Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Es war einmal ein König, der regierte ein Reich, welches nur durch den Glauben der Menschenwelt an seine Untertanen existierte. Deshalb tat er alles, damit dieser Glaube nicht verloren ging. Zur Motivation seines Volkes rief er eine Preisverleihung aus, die seit Anbeginn der Phantasie alle dreihundert Jahre stattfand. Geehrt wurden diejenigen, denen es gelungen war, einen festen Platz in den Herzen der Menschen einzunehmen. Heute war es wieder soweit. Man hatte sich im riesigen Saal des Schlosses versammelt, nachdem ein jeder über den roten Teppich geschritten war. Wirklich jeder?
Agathe gähnte herzhaft und blickte sich erschrocken um. Hoffentlich hatte niemand bemerkt, dass sie den Worten des Herrschers über ihr kleines Reich so halbherzig lauschte. Die Ruhe, die nur durch den monotonen Singsang der üblichen Reden unterbrochen wurde, beruhigte sie wieder. Sie presste die Schnabelspitzen fest aufeinander und versuchte, den Worten des Phantasieministers zu folgen, der gerade dabei war, die Taten der hier versammelten Wesen zu preisen. Aber es gelang ihr nicht. Das alles hatte sie so oder so ähnlich fast aufs Wort genau schon zu oft gehört. Ihr Blick schweifte ab und somit auch ihre Gedanken.
Mit welchen Hoffnungen und Träumen hatte sie die große Halle zum ersten Mal betreten! Damals, als sie noch jung war und ihr schwarzes Gefieder glänzte wie kein zweites. Als sie noch dachte, sie würde ein eigenes Märchen bekommen. Aber alles kam anders. Und der Grund dafür saß da vorn in der zweiten Reihe und flirtete mit einem der Schwaben. Vergeblich hatte Agathe auf das Mädchen eingeredet, dass Wein und Kuchen für einen Krankenbesuch bei der Großmutter doch wohl reichen und dass man auf Mütter hören sollte, auf Wölfe dagegen nicht. Es hatte nichts genützt und sie verbrachte den halben Tag damit, nach dem Jäger zu suchen, damit die beiden nicht im Bauch des Wolfes erstickten. Es kam wie es kommen musste: Die Canis Lupi verklagten Agathe und sie war untragbar geworden. Es half auch nicht, dass die Story sich hervorragend verkaufte, denn sie kam darin nicht mehr vor. Sie schüttelte den Kopf. Hochnäsiges Ding! Rotkäppchen hatte sich nicht einmal bedankt.
Die Fee der Güte betrat die Bühne und versprach sich kurz zu fassen. Agathe seufzte, denn sie wusste aus Erfahrung, dass dies ein leeres Versprechen war. Ihre gelben Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als sie die zwei Kinder im Publikum entdeckte. Hänsel und Gretel. Keinen Tag gealtert, äußerlich immer noch unschuldig und dennoch hatten sie ihren Ruhm Agathes Eingreifen zu verdanken. Sie sah noch heute die angstgeweiteten Augen des Mädchens vor sich, ihre Hilflosigkeit im Angesicht des Ungeheuerlichen. Konnte immer noch die Erleichterung des Jungen spüren, nachdem sie die Hexe zu Fall gebracht und seinen Käfig geöffnet hatte. Dankbarkeit bekam sie dafür nicht. Nie hätte sie die beiden zu dem Gold und den Juwelen der Alten führen dürfen!
Ein Tusch riss sie aus ihren Gedanken. Die Wahl der Jury wurde nun bekannt gegeben, aber da hörte Agathe endgültig nicht mehr zu. Die meisten der Geehrten kannte sie nicht, zu neu waren ihre Geschichten. Nur ab und zu schaute sie neugierig nach vorn, wenn jemand aufgerufen wurde, der seine Berühmtheit ihr zu verdanken hatte. Gerade wurde der Preis für Schönheit überreicht. Mit Grausen dachte Agathe daran, was wohl passiert wäre, wenn sie den Förster nicht dazu hätte bringen können, Schneewittchen laufen zu lassen. Das war gar nicht so einfach gewesen! Erst als sie behauptete, sie wäre Gott, war er bereit, den Gehorsam seiner Königin gegenüber zu brechen. Sie schmunzelte. Das hätte ganz schön schief gehen können.
Der Preis für Mut ging an den Prinzen, der die Dornenhecke durchdrungen hatte. Stolz schritt er auf die Bühne und Agathe hatte nicht schlecht Lust, ihn daran zu erinnern, wer ihm das Loch im Rosenbusch gezeigt hatte. Nur ihre Sympathie für Dornröschen hielt sie davon ab. Die Trophäe für Empfindsamkeit bekam eine junge Frau überreicht, die heute nur noch als Prinzessin auf der Erbse bekannt war. Dabei hätte die nicht mal eine Kokosnuss gespürt. Agathe war es gewesen, die ihr das Gemüse gezeigt und von den Absichten des Königspaares erzählt hatte. Für Schlauheit wurde das Igelpaar ausgezeichnet. Agathe und der Hase wechselten einen kurzen Blick, er nickte ihr anerkennend zu und ihr war klar, dass er Bescheid wusste. Natürlich wären die beiden nie im Leben alleine auf die geniale Idee zu dem Wettrennen gekommen,
Agathe schluchzte leise auf. Hatten sie denn alle vergessen? War Undank wirklich der Welten Lohn? Sie war plötzlich nicht mehr bereit, sich diese Farce länger zuzumuten. Langsam erhob sie sich, um den Saal zu verlassen. Gerade wollte sie ihre Flügel ausbreiten, da erstarrte sie und zog den Kopf ein. Der König sprach von einer Krähe, die im Verborgenen wirkte und der sie alle viel zu verdanken hätten. Deshalb sollte sie heute geehrt werden, für ihren Mut, ihren Ideenreichtum und ihre Hingabe für andere. Agathe. Sie hörte Kleiderrascheln und Stühlerücken, dann war es still um sie herum. Sie wagte nicht zu atmen. Jemand klatschte in die Hände und langsam stimmten andere mit ein, bis der ganze Saal von Applaus erfüllt war. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sogar der Kater ihr huldigte. Durch eine Unachtsamkeit war sie ihm einst in die Krallen gefallen und konnte sich nur durch ihre Ratschläge am Leben halten. Im allgemeinen Trubel über den Tod des bösen Zauberers war sie entkommen und lebte seit dem in ständiger Angst vor dem Tier.
Langsam schritt Agathe durch das Spalier der Anwesenden. Der König persönlich überreichte ihr den Preis. Sie weinte Tränen der Freude und Rührung, bis ihr Gefieder ganz nass davon war. Als sie ein paar Worte des Dankes sagen wollte, schnürte ihr das Glück die Kehle zu, so dass nicht mehr als ein Krächzen herauskam, deshalb verneigte sie sich nur. So tief, dass ihr Schnabel den Boden berührte.
Und wenn sie nicht gestorben ist, dann erzählt Agathe, die Krähe, noch heute von ihrem Einfluss auf das Märchenreich, von dem rauschenden Fest, welches ihrer Ehrung folgte und von Wesen, die manchmal mehrere Jahrhunderte brauchen, um Danke zu sagen.
Letzte Aktualisierung: 20.01.2009 - 00.07 Uhr Dieser Text enthält 6281 Zeichen.