'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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März 2009
Mein Dieb. Kein Dieb
von Helga Rougui

Sie wachte auf, wußte nicht, was sie mitten in der Nacht geweckt hatte. Ein Luftzug? Ein Rascheln? Ein Schatten, eine Bewegung?

Es war fast dunkel im Zimmer. Nur der einsame Lichtstrahl der Straßenlaterne drang durch die halb heruntergelassene Jalousie.
Sie tastete nach ihrer Brille auf dem Nachttisch und bemerkte im Halbdämmer, daß das Fenster jetzt nicht mehr auf Kipp, sondern halb offen stand.

Sie hielt den Atem an.
Hörte dennoch ein Atmen.

... ... ...

Sie war auf diese Reise nach Prag gegangen, weil sie sich selbst zuviel war in ihrer engen Welt, und da sie nicht den Mut hatte, sich an einen völlig fremden Ort zu begeben, wählte sie einen, den sie zwar kannte, der ihr aber exotischer vorkam als jeder Ferienclub in Tunesien.

1985, ein Jahr vorher, war sie mit einem Freund dort gewesen. Sie hatten die Stadt erkundet, die ersten echten Sowjetrussen und DDR-Bürger ihres Lebens bestaunt und im U Mecenáše für einen Spottpreis ein ganzes Menu inklusive Wein, Kaffee und Cognac zu sich genommen. Dort wollte sie wieder hin. Diesmal würde sie auf dem Platz des Henkers sitzen.

Die Reise im Bus bis Süddeutschland war leicht, erst am Übernachtungsort nahe der Grenze gab es ein Abendessen. Sie wählte natürlich Fisch, ließ die Bratkartoffeln liegen, entkleidete die Forelle ihrer fettigen Haut und aß nur das weiße Fleisch. Keinen Salat, kein Dessert. Dazu einige Viertel Rosé, denn Fisch muß schwimmen.

Am nächsten Morgen um zehn vor acht weckte sie ein Klopfen an der Tür – um acht Uhr fuhr der Bus, sie fuhr aus dem Bett und in ihre Kleider, schnappte sich ihre Sachen und saß um zwei Minuten nach acht auf dem letzten freien Platz ganz vorne beim Fahrer. Die langwierige, schikanöse Prozedur an der Grenze erlebte sie im Halb- und die Einfahrt nach Prag im Tiefschlaf und wachte erst auf, als sie vor dem Hotel angekommen waren.

Später ging sie durch die Stadt, erkannte am Altstädter Ring ihr Lieblingshaus, so blaßbeige, so vollkommen, so harmonisch mit seinen Rundbögen, die wie feingezeichnete Augenbrauen in einem hochmütigen Gesicht wirkten, und bewunderte in einem Schaufenster eine einsame Schale mit einer Pyramide sattgelb leuchtender Orangen, kostbare Edelsteine in ihrem weichgepolsterten Bett. Die Leute, die vorbeikamen, hielten kurz inne, schauten und gingen weiter.
Sie überquerte die Karlsbrücke und spazierte durch die Kleinseite. Abends kehrte sie in die Altstadt zurück und aß im U Supa zu Abend, mageres Fleisch von einem Teller, auf dem sie diesmal den Serviettenknödel liegenließ, und flirtete mit dem imposanten, schnauzbärtigen, als Zigeuner verkleideten Geiger. Sie hatte ihn noch vom Vorjahr in Erinnerung, er sie nicht, aber das machte nichts, denn er tat so, als ob, und das war genug.

Am nächsten Tag trank sie Kaffee im Café Europa am Wenzelsplatz, ging durch die Geschäfte und beäugte die Waren, die sie nicht wollte, aber zehnmal hätte bezahlen können. Sie bemerkte, daß sie nie wußte, um welches Geschäft es sich handelte, bis sie nahe herangegangen war – auf die Ferne las sie die Ladenschilder zwar, aber verstand sie nicht. Auf dem Hradschin brachte sie eine der starren Blicks unbeweglich dastehenden Wachen dazu, ganz leicht einen Mundwinkel zu verziehen und zum Abschied leise winkend den kleinen Finger zu heben – sie verließ ihn im Hochgefühl ihrer Anziehungskraft und mit tiefem Bedauern und war für eine halbe Stunde verliebt. In einem Antiquariat durchstöberte sie deutsche Bücher, die sie für eine unangemessen niedrige Summe erstand, so daß sie die 600 Kronen, die ihr dort aus der Tasche gestohlen wurden, als berechtigten Beitrag für – ja, für was eigentlich? - empfand. Aber es war nur gerecht, daß die Bücher so wenigstens in einem Bruchteil ihres Wertes abgegolten waren.

Am letzten Abend, da sie wußte, daß der Bus am nächsten Morgen sehr früh die Rückfahrt antrat, erfaßte sie, Opfer des Reisefiebers, eine nervöse Unruhe, die auch der Rotwein nicht wie sonst beschwichtigen konnte. So ging sie früh zu Bett und träumte unruhig.

... ... ...

Und nun schien ihr, als ob ihr Traum plötzlich in eine beunruhigende Gegenwart übergegangen sei. Sie schaute und sah eine Silhouette, die sich auf dem Sessel am Fußende ihres Bettes abzeichnete.

Sie sprang auf, sämtliche Nebel hatten sich schlagartig verzogen, das Deckenlicht flammte auf, ein junger Mann erhob sich und ließ beim Aufstehen die Frauenzeitschriften fallen - Brigitte, Petra und wie die Freundinnen alle hießen - die er im diffusen Licht der Laterne durchgeblättert hatte, und während sie sich noch fragte, ob man in solchen Situationen nicht eigentlich panisch schrie, begann sie lauthals auf Deutsch zu schimpfen, und er verstand kein Wort, hob hilflos die Hände und versuchte sie zu beschwichtigen und mit bittender leiser Stimme sagte er Wörter, die sie beruhigen sollten und die sie nicht verstand. Er stand einfach da und plötzlich griff sie zur Türklinke, stürzte an die nebenan gelegene Rezeption, um einen verschlafenen Portier herauszurufen, der nicht zu begreifen schien, was sie ihm erzählte. Gemeinsam gingen sie zurück zum Hotelzimmer, das Fenster stand offen, der junge Mann war verschwunden. Sie hatte den Eindruck, daß der Portier ihr weniger denn je glaubte. Sie spürte, daß er ihr nicht glaubte. Er fragte, ob etwas gestohlen worden sei, und sie sah auf ihre halbgeöffnete Tasche, die sie selbst so am Vorabend hingestellt hatte, sie schaute hinein, alles war da, nein, nichts wurde gestohlen. Ohne weitere Fragen und Mißfallen ausströmend und nachdem er, wie es seine Pflicht war, das Fenster sorgfältig geschlossen hatte, kehrte der Portier in sein Bett zurück.

Die restliche Nacht verbrachte sie schlaflos auf einem Stuhl sitzend.

Ja, dachte sie, das wäre jetzt sicher die angemessene Reaktion, aber sie war erschöpft und die Angst, die sie erfassen sollte, gönnte ihr noch eine Ruhepause. Sie dachte, was solls, ich leg mich wieder hin. Keine Heldin. Kein Opfer. Keine Dramatik.
Wären da nicht die Zeitschriften auf dem Boden gewesen, hätte sie sich selbst nicht geglaubt. Sie hob sie auf, blätterte sie kurz an und schichtete sie auf dem Tisch.

Ein Einbrecher?
Ein Dieb?

Gestohlen hatte er nichts.
Außer einigen bunten Bildern und glänzenden Träumen …

Letzte Aktualisierung: 21.03.2009 - 13.31 Uhr
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