Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Überraschung | Februar 2009
Auf zu neuen Ufern
von Janine Gimbel

Schmerz durchzuckt meine Glieder, als ich mich im ersten Sonnenlicht, die Bettdecke noch halb über den Oberkörper gezogen, strecke. Nur langsam klärt sich mein Blickfeld, die wüste Landschaft meines Zimmers nimmt Konturen an: Schrank und Tisch eng zusammengepfercht, ein paar Hemden achtlos über eine Stuhllehne geworfen. Rosa mit Punkten, Rosa mit Streifen, wahlweise quer oder längs, Rosa mit V-Ausschnitt oder klassisch, darüber zwei, drei Krawatten, die in grotesker Weise nach unten baumeln. Es ist an der Zeit, mein Zimmer auszumisten, so viel Verstand bringe selbst ich in diesem Zustand auf. Innerhalb der letzten Wochen habe ich einige Stücke erstanden, die es nun nicht mehr braucht. Ich bin nicht länger der schwule Torben – Rosa ist jetzt out!

Die eigentliche Geschichte begann an einem verregneten Tag im Herbst, die Blätter fielen in bunten Scharen von den Bäumen und im Büro ging das Gerücht um, dass mehrere Stellen gestrichen werden sollten. Ich hatte soeben einen neuen Kredit aufgenommen, die Raten für den Kühlschrank nicht abbezahlt und das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war der Verlust meines Jobs. Was also tun? Nächtelang zerbrach ich mir den Kopf, kratzte meine letzten Ersparnisse zusammen und fürchtete trotz allem um meine Arbeitsstelle. Wen würde der Chef wohl als erstes entlassen? Susi mit ihren knappen Röcken sicher nicht, Carsten auch nicht, der hatte eine Frau, eine Geliebte, drei Kinder und ein Haus. Maggie vielleicht ...? Nein, auch unwahrscheinlich. Maggie war so arbeitswütig wie keiner von uns und für unentgeltliche Überstunden immer zu haben. Wer blieb dann ...? Ja, Torben Martins, der hilflose Single, der mit Anfang dreißig – mit genaueren Details verschone ich Sie besser – sein Leben nicht im Griff hatte, der nachts lange aufblieb, um dem Programm im DSF seine Aufmerksamkeit zu schenken, und dementsprechend morgens regelmäßig zu spät im Büro erschien.
Der war sein Opfer – und ich musste es verhindern!
Es bedurfte einer Entscheidung. Einer Entscheidung, leichtfertig getroffen, zwischen Frühstück und Katzenwäsche auf dem Weg zur Arbeit. Dass sie weiter reichende Folgen haben würde als bis zum Feierabend, bedachte ich in der Schnelle der Zeit nicht. Ich war schwul. Schon immer gewesen und würde es immer sein. In der Straßenbahn plante ich mein Vorgehen und begab mich nach meiner Ankunft im Büro vorerst brav auf meinen Platz. In Gedanken sah ich eine Szene vor meinem inneren Auge: Ein Tag im Parlament, viele Zuhörer, interessierte Blicke und aufgeregtes Gemurmel. In dieser Vorstellung verhaftet kletterte ich mithilfe des wackeligen Drehstuhls auf den Schreibtisch und räusperte mich – das Überraschungsmoment war auf meiner Seite, keiner rechnete an diesem langweiligen Mittwoch mit einem derartigen Geständnis. Ja, wirklich keine Sau achtete auf mich!
„A-also“, begann ich deshalb stotternd. „Ich ... ich ... bin schwul!“ Ich musste tief Luft holen „Und ... und das ist gut so!“, beendete ich den auswendig gelernten Satz und sah dann nach Beifall heischend in die Menge, die Hand ausgestreckt, um Gratulationen entgegenzunehmen. Keine Reaktion! Lediglich Martina schaute zu mir auf, nicht unbedingt verwundert, gerade so als wolle sie sagen, das habe sie längst geahnt.
Die Veränderung, die mein Coming-Out nach sich zog, nahm ich erst knappe zwei Wochen später wahr: Heinz aus dem Marketing flog, Elisa ebenfalls. Ich blieb. Meine Hemden erstrahlten in allen erdenklichen Rosatönen, passend zu meinem neuen Image, und mein Job war gesichert. Wer würde schon einen schwulen Mitarbeiter feuern? Nicht auszudenken, wenn das an die Öffentlichkeit drang!

Ich fand mich in einem wahren Paradies wieder – zumindest am Anfang. Martina, die ihren Platz am Tisch gegenüber hatte, beschwerte sich nicht mehr, wenn ich – natürlich aus Versehen – einen Stift fallen ließ, unter dem Tisch abtauchte, die Aussicht genoss und mit einem unschuldigen Lächeln wieder an der Oberfläche erschien. An anderen Tagen wanderte mein Blick wie zufällig auf das Dekolletee von Lotte aus der Buchhaltung – alles kein Problem, ich stand ja auf Männer.
So ging das weiter, bis zu dem Tag, als ein Strauß roter Rosen auf meinem Schreibtisch stand, umringt von kichernden Kolleginnen. Ich hatte einen heimlichen Verehrer! Erst waren es nur kleine Geschenke: die Blumen, ein Zahlendreher beim Weihnachtsgeld, eine Pralinenschachtel. Wer mir da etwas Gutes wollte, ahnte ich, zugegeben, mit bangen Gefühlen und es sollte nicht lange dauern, bis er, mein unbekannter Gönner, sich mir offenbarte.

Gestern, kurz vor der Mittagspause, war es soweit. Der Chef höchstpersönlich rief mich in sein Büro. Man sollte misstrauisch werden, wenn der Boss einem den Posten anbietet, dessen Arbeitsraum gleich neben seinem liegt. Er saß also in seinem Drehstuhl, die Beine lässig übereinander geschlagen, und unterbreitete mir sein Angebot, seine Hand lag dabei in einer selbstbewussten Geste über den Tisch hinweg auf meiner. Er wäre nicht so hart, wie es uns – meinen Kollegen und mir – vorkam. Ich wäre ihm schon vor langer Zeit aufgefallen. Ein sehr effizienter Arbeiter, immer gute Ergebnisse – und das aus dem Mund des Mannes, der mich hatte feuern wollen! Um es auf den Punkt zu bringen: Ob ich wohl mit ihm ausgehen würde?
In diesem Moment war es fĂĽr mich glasklar. Schwul? Ohne mich! Das war ich nie gewesen und wĂĽrde ich auch nie sein! ĂśberstĂĽrzt rappelte ich mich auf, achtete nicht auf seinen festen Griff, mit dem er mich zurĂĽckzuhalten versuchte, und war schneller als der Wind zur TĂĽr heraus. Die Rettungsaktion fĂĽr meinen Job war fehlgeschlagen.

Umgehend reichte ich meine Kündigung ein. Keine zehn Empfangsdamen würden mich mehr zurück in dieses Gebäude, in die Nähe dieses Mannes bringen. Zur ‚Feier’ meiner wieder gewonnenen Heterosexualität suchte ich Bestätigung in einer Bar. Und was soll ich sagen, die Frauen flogen noch immer auf mich. Das nehme ich zumindest an, denn Erinnerungen habe ich an die Party nicht mehr. Zu viel Alkohol. Aber keine, so möchte ich behaupten, keine einzige der anwesenden Ladies hat an diesem Abend die Finger von mir lassen können, dem gut aussehenden Typen, der nun wieder schwarz statt rosa trug und definitiv nicht schwul war! Ich, der geborene Aufreißer, mein Blut von Testosteron durchströmt, ein Hengst, was sage ich, ein ...

Die plötzliche Bewegung meiner Bettdecke lässt mich innehalten und bringt meine Gedanken zurück in die eigenen vier Wände. Ein tiefes Stöhnen dringt unter der Decke hervor und wenige Augenblicke später rutscht ein kurz geschnittener Haarschopf ans Licht. „Hey Süßer, gut geschlafen?“, murmelt mein Gegenüber. Doch ich bringe keinen Ton heraus, kann den Unbekannten, der die Nacht mit mir verbracht haben muss, nur anstarren. Was zwischen uns vorgefallen ist, liegt unter dem Schleier der Vergessenheit, unzugänglich für mich. Mein Körper jedoch scheint sich sehr gut an die Ereignisse zu erinnern und reagiert sofort auf den unbekannten Mann an meiner Seite ... Verdammt!

Letzte Aktualisierung: 23.02.2009 - 14.32 Uhr
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