Der himmelblaue Schmengeling
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Märchen | Januar 2009
Der alte Storch
von Sabine Barnickel

Es war einmal ein kleiner Junge in einem kleinen Dorf in Franken, ein aufgeweckter Sechsjähriger, immer ein Lachen auf den Lippen, so war er überall beliebt. Thomas hieß er, aber alle riefen ihn nur Tommi. Sein bester Freund war der alte Storch, der jedes Jahr im Frühjahr wieder sein Nest auf dem Kirchturm bezog, obwohl seine Gefährtin schon vor einigen Jahren verstorben war und keine kleinen, klappernden Storchenkinder Leben in sein Heim brachten. So hatte der alte Storch Zeit, sich die Geschichten des Jungen anzuhören und er war ein geduldiger Zuhörer. Während Tommi einfach darauf los plapperte, neigte er nur ab und zu den Kopf ein wenig oder klapperte kurz mit seinem Schnabel. Er lauschte den Geschichten von den Streichen, die die Kinder spielten, von den großen und kleinen Missgeschicken der Dorfbewohner. Tommi erzählte ihm von der Schule, vom Fußballtraining und von seiner Familie. Bei dem Thema wurde der Junge oft ganz traurig.
„Weißt du, ich wünsche mir soooo sehr ein Brüderchen, zum Fußballspielen und auf Bäume klettern und so… Naja, zur Not wäre auch eine kleine Schwester in Ordnung, auch wenn man mit Mädchen nicht so viel anfangen kann. Letztes Jahr habe ich das auf meinen Wunschzettel fürs Christkind geschrieben, aber bekommen habe ich eine Eisenbahn.
Meine Freunde haben alle Geschwister, nur ich nicht. Die sagen immer: ‚Sei froh, dass du deine Eltern für dich alleine hast. Die Kleinen nerven nur und die Großen wissen immer alles besser.‘ Aber das glaube ich nicht.
Kannst du mir nicht helfen, Storch? Man sagt doch, dass ihr Kinder bringt. Bitte, ich wünsche mir wiiirklich ein Geschwisterchen.“
Der alte Storch neigte seinen Kopf ein wenig und richtete sein Gefieder mit seinem Schnabel. Es wirkte wie ein Schulterzucken, fast als wollte er sagen: „Es tut mir leid, mein Kleiner, aber da kann ich leider nichts für dich tun.“

Im Herbst folgte der alte Storch den anderen Zugvögeln in den Süden. Tommi winkte ihm nach: „Kommst du nächstes Jahr auch wieder?“

Im darauf folgenden Frühjahr wartete der Junge schon ungeduldig auf seinen alten Freund. Jeden Tag, wenn er aus der Schule nach Hause kam, rief er:
„Mama, Mama, ist er endlich da?“
Bis seine Mutter endlich lachend antwortete:
„Ja, er ist da. Na, jetzt lauf‘ schon los.“
Dabei strich sie zärtlich über ihren wachsenden Bauch.

„Hallo, Storch… Endlich bist du da… Ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“
Der alte Storch war noch erschöpft von seiner langen Reise, als Tommi völlig außer Atem bei ihm ankam, und schüttelte sich unwillig den Staub aus den Federn.
„Es ist endlich soweit. Ich bekomme mein Geschwisterchen. Meine Eltern sagen, es wird ein Mädchen und es dauert gar nicht mehr lange. In den großen Ferien wird es schon da sein. Dann kannst du die Kleine auch gleich noch kennen lernen.
Ich freu‘ mich so!“
Der Storch ließ sich von der Aufregung des Jungen anstecken und klapperte vor Freude mit dem Schnabel.
„Papa hat schon meine alte Wiege aus dem Keller geholt und neu gestrichen – in Rosa. Naja, Rosa finde ich jetzt nicht so toll, aber schließlich wird es ja ein Mädchen.
Können Mädchen eigentlich auch Fußball spielen? Meine Freunde meinen, die wären zu doof dazu. Aber ich werde es ihr schon beibringen. Meine Schwester wird nämlich ein gaaanz besonderes Mädchen.
Jetzt streichen Papa und ich gerade das neue Kinderzimmer…“
Tommi war gar nicht zu bremsen. Jeden Tag brachte er seinem alten Freund neue Nachrichten.
„… Heute hat sie gegen meine Hand geboxt … Und treten kann sie auch schon ganz kräftig; sie wird bestimmt eine tolle Fußballerin…“
So verging der Frühling wie im Flug, der Sommer kam. Die Zeit bis zu den großen Ferien wurde immer kürzer und Tommis Vorfreude wuchs von Tag zu Tag.

Doch es sollte anders kommen…

In der Nacht war Tommis Mutter ins Krankenhaus gebracht worden, mit Blaulicht und Martinshorn. Der Storch war auf seinem Kirchturm davon aufgewacht und hatte kurz gedacht, dass es jetzt wohl endlich soweit wäre. Am nächsten Tag flog er zum Weiher, um sich sein Frühstück zu fangen. Da saß der Junge und warf Steine ins Wasser. Der alte Storch spürte gleich, dass etwas nicht stimmte. Er stupste Tommi mit seinem Schnabel an.
„Das Baby ist tot“, sagte der Junge so leise, dass er ihn kaum hören konnte.
Es wurde ein trauriger Sommer. Tommi lachte nicht mehr, sein Vater räumte alle Babysachen in den hintersten Winkel des Dachbodens, die Wiege landete auf dem Sperrmüll.
Für den Storch wurde der restliche Sommer sehr einsam, denn sein kleiner Freund kam ihn nicht mehr besuchen, winkte ihm auch nicht zum Abschied, als er wieder in den Süden flog.

„Mama, meinst du, er kommt dieses Jahr wieder? Ich habe mich im Herbst gar nicht von ihm verabschiedet. Er ist bestimmt sauer auf mich.“
„Ach, Tommi, er versteht bestimmt, wie traurig du warst.“
„Hoffentlich ist ihm nichts passiert – er ist wirklich spät dran dieses Jahr.“
Tommi machte sich Sorgen um den alten Storch. Er war immer noch sehr traurig, dass er sein Schwesterchen verloren hatte, doch wenn jetzt auch noch sein Freund nicht wieder käme… Mit ihm hatte er immer so gut reden können. Jeden Tag schaute er am Kirchturm und am Weiher vorbei, ob er denn nicht endlich da wäre.

Der alte Storch zögerte in diesem Frühling besonders lange, bevor er sich auf die Reise zurück in den Norden machte. Er war alt, sein Gefieder glänzte nicht mehr so wie früher, die Gelenke und Muskeln schmerzten oftmals beim Fliegen.
Im warmen Winterdomizil hatte er oft an den kleinen Tommi gedacht: Er hatte es bestimmt nicht böse gemeint, als er sich nicht verabschiedet hatte. Der Junge trauerte sicher sehr um seine kleine Schwester. Ihm war es damals nicht anders gegangen, als er seine geliebte Störchin verloren hatte. Und letztendlich brachte ihn der Gedanke an den Jungen dazu, doch noch abzureisen.

Es war schon dunkel als er auf seinem Kirchturm landete. Am nächsten Morgen wurde er sehr früh von einem merkwürdigen Geräusch geweckt. Unwillig steckte der seinen Kopf noch ein bisschen weiter ins Gefieder, doch das Geräusch wurde eher lauter als leiser. Der alte Storch beschloss, nach dem Rechten zu sehen. Ein paar Mal flog er um den Kirchturm, dann um die ganze Kirche. Was war das denn? Da stand ein Korb vor der Eingangstür. Aus diesem drangen die merkwürdigen Geräusche und außerdem bewegte sich etwas darin: Ein klitzekleines Menschenkind befand sich im Inneren und weinte. Und wo war die Mutter, der Vater oder irgendein Mensch? Der alte Storch begann aufgeregt hin und her zu laufen, ab und zu flog er los und drehte eine Runde um die Kirche, aber niemand war in Sicht.
Schließlich kam ihm eine Idee. Es kostete ihn einige Mühe, den Griff des Korbes mit dem Schnabel zu packen und noch schwieriger war es, damit los zu fliegen. Völlig außer Atem landete er schließlich samt seiner Last vor Tommis Haus. Der Korb rutschte ihm aus dem Schnabel und landete unsanft auf dem Boden. Sofort brüllte das Baby los.

Tommi riss die Haustür auf und traute seinen Augen kaum: Da stand ein Korb, darin schrie ein Baby aus Leibeskräften, daneben klapperte sein alter Freund, der Storch, mit dem Schnabel.
„Mama! Papa!“, rief er. „Kommt schnell, der Storch ist da… Und er hat uns ein Baby gebracht!“

Ein paar Wochen später saß Tommi neben seinem alten Freund am Weiher. Nach einigem Hin und Her mit irgendwelchen Ämtern – er hatte das alles nicht so richtig verstanden – war die kleine Hanna endlich für immer bei ihm und seinen Eltern eingezogen. Der Junge brachte dem Storch die guten Nachrichten.
„…und ich hatte Recht: Ihr Störche könnt doch Kinder bringen.“

Letzte Aktualisierung: 09.01.2009 - 22.53 Uhr
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