen nicht mit einer wirren Sprache. Seine Welt war frei von ‚schweren Ausnahmefehlern‘.
„Sagt, Stefan, wie konntet Ihr diesen Kasten bauen? Bestimmt kann er nicht, wie meiner, die Menschen durch Fenster sehen lassen?“
„Ach, Wilhelm, es braucht doch gar keine Fenster. Ich lasse die Menschen meine Erfindung betrachten und dann merken sie ganz von selbst, dass sie edler ist, das Gemüt schont und obendrein schöner aussieht. Wisst Ihr, was mich inspirierte?“
„Ja, ich ahne es. Bestimmt schickt Euch der Teufel, Stefan, Ihr müsst mit ihm im Bunde sein!“
„Nein, Wilhelm, ich sah den Teufel nie. Die Natur war mir Vorbild. Als ich einst auf einer Wiese lag und die Herbstsonne genoss, da dachte ich über die vielen Fehler nach, die Euer Kasten hat und überlegte mir: ein guter Kasten muss schlicht sein, doch gleichsam schön, wie nur die Natur Dinge zu schaffen vermag. Neben mir lag ein Apfel im Gras, ich nahm ihn mir zum Ideal. Und seither weiß ich: Mein Kasten ist wie dieser Apfel, schön und schmackhaft, während Eurer einen Wurm hat.“
Wilhelm weinte bitterlich, denn er wusste, dass Stefan Berufe die Wahrheit sprach. Obwohl er stets mehr Kästen als alle anderen verkaufte, konnte er sich niemals rühmen, den Menschen einen wirklich guten Fensterkasten feilgeboten zu haben. Noch schlimmer schmerzte der Pflock in seinem Herzen, dass Stefan nicht jener war, den der Teufel schickte.
Und wenn er nicht gestorben ist, dann warten Wilhelm und alle, die seine wurmstichigen Waren erwarben, immer noch darauf, wann die Prophezeiung des Teufels eintreten und sich der Fluch erfüllen werde.
***
Hach ... tut das gut. Endlich ist es raus!
Mein Märchen ritze ich nachher noch auf Steintafeln und vergrab diese dann im Wald. Sie werden in ein paar hundert oder tausend Jahren gefunden werden. Die Szene stelle ich mir etwa so vor:
Zwei Archäologen stehen auf einer Lichtung und betrachten meine frisch ausgegrabenen Steintafeln. Fragt der eine den anderen:
„Sag mal, was ist eigentlich ein schwerer Ausnahmefehler?“
„Weiß ich auch nicht genau. Klingt aber so, als hätte es was mit diesen altmodischen Computern zu tun, die sie vor ewigen Zeiten mal hatten. Sollen eh nie fehlerfrei gearbeitet haben, die Dinger.“
„Ach, jetzt versteh ich auch endlich diese Redensart von damals“, antwortete der andere.
„Welche meinst du?“
„Ein funktionierender Computer? So was gibt’s doch nur im Märchen.“
Letzte Aktualisierung: 08.01.2009 - 11.15 Uhr Dieser Text enthält 10026 Zeichen.