Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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März 2009
Nagaska
von Thomas Lisowsky

„Sie kommt in der Stunde, in der der Mond die Sonne ablöst.“
Die MÀrchenoma weitete die Augen, als wÀre sie selbst eine Schreckgestalt wie die Hexe, von der sie erzÀhlte. Die Flammen des Lagerfeuers spiegelten sich auf den Kindergesichtern, und in denen spiegelte sich die Furcht.
Risa saß mit angezogenen Beinen auf dem Baumstumpf und wippte hin und her. Hoffentlich guckte sie nicht so dumm wie die anderen.
„Dann seid daheim in euren Betten, denn was fĂŒr Geschichten man sich ĂŒber die Nagaska erzĂ€hlt! In Gestalt der Elster schleicht sie sich in das Dorf und lĂ€sst eine Perle aus schwarzem Glas in den Brunnen plumpsen, und dann verfault das Wasser darin. Als junger Gamsbock durchrennt sie die Kornfelder, und wo sie die Halme mit ihren Hörnern berĂŒhrt, da wird das Korn schwarz wie fauliges Fleisch und die Ähren sinken auf den Boden.“
Die Oma ging mit ihrem Blick die Gesichter ab, als suchte sie etwas darin. Bei ihr hielt sie kurz an, das glaubte Risa zumindest.
„Und was, denkt ihr, geschieht mit Kindern, die sie in der Dunkelheit findet?“
Ein LĂ€cheln entblĂ¶ĂŸte die drei ZĂ€hne, die der Oma noch im Mund hingen.
„Oh ja, diese Kinder lernen Nagaskas HĂŒtte im Wald kennen. Einen Zaun aus Knochen hat sie darum gezogen, und in ihre Stube gelangt ihr nicht durch eine TĂŒre, sondern durch den Kiefer eines DrachenschĂ€dels. Ein Kupferkessel hĂ€ngt stets ĂŒber ihrem Ofenfeuer, und in dem Kessel brodelt und kocht es, wann immer man hinblickt... Das ist der Kessel, in dem sie ihre Mahlzeiten zubereitet. Das Fleisch von Kindern ist ihr das Liebste, denn es ist zart und mild.“
Die Kinder kauerten sich auf den BÀnken und im Gras zusammen. Dabei waren Kinder bestimmt nicht zÀrter und milder als Erwachsene. Risa streckte sich.
„Nun wisst Ihr, was die Nagaska am liebsten tut. Sie stiehlt Kinder. Denn ihre eigenen hat sie schon vor Urzeiten gekocht, als sie der Appetit ĂŒberkam.“
Die Alte klatschte in die HĂ€nde, und sofort machten sich die Kinder auf. BrĂŒder nahmen ihre Schwestern an die HĂ€nde und fĂŒhrten sie davon. Laut zu sprechen wagte niemand, und die Flammen des Feuers knisterten lauter als die Kinder murmelten.
Die Alte warf noch einen Scheit ins Feuer und Ă€chzte bei der Bewegung. Das halbe dutzend Kinder, das noch ĂŒbrig war, drĂ€ngte sich eng auf den BĂ€nken. Jetzt musste noch etwas kommen.
„Falls Ihr mir nicht glaubt... Ihr kennt wohl die alte Scheune am Rand des Dorfes. Die BĂ€ume des Waldes ragen schon ĂŒber sie hinaus und bei Sturm streicheln sie mit ihren Ästen das Dach. Ja, so nah ist die Scheune dem Wald, dass sie Teil von Nagaskas Reich ist. Hinter der Scheune stapelt sich das Feuerholz, aber selbst bei Tag gibt es niemanden, der es wagt, das Holz anzurĂŒhren. In einer sternenlosen Nacht vor einigen Jahren, so sagt man, spielte ein MĂ€dchen allein dort. Sie spielte bis tief in die Nacht und sah nicht in den Wald. Am nĂ€chsten Morgen fand man nur noch das Kleid ihres HolzpĂŒppchens.“
Ein MĂ€dchen drĂŒckte sich enger an den Jungen neben sich. „Die Nagaska hat sie gestohlen?“
„Gewiss. Wie sie es gerne tut. Die Knochen des MĂ€dchens zieren nun sicher den Zaun der HexenhĂŒtte.“ Die Alte stocherte mit einem Stöcklein in der Asche. „Und nun geht heim, die Stunde ist schon spĂ€t.“
Auch die letzten brachen auf und gingen Umwege nach Hause, um nicht zu nah an den Wald heran zu mĂŒssen.
Nur noch Risa saß der Alten gegenĂŒber.
„Ich glaube nicht, dass sie einen DrachenschĂ€del vor ihrem Haus hat“, sagte sie. „Nur ein Ritter oder ein Prinz kann einen Drachen erschlagen. Bestimmt keine Hexe.“
„So? Woher willst du wissen, dass die Ritter und Prinzen in den Geschichten nicht in Wirklichkeit Nagaska sind, die sich nur in Gestalt eines Ritters oder Prinzen gezeigt hat?“
Risa ĂŒberlegte einen Moment und hielt die FĂŒĂŸe still. Dann ließ sie sie wieder umherbaumeln.
„Nein, das geht nicht.“
„Seltsame Ideen hast du.“
„Finde ich nicht.“
Die Alte murrte und hievte sich von der Holzbank hoch. Risa wusste nicht, ob es die Bank war, die knarrte, oder der RĂŒcken der ErzĂ€hlerin. Sicher war sie schon so alt wie die Nagaska.
„Lass es gut sein mit mir fĂŒr heute.“
FĂŒr einen Augenblick glĂ€nzte da in ihren Augen noch etwas anderes als nur die MĂŒdigkeit.
Risa hob der Alten den Wanderstock auf, der fast so krumm war wie seine Besitzerin.
„Na gut“, sagte sie.
Die Alte bedankte sich und watete auf dĂŒnnen Beinen aus dem Schein des Feuers und tauchte in die Dunkelheit.
Aber als hÀtte sie die Hilfe der Oma gebraucht.

Mittags am Spinnrad öffnete sie das Fenster, um in das GrĂŒn der WĂ€lder hinauszublicken. Ihre HĂ€nde verhedderten sich im Garn, und beim Mittag ließ sie die HĂ€lfte der Suppe stehen, ohne es zu merken. Aber das schadete niemandem. Ihr kleiner Bruder war gierig genug, gierig nach allem, das sich essen oder betatschen ließ. Nur, wenn jemand von der Hexe sprach, dann machte er sich klein. So wie alle Kinder.
Sie wĂŒrde sich nicht klein machen. Schließlich war sie groß, schon fast Elf. Dann wĂŒrden die Finger ihrer beider HĂ€nde nicht mehr genĂŒgen, um ihr Alter zu fassen, sagte ihre Mutter.
Fassen konnte sie schon so niemand mehr, und keine Spukgeschichte der Welt konnte sie nach Nachteinbruch in ihr Zimmer sperren!
Sie schlich sich nach dem Abendbrot davon, ein Messer und einen Brotkanten in ihrer SchĂŒrze. Zwischen den HĂ€usern gingen Leute umher, die sie besser nicht sahen. Aber als sie an der Scheune ankam, hatte die Nacht sie bereits verschluckt. Die Scheune warf einen Schatten ĂŒber sie, der mit den ersten Baumreihen verschmolz. Kein ZurĂŒck. Sie war lĂ€ngst drinnen. Sie schob sich ein StĂŒck Kanten in den Mund und kaute darauf herum. Damit ihre ZĂ€hne nicht klappern konnten, vor KĂ€lte oder sonst was. Dabei war ihr Leinenkleid selbst fĂŒr den Sommerabend fast zu warm.
Wieso mussten die Scheunenfenster so hoch liegen, dass sie nicht hineinsehen konnte? LĂ€ngst drangen keine Stimmen aus dem Dorf mehr zu ihr, und wenn es knisterte und knackte, dann konnte das keiner ihrer Spielkameraden mehr sein. Irgendetwas im Holz. HolzwĂŒrmer natĂŒrlich, die mit ihren kleinen FĂŒĂŸchen auf dem Holz entlang tappten, dann knisterte es.
Das Gras kitzelte sie an den nackten Waden. Sie musste genau hinsehen, um zu wissen, dass es Gras war. Nur Gras.
Der Kanten in ihrem Mund klebte ihr lĂ€ngst als Brei am Gaumen. Sie schluckte, nahm noch ein StĂŒck in den Mund und bog um die Ecke.
Der Stapel aus Holzscheiten lehnte sich an die Scheunenwand an wie ein TrĂŒmmerhaufen. Dann gab es den Stapel. Aber das musste nichts heißen.
Sie drÀngte sich in den Geruch von Feuchtigkeit und Harz, lehnte sich an die Scheite. Holzsplitter brachen ab. Knisterten wie Feuer.
Sie hockte sich hin, die Scheite im RĂŒcken. Etwas stieß gegen ihren Fuß. Ihr Atem stockte, und das Brot rutschte ihr beinahe in den Hals. Die Puppe. Aber die Dunkelheit ließ sie nicht einmal die Umrisse erahnen. Nicht die Puppe. Nur ein Holzscheit, der vom Stapel gefallen war. Aber berĂŒhren wĂŒrde sie ihn nicht. Es war nur ein Holzscheit.
Wieso mussten ihre Finger so zittern, als sie nach einem StĂŒck Holz vom Stapel griff?
Sie wĂŒrde bleiben. Bis die Sonne wiederkam. Eine böse Stimme flĂŒsterte ihr zu, dass sie ohnehin nicht wĂŒrde aufstehen können. DafĂŒr war es zu spĂ€t.
Sie schnitzte. Mit dem Messer fuhr sie ĂŒber die Rinde des HolzstĂŒcks. Kratzte vielleicht etwas herunter, vielleicht nicht.
Rascheln im Wald. Die HolzwĂŒrmer. Ja, die gab es auch im Wald, und da raschelten sie, statt zu knistern. Aber selbst in der Dunkelheit wĂŒrden sie keine Silhouette haben, die fast so hoch war wie ein Mann. Und die Silhouette war da. Schlich ĂŒber die LĂŒcken zwischen den BĂ€umen, durch die Mondlicht drang.
Ihr Messer steckte fest im Holz. Sie ruckte und zog, aber es kam nicht frei, quietschte nur klÀglich.
Der Atem stotterte ihr in die Brust und wieder hinaus. Hexen konnten keine Drachen töten.
Weglaufen ging nicht. Wie die Stimme gesagt hatte. Jetzt nicht mehr. Nie wieder. Nie wieder weglaufen. Als hĂ€tte eine Winterstarre ihre Glieder gepackt, und nur ihr Denken wĂ€re noch wach. Die Silhouette verließ die ersten Baumreihen, raschelte durch das hohe Gras auf sie zu. Messer und HolzstĂŒck entglitten ihr, und den Brotbrei im Mund schmeckte sie nicht mehr.
„Nur ein MĂ€dchen konnte hierher kommen, ich habe es geahnt“, sagte eine Stimme, die krĂ€chzte wie eine KrĂ€he. Oder wie eine Elster. Oder wie ein junger Gamsbock, der die Felder verpestete.
„Wirst du mich stehlen? Du stiehlst doch die Kinder, nicht?“, fragte sie, und ihr ganzer Körper zog sich zusammen. Totenstarre, vielleicht war es das. Sie war schon tot.
„Das ist wahrscheinlich der einzige Teil der Geschichte, der nicht erlogen gewesen ist.“
Die Schritte drĂŒckten sich so nah ins Gras, dass die Hexe sie gleich berĂŒhren können musste. Stattdessen drehte sie sich zur Seite und verzog den Mund, bis dass die drei verbliebenen ZĂ€hne sichtbar wurden.
„Aber nicht jedes Kind“, sagte die GeschichtenerzĂ€hlerin, „sondern nur eines, das sich nicht vor der Furcht fĂŒrchtet. Nur ein solches kann lernen, was die Hexerei wahrhaftig ist, und mich beerben.“

Letzte Aktualisierung: 12.03.2009 - 08.30 Uhr
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