Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Überraschung | Februar 2009
Das Fenster
von Hajo Nitschke

Sie stiegen unermüdlich. Waren nach wenigen Stunden für einen möglichen Beobachter nur noch zwei winzige Punkte in der Wand. Tatsächlich aber gab es keine Zuschauer. Für ihren Aufstieg existierten weder ein Basislager noch das Interesse der Journalisten noch eine behördliche Genehmigung.

Weil sie am schnellsten auf den Gorunshasa II führte, hatten sich Kano und Botan für die Langshaw-Route entschieden, obwohl mit höchsten Schwierigkeitsgraden ausgesetzt. Frei kletternd schoben sie sich höher und höher. Unten versanken Einstiegsrinne, mittlerer Sattel und erste Querverschneidungen. Die üppige Vegetation des Gorunsha-Tales schmolz zu einem glatten Tuch grünen Samtes zusammen. Über ihnen ragte die Wand ins wolkenlose Blau. Scheinbar fugenlos, so weit das bloße Auge reichte. Wie der überdimensionierte Dom aus einer anderen Welt türmte sie sich in den Himmel. Verlor sich, teilweise überhängend, im Nichts.

Geduldig arbeiteten sie sich vorwärts. Langsam und sorgfältig jeden kleinsten Halt nutzend, den unerfahrene Kletterer leicht übersehen konnten. Gegen Mittag wurde das ferne Gipfelband allmählich schwach sichtbar. Nicht so unerreichbar, wie man hätte annehmen können. Dennoch verringerte sich die Entfernung zunächst scheinbar überhaupt nicht mehr.
Sie ließen sich davon nicht beirren. Blieben ruhig und konzentriert. Durch viele gemeinsame hochalpine Erfolge zusammengeschweißt, bedurfte es keiner Worte. Eine kleine Geste, ein kurzer Blick – sie konnten sich blind aufeinander verlassen.

Um den Gorunshasa zu bezwingen, war dies lebenswichtig. So viele Opfer hatte der Berg schon verlangt. Die sterblichen Überreste waren mitunter an schwer zugänglichen Stellen sichtbar. Gerade an der Langshaw-Route. Selbst für weniger zart besaitete Gemüter war dies ein entsetzlicher Anblick. An die eigene Vergänglichkeit gemahnend, an die Ungewissheit, eine solche Expedition lebend zu beenden. Gorunshasa II, eine oft tödliche Herausforderung für die Besten.

Als sie den Mittelsektor längst passiert hatten, griff das Unwetter-Monstrum an. Ohne Vorwarnung. Allen Prognosen zum Trotz hatte sich urplötzlich eine Kaltwetterfront aufgebaut. War in unwiderstehlichem Tempo herangerast. Eisiger Ostwind. Die Temperaturen fielen rasch ins Bodenlose und raubten ihnen die bisher gut eingeteilte Kraft. Aber sie mussten weiter. Der fauchende Drache versuchte, sie aus der Wand zu fegen. Heulte auf und steigerte sich in brüllende Schreie, unterstützt von peitschendem Regen und Hagel aus schmerzhaften Eisnadeln. Sie waren aus vielen Extremsituationen als Sieger hervorgegangen. Jetzt aber beschlich sie Todesfurcht. Angeklammert an die spiegelglatt gewordene Steilwand konnten sie so gut wie keinen Raum gewinnen. Die Südwand hatte sich von einer sanften Kathedrale in eine Albtraumfassade verwandelt.

Die Angst setzte neue Kräfte frei. Mal schienen sie am Gestein förmlich zu kleben, mal setzten sie den Aufstieg Stück für Stück fort, wenn das Ungeheuer eine kurze Atempause einlegte. Du darfst in solchen Momenten nicht zögern. Auch Warten kostet unter dieser Belastung viel Kraft, die danach für Weiterkommen oder Notabstieg fehlt. Trotz der Gefahr also hieß es: Weiter! Keine Panik zulassen. Stunden, die über Tod oder Leben entschieden. Sich fast zur Ewigkeit dehnten. Der Durchhaltewille Kanos fand Nahrung beim Gedanken an seine Lieben zu Hause. Es war, als übertrügen sich die frischen Reserven auch auf Botan, den ständigen Einzelgänger. Standhalten! Sie würden es schaffen. Wer, wenn nicht sie? Späteren Expeditionen würde der Anblick ihrer erfrorenen und zerschmetterten Überreste in der Südwand erspart bleiben. Mihoko, ich bin bald wieder bei dir. Verlass dich darauf. Botan und ich, wir kommen zurück!

Als hätte es ihren unbeugsamen Willen erkannt, gab das Untier auf. Kapitulierte vielleicht auch vor der Macht der Liebe. Mit enttäuschtem Grollen verschwand es in der Ferne. Hatte indessen die Kletterer im Zeitplan erheblich zurückgeworfen. Erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die Westflanke. Krochen erschöpft und vor Kälte zitternd in den Unterschlupf: Überbleibsel eines Camps, das frühere Teams hier auf dem schmalen Felsband errichtet hatten. Einem Adlerhorst gleichend, allerdings fragil und schwankend. Dennoch Zuflucht für alle, die wie sie das Ziel nicht binnen Tagesfrist erreichten, zu spät für den schnellen und leichten Abstieg über die Schulter und die Kobayashi-Route.

Abwechselnde Wache. Kurze Schlafintervalle. Aber das waren sie gewohnt. Extrembergsteiger müssen in der Lage sein, den Abgrund unter sich zu verdrängen. Abschalten, neue Energie gewinnen. Kurz nach Mitternacht schraken beide auf. In der Tiefe erschollen wie aus Geistermund Geräusche, die sie frieren ließen. Botan meinte sich zu erinnern, so etwas schon bei einem früheren Unternehmen gehört zu haben. Es ging das Gerücht um, verstorbene Seelen spukten an den Stätten ihrer einstigen Niederlage. Nie hatte indessen jemand die Quelle der entsetzlichen Laute ausfindig gemacht. Hier und jetzt wollten sie kein Ende nehmen. In hohem, langgezogenen Diskant, fast wie eine Totenklage, krochen sie heran. Überzogen die Steilwand mit an- und abschwellenden Gespensterweisen, um schließlich mit einem furchtbaren, ins Unvorstellbare gesteigerten Ton jäh abzubrechen. Starr vor Schreck vermochten sie nicht, sich zu rühren. Erst als es wirklich still blieb, setzte Kano seinen unterbrochenen Schlaf fort. Dieser verlief unruhig, als verfolgte ihn das schauerliche Singen in den Traum.

Zwei Stunden später weckte Botan seinen Partner. Nur schwaches Mondlicht, aber ausreichend. Der Sturm war nicht mehr zurückgekehrt. In mattem Glanz funkelten Sterne in der Schwärze des Firmaments. Kano hatte plötzlich für den Augenblick weniger Sekunden eine Vision. Als wölbe sich ihnen dort oben zwischen den vielen kleinen Himmelskörpern eine Art Fenster entgegen. Aber so schnell, wie sie gekommen war, war die Erscheinung verschwunden. Von Wolken verdeckt? Oder hatten ihn die noch schlaftrunkenen Sinne genarrt? Er rieb sich die Augen, aber der Nachthimmel bot nur den gewohnten Anblick.

Sie brachen wieder auf. Gestärkt und voller Zuversicht. Nach drei mühsamen Stunden erreichten sie den Grat. Die nächtlichen Spukgeräusche hatten sich nicht wiederholt. Zum Gipfel waren es nur wenige Schritte, denn eigentlich waren Gipfel und Grat kaum noch zu unterscheiden. Die Sonne war bereits aufgegangen. Unendlich weit im Osten war ein winziger Rand ihrer Scheibe aufgetaucht. Hier oben auf Gorunshasa II herrschte noch Dämmerung, beinahe Dunkelheit.

Und wieder hatte Kano einen kurzen Moment lang jenes Ahnen wie auf der Westflanke. War da nicht doch inmitten der fast schon verblassten Sterne ein gewaltiges Fenster? Ein Loch im Universum, eine kosmische Öffnung in die Unendlichkeit? Und dahinter für eine winzige Zeitspanne so etwas wie ein allwissend blickendes Augenpaar! Der Schöpfer selber? War es nicht, als sähen sich hier der Ewige und seine winzigen Geschöpfe wie durch ein doppelseitiges Prisma gegenseitig an? Sie hatten sich in Grenzbereiche vorgewagt und befanden sich in Sichtweite des Allmächtigen! Waren dem Himmel nahe wie nie. Ihn schauderte. Dann war dieses Bild verschwunden. Entweder ließen ihn seine erschöpften Sinne nachträglich im Stich oder sie hatten ihn ein zweites Mal von vornherein getäuscht. Halluzination als Folge von Sauerstoffmangel. Bei ihrem Verzicht auf Sauerstoffmasken nichts Ungewöhnliches. Botan jedenfalls schien auch jetzt nichts bemerkt zu haben.

Inzwischen war es auch auf dem Gipfelgrat hell geworden. Gleißend hell. Erst nur ein schmales Lichtband, war die Sonne schnell herangebrandet. Hatte die ganze Welt überflutet und den Scheitel des Gorunshasa mit hellem Morgenlicht überzogen. Es stürzte über den Rand hinab, um auch das Tal aus den Schatten der Nacht zu reißen. Die zwei Gipfelstürmer legten sich mit schweren Gliedern in den Tau des Plateaus, hüllten sich ein in den Frieden des jungen Tages. Schauten überwältigt in die grüne Tal-Ebene hinunter und auf das ins Licht getauchte Meer von steilen Bergwänden rings umher. Am Ende der Kraft, spürten sie dieses atemberaubende Gefühl von Unbesiegbarkeit. Von köstlicher, berauschender Freiheit. Alle Anstrengungen, alle Schrecken waren dieses Gefühl und diesen Moment wert. Diesen Augenblick, den sie ihr Lebtag nicht vergessen würden.

Und in eben diesem Augenblick geschah es, dass eine helle Kinderstimme rief: „Igitt, Mami! Schau da draußen: Schon wieder so ekelhafte Schnecken auf der Fensterbank! Zwei Stück diesmal. Soll ich sie totmachen?“
Worauf jemand antwortete: „Ach Schätzchen, lass sie heut Morgen mal in Ruhe. Schau, die haben sich in ihre Häuschen verkrochen. Vielleicht wollen sie nur noch ein Weilchen schlafen und dann weiter nach oben. Da fressen sie uns wenigstens nicht den Salat weg!“
Im Gemüsebeet kauerte auf riesigen Pfoten eine langhaarige schwarze Katze und schaute aus grünen Augen träge hinauf. Langsam verschwanden im Hochparterre zwei Kinderaugen hinter den Fensterscheiben.

Letzte Aktualisierung: 08.02.2009 - 15.42 Uhr
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