Der Tod aus der Teekiste
Der Tod aus der Teekiste
"Viele Autoren können schreiben, aber nur wenige können originell schreiben. Wir präsentieren Ihnen die Stecknadeln aus dem Heuhaufen."
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Überraschung | Februar 2009
Plüsch
von Nando Lindemann

1

„Sehr geehrter Herr Dahl,

sicher vermissen Sie seit einer Woche Ihre Mitarbeiterin Frau Stralsund. Ich entschuldige ihre Abwesenheit, denn sie hält sich zurzeit bei mir auf. Sie käme gern wieder, jedoch müssten Sie mir eine Kleinigkeit besorgen.
Es ist eine Kette, die beim Juwelier Sandhorn im Schaukasten ausgestellt ist. Sie kostet 25880 Euro. Dieser Preis übersteigt leider meinen finanziellen Lebenswandel und ich bitte Sie, für mich einzuspringen. Schwierig dürfte es bei Ihrem Jahresgehalt nicht sein.
Sie stammt aus meinem Familienbesitz und wurde vor achtzehn Jahren gestohlen. Auf der Rückseite der Einfassung steht der vollständige Name meiner Urgroßmutter. Leider war diese Kette nicht versichert und ich möchte auch nicht, dass jemand davon erfährt. Diese Kette gehört nicht mir, sondern einer nichtehelichen Enkelin meiner Urgroßmutter. Wenn bekannt wird, dass wir einen Bastard in unserer Familie haben, müssen wir sehr viel leiden, denn einige Erbschaften und Verträge müssten dann rückgängig gemacht werden. Deshalb sprechen Sie bitte mit niemandem darüber.
Dass ich Sie für diese Besorgung ermutigen muss, werden Sie bestimmt verstehen. Ich habe Ihr Konto sperren lassen und alle Ihre Passwörter. Das war gar nicht schwer, denn Sie haben ja alles auf Ihrem Arbeitsplatzrechner gespeichert. Sie müssen auch nichts überstürzen. Für dieses Projekt haben Sie noch sieben Wochen Zeit, sodass Sie Ihr eigenes Tempo finden können. Doch denken Sie daran, Frau Stralsund freut sich sehr darauf, wieder im Büro zu sein.

Hochachtungsvoll
Ihr ergebener Herr Mentor

P.S. Noch 49 Tage.“

2

„Sehr geehrter Herr Dahl,
ich bin sehr froh, dass Sie diese Angelegenheit diskret behandeln. Die Polizei stellt zu viele Fragen und plaudert gern.
Ich habe Ihnen ein Foto von Frau Stralsund beigelegt. Wie Sie sehen, geht es ihr ausgezeichnet. Das Foto zeigt sie schlafend, denn sie möchte nicht fotografiert werden und ich respektiere das.
Ich habe noch gar nicht geschrieben, dass diese Enkelin Frau Stralsund ist, deshalb wird sie sich sehr über die Kette freuen. Es soll eine Überraschung werden. Ich möchte sie ihr schenken und ihr einen Heiratsantrag machen. Solange die Kette beim Juwelier ausliegt, kann sie selbst zufällig dort vorbeikommen. Deshalb habe ich sie jetzt bei mir. Wenn sich am Ende alles aufklärt wird sie mir bestimmt verzeihen.

Hochachtungsvoll
Ihr ergebener Herr Mentor

P.S. Noch 42 Tage.“

3

„Sehr geehrter Herr Dahl,

wie geht es Ihnen? Sie machen oft einen hilflosen Eindruck. Haben Sie noch genug Geld für Ihren Lebensunterhalt? Vielleicht könnten sich mit einigen Leuten kurzschließen, mit denen Sie einmal in der Justizvollzugsanstalt einsaßen? Wenn es Ihnen zu gefährlich ist, empfehle ich Ihnen Tauschgeschäfte. Sie fangen mit einer Büroklammer an und haben am Ende einen Palast. Früher, als es noch kein Geld gab, haben die Menschen immer nur getauscht, das ist also nichts Verwerfliches. Seien Sie mir nicht böse, wenn dieses Projekt Sie etwas belastet. Sie müssen nicht bis zum Ende damit warten. Sie dürfen mir die Kette auch früher geben! Frau Stralsund wird sich sicher darüber freuen.

Hochachtungsvoll
Ihr ergebener Herr Mentor

P.S. Noch 37 Tage.“

4

„Lieber Herr Dahl,

heute hat mir Frau Stralsund ihren Vornamen verraten. Sie heißt Anna und Beate, wobei ich Anna freundlicher finde. Letzte Nacht haben wir sehr lange miteinander geplaudert. Sie kann richtig nett sein. Es war das erste Mal, dass wir und richtig nahe gekommen sind. Sie hat mich sogar gefragt, wann ich Geburtstag habe. Ich glaube, sie mag mich. Darum wird es sicher nicht so schlimm werden.

Hochachtungsvoll mit vielen Grüßen
Ihr ergebener Herr Mentor

P.S. Es sind noch 32 Tage.“

5

„Sehr geehrter Herr Dahl,

es tut mir weh, Sie so zu sehen. Sie laufen ungepflegt herum und haben sogar einen Passanten angerülpst. Das finde ich nicht gut, denn die Manieren sollte man als Letztes verlieren. Und dann haben Sie einem kleinen Mädchen den Teddybären gestohlen. Es hat ihn doch nur vergessen und kam zurück, um ihn sich zu holen. Es tat mir so leid, wie es traurig dastand und weinte. Auch Anna fand das schrecklich, als ich ihr davon erzählte. Sie meinte, dass Sie kaltherzig sind und eines Tages die Strafe dafür bekommen. Nehmen Sie es ihr bitte nicht übel, sie ist jung und liebt das Leben.
(Trotzdem war es gut, dass Sie etwas unternommen haben! Das bringt Bewegung in das Projekt, ich spüre die Dynamik.)
Ich glaube, dass Sie Kontakt mit mir aufnehmen sollten. Sie sind allein und schlucken alles hinunter. Dabei brauchen Sie jemanden, dem Sie sich anvertrauen können. Ich bin zurzeit der einzige Freund, den Sie haben. So viele Briefe habe ich nie jemandem sonst geschrieben. Öffnen Sie an Ihrem Computer „Ausführen“ und geben Sie „Mentor“ ein. Dort startet ein Programm, mit dem Sie mir eine E-Mail schicken können. Dann können Sie mir kurz berichten, wie weit Sie mit diesem Projekt gekommen sind.

Kopf hoch und Hochachtungsvoll
Ihr ergebener Herr Mentor

P.S. Noch 29 Tage.“

6

„Sehr geehrter Herr Dahl,

der Anna geht es sehr schlecht. Sie hat die ganze Nacht geschrien. Seit einigen Tagen hat sie nichts mehr gegessen. Ich wusste nicht mehr weiter und habe sie zwangsernährt. Ein Wunder, dass sie dabei nicht erstickt ist, Ich habe ja keine Ahnung, wie man das macht. Wie lange brauchen Sie noch? Sie müssen sich beeilen, Herr Dahl, denn ich weiß nicht, wie lange wir das noch durchstehen. Ich hoffe nur, dass sie mir verzeihen kann.

Hochachtungsvoll
Ihr ergebener Herr Mentor

P.S. Noch 26 Tage.“

7

„Sehr geehrter Herr Dahl,

Hallo, ich freue mich, dass Sie so aktiv sind. Wie Sie den Fernseher für ein Auto eingetauscht haben, ist bemerkenswert. Ihr Verhandlungsgeschick ist erstaunlich, ich bin sehr zufrieden mit Ihnen. Obwohl Sie bisher alles nach Plan gemacht haben, sind Sie mir ein bisschen zu berechenbar. Zeigen Sie mir, dass Sie mich überraschen können! Wenn Sie sich berechnen lassen, tun Sie alles für die anderen. Sie opfern sich auf und merken nicht, wie man Sie ausnutzt. Sie sind ein Samariter, quasi. Gehen Sie ruhig unkonventionelle Wege, aber denken Sie dabei an die Kette! Und an Anna.

Mit vielen hochachtungsvollen Grüßen
Ihr ergebener Herr Mentor

P.S. Noch 23 Tage.“

8

„Sehr geehrter Herr Dahl,

Heute hat mir Anna gesagt, dass Sie sie einmal angegrapscht haben. In Ihrem Büro! Na ja, ich verurteile Sie nicht, aber ich heiße das auch nicht gut. Viele Menschen sind ja ferngesteuert. Sie müssen wie Zombies ihren Schandtaten hilflos zusehen. Und aktive Triebtäter wissen gar nicht, dass sie überhaupt etwas Schlimmes tun. Frau Stralsund jedenfalls interessiert das nicht. Sie müssen sich sehr anstrengen, ihr Vertrauen wiederzugewinnen.
Lieber Herr Dahl, ich muss Sie jetzt etwas Persönliches fragen. Warum nehmen Sie keinen Kontakt mit mir auf? Möchten Sie, dass wir uns duzen? Das ist kein Problem für mich, aber ich bin sehr anhänglich bei Duzfreunden. Oder können Sie mich nicht leiden? Ich versuche alles, um Sie zu unterstützen. Ich sehe doch, wie schlecht es Ihnen geht, trotzdem nehmen Sie meine Hilfe nicht an. Schreiben Sie mir!

Trotzdem hochachtungsvoll
Ihr ergebener Herr Mentor

P.S. Noch 19 Tage.“

9

„Herr Dahl,

leider muss ich Ihnen heute mitteilen, dass der Preis der Kette sich erhöht hat. Der Juwelier hat entschieden, die Kette versteigern zu lassen. Das Einstiegsgebot liegt bei 30 bis 40000 Euro. Es wird in ein bis zwei Monaten sein. Ich wäre bereit, Ihnen diese Zeit zu geben, doch Anna macht mir Sorgen. Sie wird das nicht mehr lange mitmachen. Ich glaube, sie wird langsam verrückt. Sie spricht nicht mehr mit mir und starrt nur vor sich hin. Es sollte doch eine Überraschung werden und nun quält sie sich nur noch. Bringen Sie es zu Ende, Herr Dahl! Noch 11 Tage.“

10

„Sehr geehrter Herr Dahl,

um Ihr Büro brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Es ist ja nicht vollständig abgebrannt, nicht wahr? Ich dachte mir, Ihre Motivation damit zu fördern. Es muss schneller gehen! Anna setzt mich unter Druck. Sie ist nicht mehr bereit, auf die Überraschung zu warten. Sie glaubt, ich sei ein Psychopath. Nur, weil ich ihren Sessel nicht sauber gemacht habe, auf den sie gestern geschissen hat. Sie macht mich wahnsinnig. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich daran denke, sie umzubringen. Was ist, wenn sie mir nicht verzeihen kann, wenn sie den Heiratsantrag ablehnt? Verstehen Sie meine Situation? Ich kann es mir nicht erlauben, länger zu warten. Der Termin steht. Noch 5 Tage.

Mit verbindlichem Gruß
Ihr Mentor“

***

Pressemitteilung
Nach einem Überfall im Juweliergeschäft Sandhorn wurde am Nachmittag des 15. Februar 2009 die Wohnung des Berliner Bauunternehmers Axel Dahl durchsucht. Man fand ihn erhängt in seiner Wohnung. Im Keller fand man die Leiche einer Frau. Offenbar handelt es sich um die seit zwei Monaten vermisste Berlinerin Anna S. Ihr Tod trat einen Tag vor dem Eintreffen der Polizei ein. Sie trug eine beim Überfall gestohlene Kette. Neben ihr lagen einige Briefe und ein Teddybär…

Letzte Aktualisierung: 26.02.2009 - 08.57 Uhr
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