Es war dunkel, aber nicht kalt. Nur das Licht einer Straßenlaterne erhellte den Eingangsbereich.
Stefan stand vor der Eingangstür und spähte nach drinnen. Dort lag das Zielobjekt – eine Handtasche aus Krokodilsleder. Ein leichter Grünschimmer reflektierte sich auf ihrer Oberfläche.
Stefan schirmte sein Sichtfeld mit seinen behandschuhten Händen ab, um einen besseren Blick durch die Scheibe der Tür zu bekommen.
So nah und doch so fern, dachte er.
Er hatte den Auftrag bekommen, genau diese Handtasche zu besorgen. Er handelte nur im Auftrag. Bei einem Versagen brauchte er nicht zu seinem Auftraggeber zurückzukehren.
Er rüttelte vorsichtig am Knauf. Natürlich rührte sich die Tür kein Stück. Den Trick mit der Kreditkarte war für die Katz – der klappt nur im Fernsehen.
Ein anderer Weg musste gefunden werden, um ins Innere zu gelangen.
Stefan schlich links ums Haus, an der Küche vorbei und gelangte schließlich zur Terrasse.
Genügend Licht gab es von den Nachbarhäusern, sodass er sich gut orientieren konnte.
Er spähte vorsichtig mit dem Kopf um die Ecke. Im gleichen Moment erfasste ihn ein Suchscheinwerfer und Stefan glaubte, ein lautes Rattern eines Polizeihubschraubers zu hören.
Erwischt! Doch das war bloß Einbildung gewesen, weil die Terrassenbeleuchtung durch den Bewegungsmelder ausgelöst worden war.
Die Familie, die hier wohnt, kannte er ganz genau. Die Rollläden der Terrasse wurden zu allererst schlossen, wenn es dunkel wurde. Mist!
Hier sah Stefan keine Möglichkeit mehr, ungesehen an die Handtasche zu gelangen.
Er dachte kurz nach. Die Baupläne des Hauses schwirrten in seinem Kopf herum. Die Familie war heute Abend nicht zu Hause und alle Fenster im Erdgeschoss waren geschlossen.
Dann musste es halt anders gehen.
Zurück zum Eingangsbereich und von dort aus nach rechts zum kleinen Blumenbeet, das unter dem Balkon lag.
Ein Rosenspalier führte an der Wand bis in drei Meter Höhe nach oben und endete bündig mit der Balkonbrüstung.
Nur dort oben, bei den Schlafzimmerfenstern, sah Stefan noch eine Chance, um an sein Ziel zu kommen.
Die Kletterrosen an dem Holzgestänge hatten es nur bis auf Brusthöhe geschafft. Dann hatten sie aufgegeben und sich nach rechts und links ausgebreitet.
Stefan versuchte im Halbdunkeln die flachen Schiefersteine zu erkennen, die für das Unkrautjäten und zur Dekoration im Beet verteilt worden waren.
Nur um keine Fußabdrücke zu hinterlassen hüpfte er von Stein zu Stein, bis zum Spalier und zog sich daran hoch und blieb ein paar Mal an den Dornen hängen, konnte sich aber losreißen. Dann auf halber Höhe geschah das Unvermeidliche:
Er rutschte mit seinen nahezu profillosen Schuhen ab und konnte sich gerade noch festhalten.
Er atmete kurz durch und kletterte weiter.
Kurz vor dem Ziel brach plötzlich eine der Querlatten unter seiner Hand und er hatte alle Mühe, sich mit der anderen festzuklammern. Das Knacken der Latte, das Stefan so laut wie ein Donnerschlag vorgekommen war, ließ ihn zusammenfahren. Hoffentlich hatten die Nachbarn nichts gehört.
Doch außer einem Hundegebell in weiter Ferne passierte nichts.
Stefans Herz schlug ihm bis zum Hals. Er verwünschte die Heimwerkerfähigkeiten des Eigentümers und zog sich über die Balkonbrüstung.
Ein Blick nach unten zeigte ihm den Höhenunterschied und ließ ihn zittern.
Das sind mindestens 80 Meter!
Er hatte Höhenangst – welches Opfer er doch für den Auftrag aufbringen musste!
Es gab hier oben ein Fenster und eine Balkontür. Beide Jalousien waren bis zur Hälfte heruntergelassen.
Die Tür war geschlossen, das Fenster aber stand auf Kippe.
Jetzt kam der anstrengende Teil: Er würde mit einem Arm die Jalousie vom Fenster nach oben hebeln und dann weiter zum Türgriff schieben, um ihn zu öffnen.
Stefan streckte seinen Arm aus und vollführte seinen Plan. Irgendwie, und mit eingeklemmten Ellbogen, gelang es ihm. Dann schob er den Rollladen der Tür hoch und kroch hindurch. Vorsichtig und so leise wie möglich ließ er den Rollladen wieder hinunter und schloss leise die Tür.
Stefan zog seine Mini-Taschenlampe aus der Innentasche seiner Jacke und leuchtete vorsichtig herum.
Eine Seite des Bettes war aufgeräumt und die Decke ordentlich zusammengelegt. Die andere sah wie nach einer Explosion aus: Hemd und Krawatte lagen auf dem Boden, das Bettzeug zusammengeknüllt. Was für ein fauler Sack.
Er war nicht auf der Suche nach Geld oder Schmuck, sondern nur die Handtasche im Erdgeschoss war wichtig.
Zur Schlafzimmertür hinaus kam man auf den Flur, der zu den Kinderzimmern und der Toilette führte. Im Taschenlampenschein wurde das Treppengeländer sichtbar.
Mit sicheren Schritten ging er drauf zu und rutschte auf einem vergessenen Spielzeugauto aus. Die Wucht der Rückenlandung presste ihm die Luft aus den Lungen.
Ich hasse Kinder!
Er tastete sich ab und stand auf, zum Glück war er nicht ernstlich verletzt und ließ sein Genick zweimal Knacken, als er den Kopf hin- und herdrehte.
Was er nicht alles für seinen Auftrag ertrug!
Das wird mir hier zu gefährlich! Ich mache lieber das Licht an!
Da er jetzt genug sehen konnte, hastete er die Treppe nach unten. Jetzt wusste jeder, dass jemand oben, bzw. im Flur war.
Die Glühbirne im Obergeschoss zerplatzte. Stefan sah im Laufen nach oben. Da er ziemlich groß und der Architekt sich mit der Treppe etwas verschätzt hatte, wurde genau das ihm zum Verhängnis. Er schlug mit der Stirn gegen den Betonabsatz der ersten Etage. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. In seinem Kopf hallte es wie nach einem Gongschlag. Er fasste sich mit einer Hand ins Gesicht und versuchte mit der anderen das Treppengeländer zu erwischen. Er griff daneben und durch den Schwung riss ihn sein Gewicht nach hinten und seine Füße erhoben sich ebenfalls in die Luft.
Geistesgegenwärtig konnte er wenigsten verhindern, dass sein Kopf noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Unten am Treppenabsatz angekommen, versuchte Stefan mit tiefem Ein- und Ausatmen die Sterne vor seinem Sichtfeld zu vertreiben.
Allein die Vorstellung, wie sein Rücken morgen nach dieser Wahnsinnsabfahrt aussehen würde, ließ ihn erschauern.
Stefan rollte sich auf die Seite und stelle fest, dass er seinen Rücken gar nicht spürte, er war völlig taub.
Er stemmte sich hoch und schüttelte das Schwindelgefühl, das ihn überkommen hatte, ab. Nachdem sein Blickfeld sich wieder zu einem Ganzen zusammengesetzt und geklärt hatte, taumelte er Richtung Eingangsbereich weiter.
Die Handtasche und damit sein Auftragsziel waren zum Greifen nahe.
Plötzlich klingelte das Telefon. Jetzt war es aus!
Egal! Stefan suchte den Fußboden ab, steckte sich den Schlüssel in die Sakko-Tasche ohne Loch, schnappte sich die Handtasche und spurtete nach draußen, wo seine Frau schon ungeduldig im Auto wartete und gerade versucht hatte ihn anzurufen und zu fragen, wo er nur blieb.
Letzte Aktualisierung: 19.03.2009 - 08.32 Uhr Dieser Text enthält 6842 Zeichen.