Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Der Diebstahl von zwölf abgerichteten Flöhen war für Dimitri Pulex existenzgefährdend. Täglich hatten seine Artisten, von Mikrokameras aufgenommen und auf Großleinwand projiziert, das Publikum mit ihren Kunststückchen begeistert. Sie füllten im Wechsel mit den Clowns die Umbaupausen zwischen den Hauptattraktionen im großen Zirkus.
Pulex rief sofort verzweifelt die Kripo an, als er den Verlust feststellte. Er war zwischen der Nachmittags- und der Abendvorstellung nur kurz auf ein Bier in eine Gaststätte am Rand des Mehrzweckplatzes gegangen, auf dem das Zelt stand. Als er zurückkam, hatte jemand offenbar durch das schräg gestellte kleine Fenster neben seinem Arbeitsplatz die unscheinbare Flohwohnung aus Sperrholz herausgeangelt. Die Tür seines Wohnwagens war verschlossen. Es fehlte sonst nichts von seinem Eigentum.
Hauptkommissar Striepenkötter schloss Diebstahl aus Habgier aus. Finanziellen Wert hatten die blutsaugenden Insekten schließlich nur für den Dompteur. Dies aber und die Tatsache, dass den anderen Mitgliedern der Zirkustruppe kein Fremder auf dem Gelände aufgefallen war, sagten ihm, dass er Motiv und Täter nur im direkten Umfeld des Dresseurs zu suchen hatte.
Dimitris fahrbares Heim war bequem und gemütlich eingerichtet, sein Kaffee exzellent. Der Kriminalbeamte saß im Besuchersessel und schaute sich interessiert um. Auf einem Klapptisch unter dem Kippfenster standen winzige filigrane Geräte, Laufräder, Wippen und Anlagen wie für Hochseilartisten. Links daneben, an der Wand, hing das Foto einer hübschen jungen Frau. Striepenkötter hatte sie vorhin bei seinem Gang über das Zirkusgelände gesehen, beim Konditionstraining.
„Das ist Petra, unsere Schlappseilartistin“, erklärte Dimitri, der den Blick seines Gastes verfolgt hatte.
„Ihre Freundin?“
Pulex, ein gut aussehender Mann knapp über vierzig, wurde rot wie ein Teenager.
Cherchez la femme?, dachte der Hauptkommissar schmunzelnd und wechselte dezent das Thema.
„Was ist eigentlich das Wesentliche Ihrer Dressur?“, wollte er wissen. „Wie machen Sie es, dass diese klitzekleinen Mitarbeiter Ihnen gehorchen und bereitwillig ihre Akrobatik vollführen?“
Interessiert und schweigend hörte er dem Dompteur zu, der nur zu gern und ausführlich über seine Arbeit sprach, über seine faszinierenden winzigen Darsteller und deren Eigenarten. Der Kriminalist lernte in einer halben Stunde Erstaunliches über Körperbau, Charakter und Lebensgewohnheiten der Flöhe.
„Das sind Individualisten, müssen Sie wissen“, erklärte Dimitri eifrig. „Höchst unterschiedliche Charaktere. Nicht einfach nur irgendwelche unangenehmen Insekten. Selbst ihr Äußeres ist verschieden, was man natürlich nur bei extremer Vergrößerung erkennt. Sie sollten mal eine unserer Vorstellungen besuchen.“
Seine Mundwinkel senkten sich deprimiert, weil ihm bewusst wurde, dass dies ja zunächst nicht mehr möglich war. Eine Weile schwieg er betrübt. Erst als Striepenkötter ihm fest versprach, den Diebstahl ganz bestimmt rasch aufzuklären – er hätte da so eine Idee - und ihm seine Artistentruppe bald zurück zu bringen, wurde er wieder etwas gesprächiger.
Nun erfuhr der Kripomann noch allerlei über den Zirkus, diese seltsame Welt, so ganz anders, als die normalbürgerliche. Unter anderem wurde ihm klar, dass der gut aussehende Flohbändiger offenbar Objekt der Begierde mehrerer eifersüchtelnder weiblicher Mitglieder des Unternehmens war. Schließlich verabschiedete er sich von dem Bestohlenen, der nun ein wenig zuversichtlicher in die Zukunft blickte.
Anschließend befragte er, mit Einverständnis der Direktion und mit einem extrem starken Vergrößerungsglas bewaffnet, das gesamte Zirkuspersonal. Einige der Artisten, besonders aber die Tierpfleger, wiesen Flohstiche auf, die sie mehr oder weniger gern herzeigten. Natürlich konnten die auch von irgendwelchen undressierten Viechern aus den Fellen der vielen Tiere stammen, mit denen der Zirkus arbeitete. Keinem der Befragten fiel auf, dass sich der Kriminalist sogar für die Exkremente der Flöhe auf der Haut neben den Einstichen interessierte.
„Madame Hekate“, stand zwischen Sternen und Tierkreiszeichen in seltsamen Lettern über dem kleinen grün-weißgestreiften Zelt. Und darunter: „Ein Blick in Ihre Zukunft – seriös und nachprüfbar – nur 5 €uro.“ Kaethe Meier, eine schon leicht angegraute, etwas fettleibige Wahrsagerin, die in der Nähe des Zelteingangs ihr Orakelkabinett betrieb, hatte die Buchstaben ihres Vornamens umgestellt zum Namen der geheimnisvollen griechischen Göttin der Nacht und der Unterwelt. Seit Jahren reiste sie, als kleine Nebenattraktion, mit dem Zirkus durch die Lande.
Etwas unzufrieden mit seiner bisher ergebnislosen Suche klatschte der Hauptkommissar mit der Hand Einlass heischend auf die Plastikbahn, die statt einer Tür das Zukunftsobservatorium von Frau Meier verschloss.
„Was ist denn los? Ich bin erst ab 19 Uhr wieder zu sprechen“, kam es dumpf von innen. Als der Hauptkommissar sich zu erkennen gab, öffnete „Madame Hekate“ widerstrebend den Eingang zu ihrem dunkel ausgeschlagenen Arbeitsraum. Sie hatte jetzt, weil sie kein Publikum erwartete, ihren sternenbestickten schwarzen Umhang abgelegt.
„Was wollen Sie denn von mir?“, wollte sie unwirsch wissen.
„Ja, haben Sie denn meinen Besuch nicht vorausgesehen?“, gab der Kriminalist ironisch zurück. Kaethe Meier kniff beleidigt die Lippen zusammen und schwieg.
Striepenkötter verdankte seine Karriere im Wesentlichen seinem legendären Gespür für winzige Details. Und das zeigte ihm sofort die unscheinbare rötliche Schwellung knapp unter dem kurzen linken Ärmel von Kaethes T-Shirt. Als der Hauptkommissar ihr nach einem prüfenden Blick durch das Vergrößerungsglas den böswilligen Diebstahl aus Eifersucht auf den Kopf zu sagte, wurde sie wütend und leugnete zunächst vehement.
Doch schließlich gestand sie die ruchlose Tat. Dimitri, selbst nicht mehr ganz taufrisch, hatte ihr die viel zu junge Seiltänzerin vorgezogen. Das wurmte Kaethe sehr. Und er hatte ihre Arbeit vor anderen Zirkuskollegen albernen Hokuspokus genannt.
Zähneknirschend rückte sie den Rest der Beute, nämlich die kleine Wohnschachtel mit neun der dressierten Flöhe, wieder heraus. Drei waren ihr leider irgendwie entwischt.
Der Beweis war aber auch erdrückend. Herkules, einer der entkommenen Hauptdarsteller aus Dimitris Truppe, hatte nämlich eine Missbildung am Darmausgang. Seine Ausscheidungen zeigten unter der Extremlupe immer so etwas wie eine schiefe Kreuzform. Und solch einen seltsam gestalteten Flohschiss hatte Striepenkötter gerade neben dem noch ziemlich frischen Einstich auf dem drallen Oberarm der Wahrsagerin entdeckt.
Letzte Aktualisierung: 20.03.2009 - 21.43 Uhr Dieser Text enthält 6735 Zeichen.