Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Sie konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzten, und so trug er sie fast ins Haus. „Zuviel getrunken!“, informierte er eine Passantin, die kopfschüttelnd weiterging.
Er legte sie aufs Bett, wo sie sich umgehend zusammenrollte und einschlief. Tom zog die Spülhandschuhe aus ihrer Küche an, holte das Röhrchen mit den Schlaftabletten aus seiner Manteltasche, wischte seine Fingerabdrücke ab, drückte es ihr kurz in die schlaffe Hand, öffnete es und ließ es auf den Boden fallen. Die Tabletten sprangen munter in alle Richtungen. So. Weiter. Er ging ins Badezimmer und ließ warmes Wasser in die Wanne laufen, suchte eine Rasierklinge und warf sie hinein. Dann kam er zurück und entkleidete Inga. Der Anblick ihres nackten Körpers ließ ihn heute völlig ungerührt. Sein Gehirn spulte reibungslos das hunderte Male im Geiste durchgespielte Programm ab. Er trug sie ins Bad und setzte sie in die Wanne. Inga schnarchte leise. Tom strich ihr übers Haar, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie leicht auf die Wange. „Alles wird gut …“, flüsterte er abermals. Dann holte er das Messer, ließ es aufschnappen. Er ergriff ihr Handgelenk, das, an dem die silbrigen Narben waren. Ein scharfer, schneller Schnitt …
Inga schrie auf wie eine gequälte Katze und schlug unkontrolliert um sich. Blut und Wasser spritzen in alle Richtungen, landeten warm auf seiner Brust. Tom fuhr zurück und starrte entsetzt auf die groteske Szene. So wollte er das nicht! Sie sollte sauber und leise verbluten! Inga kämpfte einen aussichtslosen Kampf gegen die Bewusstlosigkeit. Endlich sackte sie zusammen, die verletzte Hand rutschte in die Wanne und zauberte dort letzte dunkle Wolken in das trübrote Wasser. Mühsam löste Tom seinen Blick und atmete tief durch. Ein Gefühl von Erleichterung durchströmte ihn, und eine lang nicht mehr gekannte Zufriedenheit. Die Qual der letzten Wochen war vorüber.
Das Badezimmer sah verheerend aus. Er würde einfach das Badewasser weiter laufen lassen. Schon bald würde die Überschwemmung seine Spuren gründlich verwischen.
Zeit für den Rückzug. Er spülte die Handschuhe gründlich ab und hängte sie auf den Wasserhahn in der Küche, wie es Ingas Gewohnheit war. Dann zog er seinen Mantel über, knöpfte ihn bis oben zu und verließ die Wohnung. Morgen würde er ihn zur Reinigung tragen, überlegte er, als er ihn zuhause an den Garderobenhaken hing, denn er war nicht sicher, ob das Tragen über dem besudelten Hemd nicht Spuren daran hinterlassen hatte. Nun eine heiße Dusche und frische Kleidung, und er würde wieder ganz der Alte sein. Er wollte gerade ins Bad, als er ein Geräusch zu hören vermeinte. Es kam aus seinem Wohnzimmer. Alarmiert lauschte er. Nichts. Natürlich. Er war überreizt, das war völlig normal. Um seine Dusche genießen zu können, würde er sich davon überzeugen, dass wirklich alles in Ordnung war. Er musste über sich selbst lächeln. „My name is Bond, James Bond“, sang er leise, als er in klassischer Ganovenart sein Messer zückte und die Wohnzimmertür mit einem Ruck aufriss. Das Licht flammte auf.
„Überraschung“, grölte es aus vielen Kehlen. Sämtliche Kollegen und Freunde standen mit Geschenken und Sektgläsern ausgerüstet da und stimmten an: „Happy Birthday to you, happy …“. Schnell erstarb der Gesang. Erschrocken starrten alle auf den blutigen Tom mit dem Messer. Vollkommen belämmert starrte dieser zurück.
„Wo ist Inga?“, durchbrach sein Kumpel Bernd mit schneidender Stimme die Stille. „Sie war unser Lockvogel!“
Letzte Aktualisierung: 22.02.2009 - 21.47 Uhr Dieser Text enthält 7295 Zeichen.