Ganz schön bissig ...
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Märchen | Januar 2009
Alles nur ein Märchen?
von Rosemarie Benke-Bursian

„Vor langer, langer Zeit ...“
„Weiter“, rief Alvin.
„Als vor uralten Zeiten ...“
„Weiter.“ Alvin wusste genau, welches Märchen er hören wollte, und so rief er „weiter“, bis die Stimme mit „Es war einmal in grauer Vorzeit, als die Erde noch ein blauer Planet genannt wurde ...“ begann.
Zufrieden kuschelte er sich in sein Kissen, zog die Bettdecke bis zum Kinn und starrte auf den Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand. Endlich tauchte dort die blauweiße Kugel vor schwarzem Hintergrund auf. Er liebte dieses Bild. Dieses und die nächsten, die noch kamen: Urwälder, exotische Tiere, Wasserfälle. Beim Meeresrauschen schlief er ein und träumte, dass er auf einem wilden Tiger über den Sandstrand ritt.

„Aufstehen, heute ist doch Gruppenunterricht-Tag in der Schule.“
Verschlafen rieb Alvin sich die Augen. Seine Mutter war halb über ihn gebeugt, drückte dabei heftig in die Knöpfe ihres Handcomputers.
„Beeil dich, ich muss heute früher weg. Ich habe gerade ein Fahrzeug für acht Uhr bestellt.“
„Aber Mam, kann ich nicht alleine fahren? Ich muss doch erst um neun in der Schule sein.“
„Zwei Fahrzeuge, nur damit du eine Stunde länger hier herumtrödeln kannst? Du weißt, wir haben unser Transportkontingent für diesen Monat schon fast ausgeschöpft. Und du wolltest heute Nachmittag noch in den Bücherpavillon. Es sei denn, du verzichtest darauf.“
„Nein, ganz bestimmt nicht.“ Alvin sprang mit einem Satz aus dem Bett und saß fünf Minuten später an der Frühstücksbar. Nachdem er sein Müsli gemixt und Saft aus dem Automaten gezapft hatte, schaute er aus dem Fenster. Ein leichter Wind wirbelte rötlichen Lehmstaub auf. Die schroffen Abhänge der nahe gelegenen Felsenkette standen dunkel vor bleiernem Himmel. Jeden Tag das gleiche Bild.
„Du träumst mal wieder, Alvin. Es ist fünf vor acht. Du weißt, der Wagen wartet nur zehn Minuten, dann fährt er zurück zum Fahrzeug-Pool und wir müssen trotzdem zahlen.“
„Oh ... natürlich.“ Alvin stürzte seinen Saft hinunter. Er wollte auf keinen Fall seinen Besuch im Bücherpavillon riskieren. Dann verfiel seine Eintrittskarte, die er von Professor Kalonymos als Belohnung für seinen Vortrag über den Wasserkreislauf erhalten hatte. Und wer weiß, wann dann die nächste Gelegenheit zu so einem Besuch kam. Aber seiner Mutter bedeutete es nichts. „Du hast genügend elektronische Bücher“, sagte sie ständig, und „in den Papierbüchern steht immer nur eine Geschichte, so eine Verschwendung.“
Als sie im Fahrzeug saßen, tippte seine Mutter zuerst Schule und dann Krankenhaus in den Bordcomputer.
„Was macht ihr heute?“, wandte sie sich an Alvin, während der Wagen anfuhr.
„Professor Kalonymos will mit uns einen Naturgarten anlegen.“
„In der Schule?“
„Draußen, gleich neben der Sportanlage.“
„Bekommt er denn dafür zusätzliches Wasser?“
„Er will uns zeigen, wie man natürliche Wasserspeicher nutzt und ...“
„Ach Kind, der alte Kalonymos war ja schon immer ein bisschen spinnert, aber dass er jetzt für so ein Projekt die Erlaubnis bekommt ... Du glaubst doch nicht etwa, dass das irgendeine Aussicht auf Erfolg hat?“
„Aber irgendwie muss es doch gehen. Früher ...“
„Alles Märchen, Kind. Du hörst zu viele Märchen.“
Alvin sagte nichts mehr. Er wollte sich auf den Tag freuen, auf den Gruppenunterricht und auf den Bücherpavillon. Er liebte das Blättern in den Buchseiten, das Rascheln und den Geruch von Papier.

„So eine Unsitte, Bäume zu opfern, um Papier für Bücher herzustellen“, sagte seine Mutter immer. Er seufzte. Das war das Dilemma. Die wenigen Bäume, die es gab, mussten natürlich gehegt und gepflegt werden. Das wollte er ja auch.
„Früher gab es genug Bäume“, hatte er neulich erst eingewendet.
Aber seine Mutter hatte mit ihrem Standardsatz geantwortet: „Märchen, Junge, alles nur Märchen. Wo sollen sie denn hin sein? So viele Bücher gibt es gar nicht.“
„Die meisten Bücher sind ja kaputt gegangen.“
„So? Sagt das auch dein Lieblingsprofessor?“
„Es steht in einem Buch. Früher haben sie schlechtes Papier verwendet. Das hat die Bücher aufgefressen.“
„So einen Quatsch habe ich ja noch nie gehört. Du meinst, es standen überall Bäume, dann wurden Bücher draus gemacht, die haben sich dann selbst aufgefressen und nun gibt es nichts mehr? Weder die Bäume noch die Bücher? Nur noch Wüste, rote lehmige Erde und ein paar Naturparks?“
Alvin hatte zugeben müssen, dass sich das merkwürdig anhörte.

Sie waren an der Schule angekommen und er sprang heraus.
„Ich hole dich um vier ab“, rief seine Mutter ihm noch hinterher, dann fuhr der Wagen schon weiter.
Der Unterricht, der im Freien stattfand, ließ Alvins Herz höher schlagen. Sie lernten etwas über Pionierpflanzen und Folgepflanzen, säten Samen von Pionieren in ein Minibeet, das sie mit etwas schwarzer Erde versetzten – der Professor nannte es Anzuchterde – und stülpten über das Ganze ein kleines Glashaus. So würde das Verdunstungswasser aufgefangen. Für die nötige Frischluft sorgten Belüftungsklappen, die bei Bedarf geöffnet werden konnten. Ein beinahe perfektes Bewässerungssystem.

Im Bücherpavillon, den Alvin voller Aufregung am späten Nachmittag mit seiner Mutter betrat, herrschte gedämpftes Licht. Alvin wusste genau, welche Bücher er sich ansehen wollte und ging mit seiner Eintrittskarte in den Ausleihbereich. Seine Mutter setzte sich an einen Tisch in der Besucherzone für Begleitpersonen.
„Schau mal, Mam!“ Alvin kam mit zwei großen Büchern zum Tisch seiner Mutter gelaufen. „Da siehst du es. Ein Urwald und ein Wasserfall. Und hier, das ist ein Tiger.“
„Das sieht ja genauso aus wie in dem Märchenfilm, den du zu Hause hast.“
„Aber das hier ist kein Märchen. Da, ,Brehms Tierleben´ steht auf diesem, und hier, auf dem ,Pflanzen des 21. Jahrhunderts´.“
„Alvin! Ich möchte jetzt keinen Streit, sonst fahren wir gleich wieder nach Hause. Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wort mit dem Professor reden, dass er dir nicht solche Flöhe ins Ohr setzt. Oder besser gleich mit dem Direktor.“
„Mam.“
„Schluss jetzt. Das mit der grünen Erde ist genauso ein Märchen wie das vom Schlaraffenland. Du könntest ebenso gut von einer Welt träumen, in der dir die gebratenen Tauben in den Rachen fliegen. Das gab es nie, und das wird es nie geben. Aus. Basta. Du musst lernen, in der Realität zu leben.“
Alvin schlich zu seinem eigenen Tisch zurück, auf dem noch weitere Bücher lagen: ,Das Dschungelbuch´, die Geschichte von einem Jungen, der unter Wölfen aufwuchs. Außerdem eines, das Professor Kalonymos ihm besonders empfohlen hatte, ein Buch, dessen Inhalt für ihn nicht ganz leicht zu verstehen war, denn es war für etwas ältere Jugendliche geschrieben. Aber ihm war klar, dass es hier um die Bewässerung und Begrünung von Wüsten ging. Also gab es einen Weg. Eines Tages würde er Naturwissenschaften studieren und solch ein Projekt angehen. Er würde die Erde in einen Urwald zurückverwandeln, oder doch wenigstens die halbe Erde.
Sorgfältig notierte er sich die Seiten, die er gerne gehabt hätte, und ging damit zum Kopierraum hinüber. Er hatte Glück, alle Seiten waren zum Kopieren freigegeben. Ein Angestellter nahm Alvin die Bücher sowie sein mitgebrachtes elektronische Buch ab und verschwand damit in den hinteren Teil des Raumes. Kurze Zeit später brachte er das E-Book mit den Worten „Alles drauf“ zurück.

Als Alvin an diesem Abend im Bett lag, war er überglücklich. Auf dem Nachttisch lag das E-Book mit dem wertvollem Inhalt. Er nahm die Fernbedienung, schaltete auf Gutenachtgeschichten und rief „weiter“, bis sein Lieblingsmärchen kam. Er lauschte der Stimme und träumte von dem blauen Planeten mit grünen Urwäldern und wilden Tieren.

„Klein anfangen, aber groß denken“, hatte der Professor gesagt, dann würden auch Träume eines Tages wahr werden. Ja, daran glaubte er ganz fest. Er würde ein Märchen wahr werden lassen.

Letzte Aktualisierung: 26.01.2009 - 10.07 Uhr
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