Es war einmal … so beginnen alle Märchen. Wie auch sonst? Schließlich war es einmal…
In unserem Fall handelte es sich um einen kleinen Jungen. Sven hatte blonde Locken und trug seine Haare etwas länger als seine Schulkollegen, weshalb er oft gehänselt wurde. Aber er wusste, dass seine Großmutter die wuscheligen Locken so süß fand, dass sie in Euphorie verfiel, wenn sie ihm über die Haare strich, worüber er sich – ehrlich gesagt – sehr freute. Und eigentlich gefiel ihm seine Frisur.
Es war verblüffend, wie ähnlich Sven seiner Großmutter sah. Auch sie hatte lange blonde Locken und auf ihrer Nase saßen zahlreiche Sommersprossen. Angeblich hatte er die von seiner Mutter geerbt, aber an sie konnte Sven sich nicht mehr erinnern. Die Großmutter war alles andere als eine alte Dame. Sie war noch keine Fünfzig und viel dynamischer als so manche zwanzigjährige Frau.
Svens Großmutter war ein Energiebündel. Sie fühlte sich in der Mitte ihres Lebens wohler als je zuvor. Den Tod ihrer einzigen Tochter hatte sie nie richtig überwunden, doch war sie sich jetzt sicher, dass der Tod sie nie richtig trennen konnte. In ihrem Herzen lebte sie weiter, und im Wesen ihres Sohnes Sven fand sie so viele Parallelen, dass sie ihn oft liebevoll in die Arme nahm und sich einbildete, es wäre sie.
Natürlich war die Großmutter arm wie eine Kirchenmaus. Sie lebte mit ihrem Enkel in einer kleinen Mietwohnung und arbeitete in einem großen Hotel als Zimmermädchen. Doch das Geld reichte gerade, um sich und ihrem Enkel alles Notwendige zu kaufen. „Warum verkaufen wir nicht unsere Hütte“, schlug Sven vor, als die Großmutter weinend und fluchend versuchte, die Waschmaschine wieder in Gang zu bringen.
„Dann kannst du dir eine neue Waschmaschine kaufen“, versuchte er ihr zu erklären. Doch er verstand nicht, warum sie ihn so erschrocken ansah.
„Nie im Leben!“ zischte sie, „eher wasche ich die ganze Wäsche mit der Hand!“
Sven mochte die kleine Hütte am Waldrand auch sehr, aber er wollte nicht, dass sich die Großmutter ständig Sorgen um das Geld machen musste, und soviel verstand er schon, dass er wusste, dass sie für das kleine Häuschen soviel Geld bekommen würden, um eine Weile gut über die Runden zu kommen.
Er wusste aber nicht, dass das Herz seiner Großmutter mit jeder Faser an dieser kleinen Hütte am Waldrand hing.
Ihr Vater hatte sie gebaut. Ein kleines Stückchen Wald und eine große Wiese gehörten auch dazu. Und sie musste am Sterbebett ihrem Vater versprechen, sich nie von diesem Grundstück zu trennen. Und dieses Versprechen gab sie ihm gerne, da sie ihren Vater über alles liebte. Nie im Leben hätte sie alles verkauft. Eher würde sie noch härter arbeiten.
Langsam erhob sie sich vom Boden, denn sie hatte vor der Waschmaschine gekniet, und mit einem großen Putztuch die Wasserlache entfernt.
Sie nahm Sven bei der Hand und führte ihn ins Wohnzimmer.
Er spürte, dass sie nicht böse auf ihn war, weil sie ihm diesen Vorschlag gemacht hatte, er wusste aber auch, dass er ein sehr heikles Thema angesprochen hatte.
„Ich weiß, dass du denkst, dass das Waldhaus keinen Sinn hat, weil wir fast nie dort sind. Ich möchte eigentlich viel öfter hinfahren, aber du weißt, dass wir das Geld für die Fahrkarten nicht haben“, sie hielt einen Augenblick inne. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass sie sich wirklich nichts leisten konnten. Und sie dachte wehmütig an die Waschmaschine. Was, wenn sie sich wirklich nicht mehr reparieren ließ?
„Mein Vater hat dieses kleine Haus mit seinen eigenen Händen gebaut. Meine Mutter hat es liebevoll eingerichtet und wir verbrachten jedes Jahr die Ferien dort. Das Häuschen ist meine Kindheit, meine Erinnerungen. Als mein Vater starb sagte er, dass es ihm leid täte, dass er mir nicht mehr hinterlassen könne als diese Hütte, aber er betont auch, dass es sein ganzer Schatz war. Und ich versprach ihm, dass ich gut darauf aufpassen würde.“
Nachdenklich schaukelte sie Sven auf ihren Knien.
„Mir fällt gerade ein, dass er auch sagte, dass mir das Häuschen einmal sehr viel Glück bringen würde“ fügte sie dann hinzu.
„Aber wie hat er das gemeint? Wie kann eine Hütte Glück bringen?“ fragte Sven mit kindlicher Naivität.
Die Großmutter zuckte die Achseln. Sie hatte selbst keine Ahnung. Außerdem hatte sie das schon ganz vergessen gehabt.
Plötzlich überfiel sie eine so große Sehnsucht nach diesem kleinen Häuschen, dass sie aufsprang, Sven an den Schultern nahm und mit Nachdruck sagte:
„Packe ein paar Sachen ein. Wir fahren übers Wochenende zur Hütte!“ sie fühlte sich sehr aufgewühlt.
Sven tat wie ihm geheißen, während die Großmutter ihren Notgroschen aus der kleinen Dose nahm, die sie ganz hinten im Küchenschrank stehen hatte. Es hätte nicht einmal für eine halbe Waschmaschine gereicht, also war es egal. Für die Fahrkarten reichte es allemal.
Am nächsten Tag verließen sie schon ganz früh die Wohnung. Sven war noch ganz zerzaust und müde, als er in den Zug stieg. Er schlief sofort wieder ein, während die Großmutter die Landschaft beobachtete, die an ihnen vorbeizog. Seltsame Gefühle suchten sie heim, wirre Träume, die sie in der Nacht hatte, verfolgten sie. Vor ihren Augen sah sie immer wieder ihren Vater, der sie anlächelte und sagte: „Es ist an der Zeit!“
Sie mussten noch ein Stück gehen, ehe sie den Wald erreichten. Die Großmutter nahm auch Svens Rucksack, damit er unbeirrt herumlaufen konnte.
Die Großmutter dachte nicht mehr an ihre Geldsorgen und die blöde Waschmaschine und die Sonne wärmte ihren Rücken während sie den kleine Berg hochgingen, um überglücklich die Hüttentüre aufzusperren. Sven half ihr dabei alle Fenster aufzureißen, um frische Luft hereinzulassen.
Die Frühlingssonne war schon ziemlich stark und auch die Blumen auf der Wiese reckten ihr ihre Köpfchen sehnsüchtig entgegen.
Die Großmutter lehnte im Türrahmen und genoss die Aussicht. In der Ferne sah man das Gebirge, das seine weißen Gipfel in den blauen Himmel streckte. Sie nahm diesen Frieden wahr, der einzigartig in der Natur ist. Dieser Frieden, der sich im Herzen ausbreitet und den ganzen Brustkorb weit werden lässt. Eine Wärme, die mit nichts zu vergleichen ist.
Sven hatte sich aus Stöckchen und Blättern kleine Segelboote gebastelt, die er auf dem Bach hinter dem Haus abwärts fahren ließ.
Da erschien auf einmal eine wunderschöne Frau. Sven machte einen Satz nach hinten und landete auf seinem Gesäß.
Die Frau lachte. Sie war seltsam angezogen. So etwas hatte Sven bisher nur im Fernsehen gesehen. Sie hatte ein langes, wallendes, hellblaues Kleid an. Ihre langen blonden Haare gingen fast bis zu ihren Knien.
„Du bist ein guter Junge!“ sagte sie sanft zu ihm.
Sven wusste nicht, was er sagen sollte, nickte nur und schluckte.
„Hast du Angst?“ fragte sie ihn lächelnd und kam näher.
Sven schüttelte nervös den Kopf. Angst hatte er nicht wirklich, und doch war ihm die Situation ungeheuer. Kein normaler Mensch lief in solchen Klamotten durch den Wald. Außerdem: von wo war sie so schnell gekommen, ohne dass er sie bemerkt hätte?
„Ich bin eine Fee!“ erklärte sie ihm.
Aha, dachte er, konnte aber nichts darauf sagen.
„Dein Urgroßvater hatte recht, als er sagte, dass dies hier ein Schatz ist!“ begann sie. Jetzt richtete sich Sven wieder auf und ging einen Schritt auf die Fee zu.
„Ich weiß, dass das hier ein Schatz ist. Sieh dich doch um, Fee! Es ist so wunderschön hier, dass man gar nicht mehr weg möchte“, sagte er tapfer.
Die Fee nickte freundlich.
„Kennst du eigentlich den geheimsten Wunsch deiner Großmutter?“ fragte sie ihn.
Sven schüttelte den Kopf.
„Wie soll ich ihn kennen, wenn er geheim ist?“ fragte er, und verstand diese Frage nicht wirklich.
Die Fee lachte wieder. Der Junge war ihr sympathisch.
„Sie wünscht sich ein schönes Hotel, in dem sie die Chefin ist. Sie möchte die Gäste verwöhnen, ihnen einen wunderschönen Aufenthalt bieten… und sie wäre wirklich eine sehr gute Chefin!“, schloss die Fee.
Sven zuckte die Achseln. Dass seine Großmutter lieber die Chefin von einem Hotel wäre, als ein Zimmermädchen, das leuchtete ihm ein, aber das würde wohl nie so sein.
„Doch! Und du bist der Schlüssel dazu!“ sagte die Fee und zwinkerte ihm zu.
„Und wie kann ich ihr helfen?“ fragte er.
„Auf diesem Grundstück ist tief in der Erde eine Thermalquelle. Du musst deine Großmutter nur davon überzeugen, dass das stimmt. Eine Tiefenbohrung wird das bestätigen. Und einen Geschäftspartner wird sie finden. Sie hat so stark an ihren Wunsch geglaubt, dass er wahr werden wird“, mit diesen Worten war die Fee wieder verschwunden.
„Sven! Essen!“ rief die Großmutter und blickte um die Ecke.
Sven rieb sich die Augen.
„Bist du wieder eingeschlafen“, sagte sie, und näherte sich, um ihm auf die Beine zu helfen. Sven sah sich verstohlen um, er war verwirrt.
„Was hast du denn?“ fragte ihn die Großmutter besorgt, „geht es dir nicht gut?“
„Dooch“, sagte er und folgte ihr vor die Hütte, wo sie auf ein kleines Tischchen mit einfachen Lebensmitteln ein wundervolles Frühstück gezaubert hatte.
Als sie fertig gegessen hatten, begann Sven zuerst zaghaft, und dann mit Enthusiasmus von seiner Begegnung mit der Fee zu sprechen, um dann etwas leiser wieder hinzuzufügen, dass er glaubte, alles nur geträumt zu haben.
Die Großmutter schaute ihn entgeistert an, dann nickte sie langsam und ihr Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln.
„Genau dasselbe hat mir gestern Nacht mein Vater im Traum erzählt. Meinst du, dass etwas dran ist an dieser Geschichte?“ fragte sie, und sah gedankenverloren über die große Wiese.
Sven nickte heftig. Natürlich! Was war das für eine Frage!
Wie durch ein Wunder stand einem Bankkredit für die Tiefenbohrung nichts im Weg und die Existenz einer heilenden Thermalquelle war schnell bestätigt.
Noch heute betreut die Großmutter gemeinsam mit ihrem Enkel, der zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen war, das Hotel an einem der schönsten Fleckchen der Welt.
Die kleine Hütte steht noch immer am Waldrand, wohin sich die Großmutter immer wieder zurückzieht, um ihrem Vater und der Fee zu danken.
Jänner 2009
Letzte Aktualisierung: 16.01.2009 - 00.11 Uhr Dieser Text enthält 10231 Zeichen.