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Märchen | Januar 2009
Das Märchen von Dr. Mehltau
von Werner Vogel

Es war einmal ein wichtiges Seminar in einem prachtvollen Hotel in der grünen Mark. Alle guten Lehrerinnen und Lehrer des Landes Ostreich waren zugegen, weil sie Neues erfahren wollten über ihren edlen Beruf – und weil ihr Präsident es ihnen befohlen hatte. Und dies nicht ohne Grund: Die düsteren Weissagungen der allmächtigen PISA-Studie über den Geist der Jugend, die irgendjemand zu wohlfeilem Preise durchgeführt hatte, waren gar übel ausgefallen. Sogar die glorreichen Parallelkönige Werner der Schöne und Josef der Einfache machten sich Sorgen, was mit den lieben Mägdelein und Knaben Ostreichs nun noch anzufangen sei im wichtigen Wettbewerb des weltweiten Erddorfes.

Also saßen all die Pädagogen und Pädagoginnen viele Tage und Nächte zusammen und dachten nach, redeten viel und aßen und tranken noch mehr. Am letzten Abend hatten sie endlich ein Referendum fertig. Ihre ganze Weisheit steckte in diesem Dokument, das ihr Sprecher, der ehrenwerte Oberstudienrat Mag. Dr. Prof. h. c. Mehltau, nach feierlichem Hüsteln verlas: „Wir, die Unterrichtenden des herrlichen Landes Ostreich, bezeugen hiermit vor unseren geliebten Herrschern Werner und Josef und vor Gott, dass wir in Zukunft unserem Nachwuchs vorrangig jene Prinzipien beibringen wollen, die uns selbst in Fleisch und Blut übergegangen sind, die uns samt und sonders unabdingbar erscheinen und die da wären: Ehrfurcht und Respekt vor den Altvorderen, Liebe zu unseren Schützlingen, Nächstenliebe, Offenheit anderen Kulturen und Religionen gegenüber, Respekt des Mannes für die Frau und vice versa, Wissensdurst, Verständnis für die Wunder der Natur und am Ende Fleiß, Fleiß, Fleiß. Diese Tugenden, die wir selbst leben und lieben, schwören wir mit allen uns erlaubten Mitteln zu verbreiten und zu verteidigen, wenn es sein muss auch unter Einsatz unseres Lebens, es sei denn, man versuche dabei unsere spärliche Freizeit zu kürzen!“

Groß war nach der Verkündigung der Jubel im Saale. Der Abend endete nach ungezählten Trinksprüchen in einem wilden Gelage, aus dem Dr. Mehltau sich zu später Stunde entspannt grinsend und der charmanten Kollegin Frau Dr. Süßholz finale Kussmündchen zuwerfend auf seine schlichte Kammer mit Whirlpool und Plasma-TV zurückzog. Bald fiel er in seinem Himmelbettchen in einen bleiernen Schlaf.

Im Traume jedoch war der Oberstudienrat nicht allein. Die goldene Wahrheitsfee schwebte in einem winzigen weißen Hubschrauber mit dem Staatswappen darauf herbei, welcher – potzblitz! – auf seiner Nasenspitze landete. Die listige kleine Fee sprang heraus aus dem Helikopter, huschte über den rechten Nasenflügel des Träumers hinab, kämpfte sich hoch durch seinen grauen Backenbart und erreichte schließlich seine haarige Ohrmuschel, in die sie fröhlich zirpte: „Ihr habt schöne Grundsätze aufgestellt, aber einen habt ihr vergessen. Dieser eine lautet schlicht: Erkenne die Wahrheit! Damit du das Prinzip besser verstehst, werde ich dir ein wenig Wahrheitsstaub in die verstopften Gehörgänge blasen. Die Dosis wird ausreichen, dass die Menschen dir einen Tag lang ihre wirklichen Gedanken verraten werden, ohne dass sie es selbst bemerken. Höre und staune, Mehli! Vorsicht, jetzt wird’s ein bisschen kitzeln!“ Nach diesen Worten holte die Fee tief Luft und blies dem schnarchenden Oberstudienrat ein rotes Wahrheitswölkchen ins Ohr, das sich gewaschen hatte – nämlich das Wölkchen, nicht das Ohr! Und tatsächlich, es kitzelte gewaltig. Dr. Mehltau erwachte.

Draußen war bereits ein strahlend schöner Tag angebrochen. Die geschäftigen Stimmen der emsig abreisenden Seminarteilnehmer drangen durch das offene Fenster herein. Obwohl Mehltaus Schädel gewaltig brummte, kleidete der Pädagoge sich rasch an und verließ seine Kemenate. Am Eingang zum Speisesaal stieß er, versunken in gute Gedanken an ihr epochales Manifest, um ein Haar mit einem Mundschenk zusammen, der ihn daraufhin freundlich anlächelte und sagte: „Na, Fettwanst, kannst du deine Augen nicht aufhalten? Zu viel gesoffen gestern, Kreidekopf?“ Dr. Mehltau war von den rüden Worten des dreisten Knechts so betroffen, dass er wie benommen weitertorkelte. Als er Frau Dr. Süßholz an der Tafel erspähte, mit der er dereinst schon so manchen pädagogischen Diskurs bis tief in die Nacht geführt hatte, näherte er sich ihr in der Absicht, ihr sein Herzeleid zu klagen. Die Dame begrüßte ihn mit den sanft gegurrten Worten: „Mehltau, du aufdringlicher Machoarsch, du permanent entzündeter Schleimbeutel, wieso trägst du nicht meine Koffer hinaus? Das Märchen von den Rückenschmerzen kannst du höchstens deinen verblödeten Schülern aufbinden, damit sie dir deine Aktentasche schleppen, du fauler Sack!“ Zwei Plätze weiter rief in diesem Augenblick Mag. Feinbier, seines Zeichens Beauftragter für Integration der Gäste aus fremden Ländern in der glänzenden Reichshauptstadt Weindobeinah: „He, Schankbimbo, gibt es in Afrika nur Ramadan-Pausen? Wo bleibt mein Frühstücksei? Elendes Dealer-Pack!“ Aus der Küche hallte die sonore Stimme des afroamerikanischen Aushilfstruchsesses zurück: „Kommt schon, du weißer, ranziger Semmelknödel! Vorher aber, sei’s drum, spucke ich dir degeneriertem Kleininquisitor noch in deinen schwächelnden Tee!“ Der italienische Kutscher, der für die Gemeinschaftskarosse zuständig war, betrat jetzt den Saal und verkündete in gebrochenem Ostreichisch: „Ihr halbgebildetes Büchermaden, hebt euer fettes Hintern, sonst ich fahren solo! Das Motor läuft!“ „Du gefälligst warten, stumpfsinniger Katzelmacher, bis wir fertig, verstanden?“, entgegnete ihm ohne Zögern ein vielstimmiger Chor. Ein junger Kollege aus dem ländlichen Gebiete Oberostreichs ergänzte noch: „Lass eben laufen den Motor, fremder Dillo! Oder hast du Angst um unsere Natur? Mach’ dir da keine Sorgen, auf die scheißen wir schon selbst, immerhin ist sie ja unsere!“ Für diesen herzhaften Scherz erntete er gar viele Lacher. Also fügte er hinzu: „Süßholz, überwuzelte Schlampe, willst du nachher neben mir sitzen? Du darfst mich auch ein wenig abgreifen!“ Dr. Süßholz replizierte frohgemut: „Ei freilich, präpotenter Hohlkopf! So kann mich Mehltau, der widerliche Geilspecht, nicht ohne Unterlass ansabbern.“ Der fünfjährige Sohn des Hotelbarons, der zwischen den Tischbeinen herumkroch, verkündete in die kurze Stille: „Nachdem ich euch kennen gelernt habe, will ich nie, nie, nie in eine Schule gehen!“, und die schwarze Hauskatze schnurrte: „Wie war das gemeint mit der Natur? Ich scheiße ja auch täglich auf sie, das ist doch in Ordnung, oder? Aber was frage ich euch, die ihr euch nicht einmal ohne Hilfsmittel selbst waschen könnt?“

Blass vor Entsetzen stand Dr. Mehltau wie angewurzelt und starrte in die verwunschene Runde, die dazu verdammt war, ihre tatsächliche Meinung zu äußern, ohne es zu merken. Die Wahrheit aber hatte der Oberstudienrat sich anders vorgestellt. Entrüstung über die niedrige Gesinnung seiner Zunftgenossen stieg in ihm hoch. Er musste sie zu innerer Einkehr mahnen, sie wieder auf den Pfad der Ehre lenken, jawohl, das war fürwahr seine Pflicht! In heiligem Zorn brüllte er: „Klappe! Seid ihr denn noch stärker verblödet als gestern? Ich verbitte mir abfällige Bemerkungen über das fremde und das eigene Gesindel in meinem Land! Der Mensch allgemein ist doch bloß ein schauriger Irrtum der Evolution, das merkt jeder, der noch über ein Milligramm Resthirn verfügt! Ihr also natürlich nicht! Quatscht mir außerdem nicht die Ohren voll von der ekeligen Natur! Da muss ich kotzen! Wenn man sie ließe, würde die Natur uns ausradieren, und zurecht! Auch über unsere missratenen Schüler, diese verhätschelten Nullsummenspieler, will ich nichts mehr hören! Sollen sie doch allesamt „Fang den Hut“ studieren! Wie hätten sie sich auch anders entwickeln sollen, mit ihren habgierigen, weinerlichen Patchworkeltern und uns als Vorbildern? Und du, Süßholz, du flittchenhafte femme fatal für Arme, zieh’ endlich einmal deine ohnehin transparente Bluse aus! Ach ja, noch eines: Fuck PISA!“

Kaum hatten diese bösen Worte seine Lippen verlassen, wäre der Professor h. c. am liebsten im Erdboden versunken. An den entsetzten Gesichtern der Angesprochenen konnte er deutlich erkennen, dass ihnen seine Äußerungen durchaus nicht entgangen waren. Lautes Murren der Missbilligung dröhnte durch den Saal und durch Mehltaus Kopf. Die Wahrheitsfee, diesmal als Fliege verkleidet, die mit tausend anderen Fliegen an einer vom Deckengewölbe baumelnden Honigpapierspirale klebte, summte ihm kichernd zu: „Meine Güte, Mehli, das war tapfer! Du selbst darfst aber freilich nichts sagen, hab’ ich das zu erwähnen vergessen? Dir entfleucht ja auch die Wahrheit, aber durch meinen Staub so stark, dass sie jedermann verstehen kann. Jedermann! Also los, flieh! Lauf, Mehli, so weit deine schwachen Paukerbeinchen dich tragen können, und lass dich niemals mehr im Umkreis einer Schule blicken!“

Und Oberstudienrat Mag. Dr. Mehltau folgte augenblicklich dem Rat der Wahrheitsfee. Hinaus stürzte er aus dem luxuriösen Hotel, hinein in den dunklen Wald, hatte er doch die schlimmste Untat begangen, die es in ganz Ostreich gab, nämlich laut seine ehrliche Meinung zu sagen. Als am nächsten Tag die Wirkung des Wahrheitsstaubes vergangen war, schlich Mehltau in ein Dorf zurück, in dem es keine Schule gab, und hielt am Marktplatz geschliffene Reden über Toleranz, menschliche Werte und Moralbegriffe, die jedoch niemand hören wollte. Mit Schimpf und Schande wurde er von den einfachen Menschen davongejagt. Daraufhin zog er sich endgültig in die Wildnis zurück, wo er manchmal von vorwitzigen Bauernkindern dabei belauscht wurde, wie er sich selbst in monotonem Tonfall all das vorlog, woran er einst seine Überzeugungen festgeknüpft, ja eher aufgeknüpft hatte. Ausgeschlossen aus der Gemeinschaft Ostreichs vegetierte Dr. Mehltau fortan in modrigen Höhlen oder vergessenen Müllcontainern vor sich hin. Die Wahrheitsfee aber, das ist gewiss, die ließ sich nie wieder blicken. Und wenn er nicht gestorben ist, so belügt er sich noch heute.

Letzte Aktualisierung: 02.01.2009 - 18.13 Uhr
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