Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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März 2009
Auserwählt
von Werner Vogel

Die Annäherung an das Opfer war nun fast abgeschlossen, und das war gut so. Die Berührungen der dicht gedrängten und wenig bekleideten Leiber und der Geruch fremden Schweißes widerten Paul an. Außerdem näherte sich der Zug bereits der Station Stephansplatz und bis zum Schwedenplatz musste die Sache gelaufen sein.

Paul schlängelte sich weiter durch die in der Schwüle des U-Bahn-Waggons dampfende Menschenmenge. Sein Ziel, der Mann ganz in Schwarz, der so gar nicht in dieses fleischfarbene Bild hier passte und aus dessen linker Hosentasche einladend eine knallrote Geldbörse hervorblitzte, war jetzt beinahe in Griffnähe. Der Zug wurde langsamer, fuhr in die Station ein und kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich und Bewegung kam in die dumpfe Masse. Einige drängten hinaus in den Großstadtsommer, andere herein in die mobile Hölle hier. Der Mann in Schwarz blieb zum Glück da, wo er hingehörte. Paul atmete auf. Jetzt konnte nichts mehr schief gehen. Alles würde ablaufen wie geplant und hundertmal geübt. Die Türen schlossen sich und der Zug nahm Fahrt auf.

Paul atmete kurz durch, konzentrierte sich und setzte sich dann geschäftig in Richtung Ausstieg in Bewegung. Als er den Mann in Schwarz passierte, rempelte er ihn unsanft mit der rechten Schulter an, während seine linke Hand blitzschnell wie der Kopf einer Giftschlange vorschnellte, mit sicherem Griff das rote Portemonnaie packte, es aus der Hosentasche zog und in den an seinem Handgelenk baumelnden Jutesack fallen ließ. Die Bewegung war meisterhaft gewesen, nahezu perfekt. Natürlich wandte der Mann in Schwarz sich jetzt ihm zu, selbstverständlich murmelte Paul empört ein paar Worte vor sich hin, als wäre er seinerseits vom Fremden angerempelt worden. Alles verlief bisher nach Plan. Der Mann in Schwarz aber reagierte nicht nach Plan. Er murmelte nichts, gar nichts, er starrte Paul aus schwarzen Augen bloß unverwandt an. Dann plötzlich grinste er ekelhaft künstlich. Paul murmelte routiniert weiter, konnte sich dem Blick des anderen jedoch nicht entziehen. Zu lange verharrte er in der ungünstigen Position. Erst die Bremsgeräusche des Zuges erlösten ihn aus seiner misslichen Lage. Er drehte ab, drängelte sich etwas zu hektisch zum Ausgang, sprang auf den Bahnsteig.

Die ersten Schritte dort hatte er noch unter Kontrolle, sie waren, wie sie sein mussten: lang, aber ohne Eile gesetzt. Dann jedoch spürte er deutlich den schwarzen Blick im Rücken und begann zu rennen, die Rolltreppe hinauf, durch die langen Gänge, vorbei an überraschten Menschen, weiter über die Stiegen, hinaus ins sonnenüberflutete Freie bis in irgendeinen dunklen, kühlen Hausflur. Erst als sich dort eine alte Holztüre hinter ihm schloss, kam er zur Ruhe, fühlte sich in Sicherheit. Niemand rief nach ihm, niemand war ihm gefolgt.

Paul lehnte einige Minuten bewegungslos an der kahlen Mauer dieses fremden Ganges, mit dem ihn keine Erinnerung verband, atmete tief und dachte an nichts. Erst dann hatte sich seine Panik endgültig gelegt und er hatte sich wieder im Griff. Amateurhaft hatte er sich verhalten, eines geübten Taschendiebes unwürdig. Und alles bloß wegen der schwarzen Augen – und weil da einer kurz böse gegrinst hatte! Den Coup durfte er seinem Lehrmeister Klaus keinesfalls so erzählen, wie er sich zugetragen hatte, der würde ihn sonst nie wieder für die Innenstadt einteilen, das war sonnenklar. Zum Glück war alles noch einmal gut gegangen. Irgendwie war Paul jetzt sogar ein wenig stolz auf sich, weil er erfolgreich gewesen war, ohne den Plan genau einzuhalten. Er lächelte und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirne. Dann griff er in den Jutesack und kramte die Beute hervor.

Die Brieftasche war aus echtem Leder und prall gefüllt. Als er sie öffnete, traute er seinen Augen nicht. Was für ein Fang! Ihr Inhalt bestand aus zahlreichen Banknoten verschiedener Währungen, eine höher dotiert als die andere. Klaus würde begeistert sein, das stand einmal fest. Paul pfiff einige Takte der Marseillaise, was er immer tat, wenn ihm etwas besonders gut gelungen war. Zwischen all dem vielen Geld entdeckte er nun auch ein gefaltetes Blatt Papier. Er zog es heraus und erkannte Schriftzeichen darauf. War das ein Brief? Weil es im Hausflur hier zu dunkel zum Lesen war, verstaute er das rote Portemonnaie wieder in der Tragtasche, öffnete die Holztüre und verließ mit dem Schriftstück in der Hand sein Versteck.

Draußen schlugen ihm Hitze und grelles Licht entgegen. Es dauerte einige Sekunden, bis seine Augen sich wieder umgestellt hatten. Als es so weit war, begann er zu lesen. Auf dem Blatt stand in fein säuberlichen Lateinbuchstaben mit blauer Tinte geschrieben: „ Du bist der Auserkorene! Du entscheidest, ob wir den Versuch mit euch Menschen, das große Experiment, weiterführen oder endgültig als gescheitert ansehen und abbrechen. Ich warte bis genau 14 Uhr am Karlsplatz auf dich und meinen Besitz. Fehlt etwas oder kommst du zu spät, tagt das Jüngste Gericht, naht Armageddon, beginnt die Apokalypse.“ Paul lachte zwar verächtlich auf, aber er spürte sofort wieder den schwarzen Blick, sah das künstliche Grinsen vor sich und begann unter den Achseln stark zu schwitzen.

Irgendetwas musste er wohl auch laut gesagt haben, denn einige Passanten sahen ihn im Vorübergehen bestürzt an und beschleunigten dann ihre Schritte. Paul zerknüllte den Brief und stopfte ihn achtlos in den Beutel. Dabei fiel sein Blick auf die Armbanduhr: 13 Uhr 47! Nervös kramte er die rote Geldbörse hervor, ohne auf die Menschen in seiner Umgebung zu achten. Noch einmal öffnete er sie und durchstöberte mit zittrigen Fingern ihre Fächer. All das schöne Geld! Warum ließ er sich von dem unsinnigen Geschmiere bloß derart ins Bockshorn jagen? Im Kleingeldfach entdeckte er einen weiteren gefalteten Zettel. Er riss ihn heraus und öffnete ihn. „Zögerst du, Paulus?“, stand da in der gleichen Schrift. Paul ließ die Botschaft fallen. Sie segelte erstaunlich langsam zu Boden. 13 Uhr 49! Mit der U-Bahn ging sich das nicht mehr aus zum Karlsplatz! Nie im Leben! Auf der Ringstraße vor ihm hielt gerade ein japanischer Tourist ein Taxi an. Paul stürzte hin, stieß den Japaner beiseite und sprang durch die bereits geöffnete Beifahrertüre in den Wagen. „Soll ich einem anderen Taxi folgen, Mister Bond?“, fragte der Fahrer sarkastisch lächelnd. Paul schrie: „Karlsplatz, schnell!“ Der Fahrer hörte auf zu lächeln und gehorchte widerspruchslos. Im Rückspiegel sah Paul sein eigenes Gesicht, das ihn als verzerrte Fratze anstierte.

Das Taxi raste den Ring entlang, doch schon die dritte Ampel stoppte die Fahrt. 13 Uhr 51. „Fahren Sie doch!“, brüllte Paul. „Auf Ihre Verantwortung …“, murmelte der Chauffeur und brauste noch bei Rot los. Etwas hatte auch ihn überzeugt. Knapp nach dem Schwarzenbergplatz musste er jedoch abrupt bremsen. Ein Unfall hatte einen kleinen Stau erzeugt. 13 Uhr 55. Paul riss die Türe auf. Nun endete das Verständnis des Fahrers doch. „Gezahlt wird trotzdem, Freundchen!“, zischte er und hielt Paul am Hemdkragen zurück. „Da, dein verdammtes Geld“, fluchte der und warf seinem Kontrahenten irgendeinen Schein aus der roten Geldbörse, die er noch immer zwischen verkrampften Fingern hielt, zu. Der Taxifahrer ließ ihn los, der Betrag hatte gereicht. 13 Uhr 56, ja, es konnte sich noch ausgehen! Noch war die Welt nicht verloren! Paul rannte ohne zu atmen, ohne zu schauen, ohne zu denken. Die Menschen wichen ihm aus, als ahnten sie, dass er für sie lief, für sie alle.

Schon von Weitem sah Paul im Heranstürmen den Mann in Schwarz auf einer Bank vor der Karlskirche sitzen. Der starrte ihm grinsend entgegen. Noch einmal steigerte Paul sein Tempo. Seine Lunge brannte. Seine Schritte wurden unsicher, er stolperte, fiel zu Boden, rappelte sich wieder auf, torkelte weiter und stand endlich, endlich keuchend und nass geschwitzt vor seinem Opfer, seinem Richter. „Ich wollte ja nicht … aber im Leben gibt es oft gewisse … verzeihen Sie doch, verzeihen Sie noch einmal!“, stieß er hervor und hielt mit vom Sturz blutigen Fingern die gestohlene Brieftasche ihrem Besitzer entgegen. Dann musste er sich übergeben. Der Mann in Schwarz reagierte auf all das nicht. Er hatte einen eigenen Plan. Ohne auf irgendeine Uhr zu blicken sagte er mit ruhiger Stimme: „Es ist 14 Uhr und 33 Sekunden und etwas fehlt in meiner Börse.“ „Ich hatte doch kein eigenes Geld mehr fürs Taxi“, flüsterte Paul. In diesem Augenblick begannen alle Hunde in der Umgebung zu heulen wie Wölfe in sternenklarer Nacht und die hunderten Tauben, die nach Nahrung suchend über den Karlsplatz trippelten, erhoben sich gleichzeitig als riesiger grauer Schwarm in den Sommerhimmel. Hinter der Karlskirche türmten sich in einer Geschwindigkeit, die Paul so noch nirgendwo beobachtet hatte, schwarze Gewitterwolken auf. Bald würden sie die Sonne verfinstern. Alle Menschen waren stehen geblieben und starrten zum Himmel empor. Sogar die Autos waren zum Stillstand gebracht und die Motoren ausgeschaltet worden. Niemand sprach mehr. Kein Laut war zu hören.

Pauls Blick versank in den Abgründen der Augen dessen, der ihn auserwählt hatte. Wieso gerade ihn? Warum nicht die fette Dame drüben am Zeitungsstand oder den smarten Geschäftsmann beim Brunnen dort? Ob die wohl verhindert hätten, was nun kommen würde? Ob Klaus das geschafft hätte oder Vater oder Mutter? Jeder hatte doch zur Misere hier beigetragen, jeder! Es war nicht seine Schuld …

Die Wolken hatten nun die Sonne erreicht, es wurde stockdunkel und grelle Blitze zuckten herab zur Erde. Erstes Schreien und Wehklagen wurde laut, unkontrollierte Bewegung erfasste alle und alles. Der Mann in Schwarz saß nur so da, grinste aber nicht mehr. Er hatte Paul aus seinen Diensten entlassen. Dieser wandte sich um zur Flucht. Bevor der Orkan, der plötzlich und mit vernichtender Stärke einsetzte, ihn einige Sekundenbruchteile später mitriss, glaubte er hinter sich noch jemanden die ersten Takte der Marseillaise pfeifen gehört zu haben. Aber wahrscheinlich hatte er sich auch da geirrt.

Letzte Aktualisierung: 03.03.2009 - 17.04 Uhr
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