Wieder einmal nahm sie die kleine Dose in die Hand. Diese war uralt, doch das sah man dem nachtblauen Samt mit den aufgestickten Sternchen nicht an. Mit leiser Hoffnung schaute Sarah hinein. Im feinen Silbersand rührte sich nichts. Ein Gefühl unwiederbringlichen Verlustes wallte in ihr auf.
„Frau Goldbach!“, erscholl die durchdringende Stimme von Theo, dem kleinen Nachbarsjungen. „Der Joshua heult schon wieder!“
Seufzend ging Sarah zur Hintertür: „Schick ihn zu mir herein!“ Joshua war ihr jüngster Enkel. „Was ist los, Joshi?“
„Ich w-w-wollte den Ball vom Tor wegköpfen, da ist er in die falsche Richtung geflogen, huhu!“
„Das ist doch kein Grund zum …“
„Ich hab’ aber ein Eigentor gemacht! Jetzt lachen alle über mich!“, schniefte er.
„Na, komm. Das passiert doch sogar Profispielern. Mach einfach weiter!“
„Nein, ich mag nicht mehr. Ich mag überhaupt nie mehr Fußball spielen! Darf ich bei dir drinnen bleiben? Liest du mir was vor?“
„Hmm, ja, gut. Geh ins Wohnzimmer und such ein Buch aus!“
„Boah, Omi, was ist das für ein Kästchen?“
„Nicht anfassen, bitte.“ Verflixt, sie hatte ihren wohl gehüteten Schatz herumstehen lassen.
„Aber es ist sooo schön.“ Ein schmutziger Kinderfinger strich über den Samt. „Darf ich mal reingucken?“
„Gut, aber vorsichtig! Es ist Sternenstaub drin.“
„Sternenstaub? Der silberne Sand da? Echt? Ach nee, Oma!“
„Doch, du kannst mir glauben! Es ist ein ganz besonderes Kistchen.“
„Erzähl! Biiiitte!“
„Dann setz dich zu mir. Als ich klein war, spielte ich nicht gern mit anderen Kindern. Die waren mir meist zu wild.“
„Genau wie ich.“
„Genau wie du. Die Erwachsenen schimpften mit mir deswegen. Nur einer hatte Verständnis: mein Onkel Heinrich. Der saß im Rollstuhl und war immer zuhause. Er besaß ganz viele Bücher. Oft las er mir vor. Später, als ich größer war, lasen wir abwechselnd.“
„Genauso wie ich und du, Oma.“
„Ja, Joshi, genauso wie du und ich. Onkel Heinrichs Krankheit wurde schlimmer und schlimmer. Schließlich fiel ihm sogar das Atmen schwer und er konnte nicht mal mehr vorlesen.“
„Aber das Kästchen, Oma!“
„Onkel Heinrich hat es mir geschenkt. Er bekam es von seiner Tante Lisa, und die hatte es von ihrer Oma Netty. ‚Es ist etwas ganz Besonderes!’ sagte er zu mir. ‚Immer, wenn du traurig bist, schau hinein und denk an mich.’ Einige Tage später verstarb er. Ich war untröstlich, aber auch wütend, dass er einfach gegangen war. Ich habe die Schachtel ganz hinten in den Schrank geschoben, wo ich sie nicht sehen musste. Erst ein paar Wochen später, als ich unsere Schmökerstunden vermisste, habe ich sie hervorgeholt, und, wie Onkel Heinrich gesagt hatte, hineingeschaut und ganz fest an ihn gedacht …“
„Weiter, weiter!“
„Tja, Joshi, fast hätte ich es fallen lassen vor Schreck. Im Sternenstaub erschien nämlich plötzlich ein Bild. Der Umriss von einem kleinen Mädchen mit abstehenden Zöpfen.“
„Pippi Langstrumpf?“
„Ja, richtig. ‚Pippi Langstrumpf’ war uns das Liebste von unseren Büchern gewesen. Ich sah also Pippi Langstrumpf im Sternenstaub und war ziemlich durcheinander. Ich habe ‚Onkel Heinrich?’ in das Kistchen hinein geflüstert, immer wieder!“
Joshuas Augen wurden groß. „Und dann?“, flüsterte auch er.
„Und dann? Nichts. Nur das Bild von Pippi. Da habe ich mir das Buch geholt und darin gelesen. Allein. Aber es war trotzdem schön. Ich fühlte mich getröstet …“
„Oma? … Oma!“
„Ab dem Tag habe ich oft in die Dose hineingeschaut. Immer entstand im Sternenstaub ein Hinweis auf ein bestimmtes Buch, welches ich mir dann vornahm. So kam ich nach und nach auch ohne Onkel Heinrich zurecht.“
„Und jetzt? Passiert es immer noch?“
„Warte, ich bin noch nicht fertig. Eines Tages, ich war vierzehn Jahre alt, formte sich ein Bild, das hatte mit keiner mir bekannten Erzählung etwas zu tun, soviel ich auch überlegte. Es war ein Adler. Ich bekam schlechte Laune und wusste nicht weiter. Vor Langeweile habe ich schließlich meine Hausaufgaben gemacht. Da gab es eine, die schob ich schon länger vor mir her: ein Aufsatz. Na, eigentlich war es eine Strafarbeit …“
„Du? Eine Strafarbeit?“ Joshuas Augen blitzten interessiert.
„Früher waren die Lehrer mit Strafen schnell bei der Hand!“, verteidigte sich Sarah lahm.
Joshua grinste. „Und da hast du über den Adler geschrieben.“
„Genau, mein schlaues Kerlchen. Die Geschichte floss nur so aus meinem Füllfederhalter heraus und wurde, wie ich fand, wunderschön.“
„Und der Lehrer? Fand der sie auch wunderschön?“
„Ja. Er war begeistert. Ich musste sie in meiner Klasse vortragen …“
„Boah, toll!“
„Na ja, ich fand das peinlich, es war immer noch eine Strafarbeit. Aber ich hatte entdeckt, dass mir das Schreiben viel Spaß machte, meiner Phantasie freien L …“
„Aber Oma, die Schachtel?“
„Entschuldige, Joshi, ich schweife ab. Im Sternenstaub erschienen immer neue Bilder. Und ich hatte verstanden, dass ich daraus meine eigenen Geschichten machen sollte.“
„Und so kam es, dass du Schriftstellerin wurdest!“, sagte der Kleine gewichtig.
„Jawohl, Mister Neunmalklug, so kam es, dass ich Schriftstellerin wurde. Und am liebsten habe ich für euch Kinder geschrieben.“
„Und ich liiiebe alle deine Bücher!“
„Du bist mein Schatz!“ Sie musste über den pathetischen Klang seiner Stimme lachen. „Komm, jetzt machen wir dir einen heißen Kakao und mir einen Kaffee, und dazu gibt es Plätzchen.“
„Au ja!“
Sarah war froh über die Unterbrechung. Das Gespräch wühlte sie mehr auf, als sie zeigen wollte. Joshua baumelte mit den Beinen, pustete in seine Tasse und war ungewöhnlich still.
„Oma, kannst du es mal machen?“, fragte er plötzlich.
„Was denn?“
„Kannst du mal reingucken und ich lauere über deine Schulter und ich kann es auch sehen?“
„Ach Joshi, seit ein paar Wochen funktioniert es nicht mehr. Und ich weiß auch gar nicht, ob ein anderer hätte mitgucken können.“
Joshua machte ein langes Gesicht. „Doch, mach mal, Oma. Es klappt bestimmt!“
Sie nahm die Dose in die Hand. Joshua kletterte flink auf den Stuhl und lugte, seine Wange an ihrer Wange, hinein.
„Denk ganz fest an Onkel Heinrich!“, riet er.
„Das mach ich, aber du siehst ja, es geschieht nichts.“ Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bekümmert klang.
„Du hast das aber nicht erfunden, oder? Du wolltest mir nur eines deiner Märchen erzählen! Ich habe dir geglaubt! Und am Ende stimmt alles gar nicht!“ Vor Enttäuschung schluchzte er auf.
„Jedes Wort stimmt“, sagte Sarah müde.
Joshua kniete sich hin und schob seine Nase so vorsichtig über die Dosenöffnung, als erwarte er einen Springteufel.
„Nichts!“ sagte er wütend. „Nichts als blöder, toter Sand. Von wegen Sternenstaub! Das war gemein von dir, Oma. So eine bescheuerte Kiste. Ich wünschte, du hättest mir nie – Aaaaah!“ Er warf sich heftig nach hinten.
Erschrocken schnappte Sarah den kippenden Stuhl. „Was ist denn?“
„Ein Salamander! In der Dose!“
Sie sah hinein. „Da ist nichts!“
Joshua beugte sich wieder über das Kästchen. „Doch, Oma! Siehst du?“ Sarah linste an Joshuas Kopf vorbei. Tatsächlich. Im Sternenstaub war eindeutig die Form eines Salamanders zu erkennen. Betroffen sank sie auf die Küchenbank und starrte ihren Enkel gedankenverloren an, der aufgeregt plapperte. Ihre nächste Geschichte handelte von einem Salamander. Sie kam jedoch nicht recht weiter, wahrscheinlich, weil die Dose ihr nicht mehr den entscheidenden Stups gab. Die Salamandergeschichte würde wohl, wie vorher schon die von Zwerg Remy, unvollendet in der Schublade landen.
„Omi, ein Zwerg, ein Zwerg!“, jubelte Joshua.
„Ja, ja“, murmelte sie zerstreut.
„Häschen Lülü beweist Mut“ war die letzte Erzählung, die sie zustande bekommen hatte. Das war jetzt schon gut zwei Monate her.
„Jetzt ein Kaninchen, ein Kaninchen!“
Endlich drangen Joshuas Worte in ihr Bewusstsein. „Was sagst du da, Joshi? Ein Kaninchen, ein Hase? Und vorhin ein Zwerg?“
„Ein Salamander, ein Kaninchen und ein Zwerg!“
Sarahs Herzschlag stockte, als sie begriff. Konnte sie … mit Joshua … das wäre ja … oder war alles nur Zufall? Sie schloss die Augen und dachte angestrengt an ein Schloss.
„Eine Burg jetzt, Omi! … Warum bist du plötzlich so komisch?“
Sie zwang sich zur Ruhe. „Joshi. Hör mir zu. Ich möchte dir die Dose schenken.“ Wilder Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen.
„Was?“, machte der Kleine ungläubig. „Mir?“
Ernst blickte sie ihn an. „Die Dose hat mich durch mein ganzes Leben begleitet. Aber sie zaubert für mich nicht mehr. Sie zaubert jetzt für dich! Darum sollst du sie haben. Gib gut Acht auf sie!“
Sprachlos nahm er das Kistchen in seine Hände.
„Und noch etwas, Joshua. Sollte ich einmal nicht mehr bei dir sein können, sei nicht traurig. Du brauchst nur …“ Sie brach ab, konnte aber nicht verhindern, dass ihr eine Träne die Wange hinunterlief.
Verständnislos sah Joshua sie an. „Weinst du, Oma?“
„Mach dir keine Sorgen!“ Sie riss sich zusammen. „Das sind nur meine dummen, alten Augen. Mir geht es gut. Möchtest du auf meiner Schreibmaschine schreiben?“
Erfreut sprang Joshua auf. „Ja, hurra!“ Alles war vergessen über der seltenen Freude, auf dem altmodischen Ding herumtippen zu dürfen.
Als Joshua schließlich abgeholt wurde, war Sarah erleichtert. Ruhelos strich sie von Zimmer zu Zimmer, nahm hier etwas in die Hand, rückte dort etwas zurecht und kämpfte gegen ihre beklommene Stimmung an.
„Geh schlafen, alte Dame!“, sagte sie laut zu sich selbst. „Du misst dem zuviel Bedeutung bei. Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus.“
Sie konnte lange nicht einschlafen. Endlich entspannte sie sich und sank in wohltuenden Schlaf.
„Sarah, Sarah! Wach auf!“ Sanft rüttelte jemand an ihrer Schulter.
Verwundert schlug sie die Augen auf. „Onkel Heinrich! Du?“
„Ja, Sarah. Ich bin gekommen, um dich zu holen.“
„Mich zu holen? Aber …“
„Na, komm schon, Sarah, es wird Zeit.“
Sie stand auf und folgte ihm. „Aber wo ist denn dein Rollstuhl?“
Heinrich lachte: „Den brauche ich schon lange nicht mehr …“
Letzte Aktualisierung: 26.01.2009 - 14.52 Uhr Dieser Text enthält 10212 Zeichen.