Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
Hugo streichelte über Glorias Rundung, fuhr mit dem Finger die zarte Haut entlang, versuchte, seine Arme um sie zu legen. Es gelang ihm nicht. Er trat einen Schritt zurück. Welch ein herrlicher Anblick. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen. Er zückte den Fotoapparat, blickte durch den Sucher, justierte, schoss Fotos von allen Seiten.
„Schau an, schau an; der Hugo“, tönte eine unangenehme Stimme am Gartentor.
Oh nein, nicht der Blöde Erwin. Der hatte ihm gerade noch gefehlt.
„Darf ich reinkommen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schob Erwin das Tor auf und spazierte hinein.
Nein, dachte Hugo, darfst du nicht, doch er sprach es nicht aus. Erwin baute sich breitbeinig vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt. „Hast du den Umfang gemessen?“
Hugo schüttelte den Kopf.
„Marthas hat Einsneunundneunzig. Eins-Komma-Neun-Neun, kannst du dir das vorstellen? Ich sage dir, diesmal wird sie siegen. Und wenn sie das Fest nicht eine Woche vorverlegt hätten, sage ich dir, dann hätte sie die zwei Meter geknackt.“
Hugo steckte den Fotoapparat in die Tasche und versuchte, geknickt auszusehen.
In Wahrheit hatte er gemessen. Zwei Meter und fünf. Der Sieg war ihm sicher. Das musste er aber dem Blöden Erwin nicht auf die Nase binden.
Der zückte ein Maßband und näherte sich Gloria mit energischen Schritten. „Ich kann gerne messen für dich, dann wissen wir ...“
„Du fasst meinen Kürbis nicht an.“ Mit ausgebreiteten Armen stellte Hugo sich vor die Riesenfrucht.
Erwin trat einen Schritt zurück. „Hast du Angst, ich verderbe ihn? Aber bitte, dann nicht. Ich sage dir, er hat sowieso keine Chance.“ Erwin machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zum Tor. „Und bevor du fragst. Du kannst nicht meine Schubkarre leihen. Sieh zu, wie du ihn selbst zur Pfarrwiese schleppst.“
Hugo zuckte die Achseln. Er hatte längst eine neue Karre im Schuppen stehen. Erwins monatelanges Genöle letztes Jahr, dass er ihm hatte helfen müssen, wollte er sich nicht noch einmal antun.
Heute war Donnerstag. Am Samstag fand das Herbstfest statt. Der Auftakt war, wie jedes Jahr, der Wettbewerb um den dicksten Kürbis. Keiner konnte ihm den Sieg nehmen. Gedankenverloren streichelte er Glorias kühle, glatte Haut. Jetzt musste nur das Wetter halten – kein starker Regen, nicht zu viel Sonne. Er sah nach oben. Herrliches Badeseewetter, blauer Himmel, der Planet stach ihm ins Gesicht wie mit Tausend feurigen Nadeln. Hugo holte den alten Sonnenschirm aus dem Schuppen und spannte ihn auf. Den hatten sie damals bei ihrem ersten Urlaub in Italien am Strand gefunden. Das Rot war verblasst, die Aufschrift „Gelati“ kaum zu erkennen. Er seufzte. Jung waren sie gewesen, jung und stürmisch. Jetzt lebten sie nur noch nebeneinander her. Elfriede verbrachte mehr Zeit mit ihrem Lesekränzchen als mit ihm. „Du hast ja keine Zeit für mich, bist immer im Garten“, maulte sie, wenn er sie darauf ansprach. Dabei hatte sie damit angefangen, Hobby um Hobby auszuprobieren, kaum zu Hause zu sein. Mit dem Sieg am Samstag würde er ihr zeigen, dass sein Hobby wenigstens zu etwas gut war.
Freitagabend sortierte Hugo die frisch geernteten Zierkürbisse.
„Kommst du endlich? Ich bin fast fertig.“ Elfriedes lockenwicklerbehafteter Kopf lugte über die Balkonbrüstung. Mist, sie waren heute bei Schmidt-Gerings eingeladen, das hatte er völlig verdrängt. Diese Schnösel! Er schleppte sich die Treppe hoch.
„Und dusch gefälligst. Du riechst nach Schweiß und Erde.“
Sie trug ihr altrosa Kostüm, in dem sie aussah, wie eine frisch gestopfte Fleischwurst. Am liebsten hätte Hugo Jeans und Tweedblazer angezogen. Doch wie er sie kannte, hatte sie ihm Klamotten aufs Bett gelegt.
Er seufzte. Natürlich der furchtbare graue Anzug, in dem er aussah wie sein eigener Großvater, und die dezente Streifenkrawatte.
Bei den Schmidt-Gerings sprühte Elfriede vor guter Laune; lachte über die schalen Witze des Gastgebers, lobte das Essen, von dem Hugo sich fragte, ob es von blinden und unbegabten Kochlehrlingen zusammengeklatscht war, schenkte immer wieder Wein nach, besonders ihm. Hugo ließ es geschehen, schwebte bald auf Wolken; das machte alles erträglicher. Im Auto schlief er ein. Eigentlich hatte er noch einmal nach Gloria sehen wollen, ob es ihr gut ging, stolperte jedoch bereits beim Aussteigen.
„Komm, Schatz, ich helfe dir nach oben.“ Elfriede zog ihn in eine aufrechte Haltung und bugsierte ihn mit einer Zärtlichkeit, die er lange nicht mehr erlebt hatte, die Stufen hoch. „Warum bissu so nett ssu mir heut? Willsu wieder eine Ausbild... äh ... Bildungsrunddings ... äh, Reise ...“
„Ich bin immer nett. Leg dich hin und schlaf dich aus.“
„Mussu Wecker stelln, weissu, der Wettbewerb.“
„Ja, ja. Schlaf jetzt.“
Er erwachte davon, dass die Sonne ins Zimmer schien. Elfriedes Bettseite war leer. Hugo richtete sich auf, sein Schädel brummte, als hätte jemand einen Bienenschwarm darin eingesperrt. Sein Blick streifte den Wecker. Er zuckte zusammen. Halb Zehn! Oh nein, das konnte nicht sein! „Elfriede“, brüllte er. Dieses Miststück! Hugo sprang aus dem Bett, ignorierte die Übelkeit, sprintete ins Bad und nahm eine eiskalte Dusche. Frühstück musste ausfallen. Er hechtete die Treppe hinunter, riss die Terrassentür auf, stürmte in den Garten und erstarrte. „Gloria!“ Das Loch war alles, was er sah; die ganze restliche Welt war ausgeblendet. Nackte Erde gähnte ihm entgegen. „Wer war das?“, brüllte er. Eine Schubkarrenspur zog sich durch die Erde Richtung Gartentor. Aber halt. Elfriede war so nett gewesen gestern. Vielleicht hatte sie Gloria zur Pfarrwiese gebracht, damit er ausschlafen konnte. Ja, das musste es sein. Ein Nachbar hatte ihr sicher geholfen, die kostbare Frucht auf die Karre zu laden. Hugo öffnete die Schuppentür. Merkwürdig, seine Karre stand an ihrem Platz. Er schnappte sich das Fahrrad und raste zum Austragungsort.
Dort angekommen, sah er als erstes einen riesigen Kuchenstand. „Kürbistorte nach original amerikanischem Rezept.“ Die Torten türmten sich zwei Meter hoch; da musste eine ganze Armee von Frauen gebacken haben. Der Blöde Erwin und seine Martha standen dahinter. Erwin winkte, grinste sein unverschämtes Grinsen und zwinkerte Hugo zu. Nur mühsam bezwang er den Drang, eine der Torten zu nehmen und sie dem Widerling ins Gesicht zu klatschen. Er hatte Wichtigeres zu tun; schließlich musste er sehen, dass Gloria einen guten Platz bekommen hatte. Er rannte zur Bühne. Als erstes sprang ihm ein Schild ins Auge. „Martha Vogt, 1m99.“ Dann folgten ein paar kleinere und ... das konnte nicht sein! Wo war sein Prachtexemplar abgeblieben? War es zu schwer gewesen für die Bühne, brauchte Elfriede Hilfe? Der Bürgermeister lief vorbei, Hugo hielt ihn am Ärmel fest. „Sag, Jupp, wo ist denn mein Kürbis? Ich dachte, Elfriede hat ihn mitgebracht.“
„Kürbis? Elfriede? Nein, die hat heute Morgen Erwin und Martha geholfen, die ganzen Kuchen anzukarren. Die müssen ja ein riesiges Kürbisfeld gezüchtet haben, um so viel backen zu können, und dann noch das Riesenviech hier.“ Jupp tätschelte Marthas Wettbewerbsbeitrag.
Wie in Zeitlupe drehte Hugo sich um, der Boden schwankte, er machte ein paar unsichere Schritte.
„Ist dir nicht gut?“ Jupp stützte ihn. Hugo schüttelte die Hand ab und rannte zum Kuchenstand.
„Ah, der Hugo. Magst du von unserem leckeren Kuchen probieren?“ Erwin hielt ihm einen Pappteller hin.
„Ihr wart es! Ihr habt meinem schönen Kürbis geklaut und ihn verbacken, damit ich nicht siegen kann.“
„Wo denkst du denn hin? Natürlich habe ich nur all‘ die zu klein geratenen verwendet.“ Martha klang entrüstet.
„Nie im Leben! Ich habe euer Feld gesehen; außer dem einen großen war da kaum etwas. Ihr ... ihr ... schändlichen Kürbismörder!“
„Und wenn schon“, sagte Erwin mit süffisantem Grinsen. „ich sage nicht, dass es wahr ist, aber selbst wenn, sage ich dir ... du könntest es nicht beweisen.“
Hugo schluckte. Die Sonne brannte auf seinen Kopf, der Kater hämmerte mit tausenden Metallhämmern gegen seine Schädeldecke, seine Zunge klebte am Gaumen. Diese gemeinen Leute!
„Nun kommen wir zur Kürbisprämierung“, blökte es aus dem Lautsprecher.
„Schnell, Martha, dein großer Auftritt!“ Erwin half seiner Frau aus der Schürze, schob sie aus dem Stand und rannte mit dem Fotoapparat hinterher. Nach drei Schritten hielt er inne. „Ach Hugo, übernimm mal kurz. Elfriede wird gleich da sein; sie schlägt die Sahne.“
Ungläubig sah Hugo auf seine Füße, die sich Richtung Stand bewegten. Er tauchte einen Finger in eine Torte und leckte ihn ab. Jetzt müsste er Strychnin bei der Hand haben, oder Rattengift ...
„Ah, da bist du ja.“ Elfriede erschien mit einer großen Sahneschüssel.
Er packte sie am Kleid und schüttelte sie. „Hast du ihnen meine Gloria gegeben?“
Sie grinste ihn nur an. Ein roter Schleier senkte sich vor Hugos Blick. Dann wusste er nichts mehr.
Aus den Niederdorfer Nachrichten:
Das jährliche Herbstfest am Samstag wurde von einem tragischen Ereignis überschattet. Hugo Huber, unser allseits beliebter Postbeamte a.D., rastete aus unerfindlichen Gründen am Kürbiskuchenstand aus. Erst erschlug er seine Gattin Elfriede mit einer kristallenen Sahneschüssel. Dann zertrümmerte er den Stand inklusive aller Torten, bevor mehrere Männer ihn unter Kontrolle bringen konnten. Er befindet sich seitdem in ärztlicher Obhut und hat noch kein Wort geredet.
‚Er war komisch an dem Tag‘, verriet uns Bürgermeister Jupp Wagner kopfschüttelnd. ‚Aber dass so etwas passiert – sicher die Erderwärmung, oder kosmische Strahlen.‘
Martha und Erwin Vogt, die Standbetreiber, sehen von einer Strafanzeige ab. ‚Er ist doch ein armes Schwein‘, meinte Erwin. ‚Wir werden alles tun, um ihm zu helfen.‘ Seine Frau nickte eifrig dazu und wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. ‚Er ist doch unser Freund!’
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Letzte Aktualisierung: 27.03.2009 - 12.49 Uhr Dieser Text enthält 10010 Zeichen.