Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Es war im Umkleideraum, nach dem Turnunterricht, wo eine Schülerin den anderen Mädchen erschrocken zurief: „Ich fasse es nicht! Meine fünfzig Euro sind weg. Ich bin mir ganz sicher, dass sie vorher noch in meiner Geldbörse waren!“ „Was sagst du da? Wie sollen die abhandengekommen sein? Ich will jetzt auch sehen, ob mein Geld noch da ist oder nicht!“ bemerkte eine andere Schülerin, kramte in ihrem Rucksack nach der Geldbörse, öffnete sie und wunderte sich:“ Komisch ist das, sehr komisch! Bei mir fehlt auch das Geld!“
Bald sahen alle in ihren Geldbörsen nach. Nur fünf Mädchen waren vom Diebstahl verschont geblieben. Die hatten aber nichts einstecken gehabt, für das sich gelohnt hätte, es ihnen zu stehlen. Geheime Schadenfreude bemächtigte sich der fünf Mädchen, weil sie kaum oder kein Taschengeld erhielten. Sie ließen sich jedoch nichts anmerken, um von unangenehmen Auseinandersetzungen mit den Bestohlenen verschont zu bleiben. Einem der der beklauten Mädchen fehlte sogar ihr neues Handy. Die Mädchen saßen beisammen und versuchten, auf klare Gedanken zu kommen und zu rekonstruieren. Manuela hatte einmal den Turnsaal verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Sie hatte zwar immer Geld bei sich, war modisch gekleidet, aber man wusste, dass ihre Mutter Sozialhilfe beziehe. Dies war für Manuela aber kein Hindernis, sich bei Eva und Ruth beliebt zu machen, die aus reichen Elternhäusern stammten und das Sagen in der Klasse hatten. Ständig katzbuckelte Manuela um die beiden herum, ließ sich von ihnen kommandieren und beteiligte sich an deren Gemeinheiten und Schikanen den anderen Schülerinnen gegenüber.
Man sah Manuela misstrauisch an. „Was habt ihr? Mir selbst fehlen fünfzehn Euro und das Kleingeld. Nur, weil ich draußen war, muss ich von euch nicht verdächtigt werden!“ wehrte sich Manuela. „Du bist aber verdächtig! Du warst ziemlich lange da draußen!“ warf ihr Eva vor, stand auf, nahm Manuelas Rucksack und entleerte ihn vor den Augen der Mitschülerinnen. Sämtliche Taschen, zwei Etuis und die Geldbörse Manuelas wurden von Eva sorgfältig inspiziert.
Als bei der hilflos wirkenden Manuela nichts gefunden wurde, entschuldigte sich Eva mit gekünstelter Freundlichkeit: „Entschuldige, Manuela! Natürlich bist du k e i n e Diebin!“ Sie besah Manuela mit einem eigentümlichen Blick. Auch Ruth, die neben Eva stand, warf Manuela seltsam sprechende Blicke zu, und gebärdete sich unnatürlich erstaunt. Angela, einer scharfsinnigen Denkerin, einem besonders aufmerksamen und selbstbewussten Mädchen, entging diese eigenwillige, nonverbale Kommunikation nicht. Sie empörte sich innerlich über Eva und Ruth, die sich ständig in den Mittelpunkt stellten, sich gut vorkamen, immer die neuesten Klamotten trugen und auf subtile, gemeine Weise die anderen, eher unbefangenen Mitschülerinnen dirigierten. Fand man eine Schülerin unsympathisch, aus welchen Gründen auch immer, wurde Manuela eingesetzt, um dem jeweiligen Opfer die Hölle heiß zu machen. Die wortgewandte, skrupellose und stets impertinente Manuela war darauf prädestiniert, Unbeliebte einzuschüchtern und „weichzukochen“. Angela beunruhigten die Blicke, mit denen sich Eva, Ruth und Manuela zu verständigen schienen. Sie glaubte zu spüren, dass die Drei etwas zu verbergen hätten. „Manuela war lange draußen, hat aber nichts gestohlen. Jemand von außerhalb wäre vom Schulwart bemerkt worden. Es m u s s Manuela gewesen sein. Wo ist das gestohlene Geld mitsamt dem Handy hingekommen? Es gibt auch keine Versteckmöglichkeiten, außer es sei denn …, aber das ist doch unmöglich!“ dachte sie darüber nach. Eva und Ruth hatten alles, was sie sich nur wünschen konnten. Die hatten es nicht notwendig zu stehlen. Angela zog nämlich ein Komplott in Erwägung. Erstens hatten Eva und Ruth Manuela völlig für sich eingenommen, zweitens war Manuela durchaus verdächtig und drittens hatte sie bemerkt, dass sowohl Eva als auch Ruth ihre Taschen nur flüchtig durchsucht hatten, aber allen anderen Mädchen die Anweisung gaben, vor den Augen aller Mitschülerinnen, Taschen, Rucksäcke und Geldbörsen zu entleeren, wie sie es zuerst auch Manuela befohlen hatten. Angela war auf den schrecklichen Gedanken gekommen, dass Manuela von Eva und Ruth den Auftrag bekommen habe, die anderen zu bestehlen. „Aber warum sollten sie das tun? Sie haben doch alles! Oder geben sie das Gestohlene Manuela? Damit sie sich alles leisten kann, was Eva und Ruth auch haben? Um das Image zu bewahren?“ verzweifelte Angela in ihren Gedankengängen. Diese behielt sie jedoch für sich, um sich mit den anderen nicht anlegen zu müssen, was ihr so gar nicht bekommen wäre. Beliebte Personen zu verdächtigen, konnte Schwierigkeiten bereiten. „Ach, ich will nicht ewig sinnlos grübeln!“ beschloss Angela und suchte zwei Schülerinnen einer anderen Klasse auf, mit denen sie eng befreundet war. Das wusste niemand aus Angelas Klasse!
Nachdem Angela ihren beiden Freundinnen alles über den Diebstahl einschließlich ihrer eigenen Gedanken dazu geschildert hatte, meinte eine der beiden: „Diese wichtigtuerischen Modepuppen sind wirklich verdächtig! Einmal habe ich sie in der Nähe der Schule mit zwei Typen gesehen, die so gangstermäßig gewirkt haben! Oder wie „Mini - Mafiosi“, beide Typen in dunkelblauen Sportjacken und mit weißen Schirmkappen. „Wirklich? Wenn es so ist, könnt ihr mir einen Gefallen tun? Beobachtet Eva und Ruth heute unauffällig, geht ihnen in einem gewissen Abstand hinterher, ihr wisst schon. Ich habe da so eine Ahnung!“ bat Angela ihre Freundinnen. Sie willigten ein und folgten Eva und Ruth nach Unterrichtsende in unauffälligem Abstand.
Der Weg führte in den nächstgelegenen Park. Dort bemerkten sie folgendes: Eva und Ruth trafen die besagten Typen. Diese besprachen sich mit den beiden Klassenchefinnen. Dabei gestikulierten sie lässig, lachten und nach einer Weile kramten Eva und Ruth in ihren Taschen. Eva überreichte einem der Typen ein funkelnagelneues Handy. Er grinste sie an. Ruth hielt dem anderen Typen nervös eilig zusammengeraffte Geldscheine entgegen. Er stopfte, möglichst unbemerkt um sich blickend, das Geld flink in seine Hosentasche. Dann steckte er Ruth etwas zu, das sie ebenfalls möglichst unauffällig in ihrer Tasche verstaute. „Das sind Dealer! Eva und Ruth sind Diebinnen! Sie checken sich Drogen! Hab ich`s mir doch gedacht!“ flüsterte die eine Freundin Angelas entsetzt. „Ich ruf`gleich `mal Angela an!“ Sie rief augenblicklich an und konnte die zornige Rückmeldung Angelas hören: „Genau d a s hab` ich mir gedacht. Die arme Manuela! Sie ist beauftragt worden zu stehlen, und das von ihren besten Freundinnen. Sie hat alles in die Taschen von Eva und Ruth gesteckt, und nun besorgen sich die zwei Idiotinnen Drogen. Wisst ihr, ich will keine Denunziantin sein, ihr kennt mich ja. Außerdem können die mir leid tun, besonders Manuela. Sie ist für die beiden nur so etwas wie eine Sklavin oder das Mädchen für alles. Sie braucht w i r k l i c h e Freundinnen!“
Angela dachte noch den ganzen Tag über die Begebenheit nach. Um den Bestohlenen zu helfen, wäre sie verpflichtet, Anzeige zu erstatten. Zwei Augenzeuginnen hatte sie schließlich. Mit der Klassensprecherin wollte sie sich nicht austauschen, weil sogar die eine Art Marionette von Eva und Ruth darstellte. Außerdem war ihr der Ruf zuwider, als Schnüfflerin und Ordnungshüterin zu gelten. Am besten sei es, so bedachte sie, die Diebin auf frischer Tat zu ertappen. „Wenn mir das gelingen sollte, wie kann ich dann allen weismachen, dass das Geld an Eva und Ruth gehe?“ fragte sie sich grübelnd. Ihre Selbstsicherheit war jedoch so stark wie ihr Selbstbewusstsein in vielen Dingen. Sie dachte sich aus: „Wenn sich Manuela wieder aus dem Turnsaal entfernen sollte, werde ich mich auch mit dem Vorwand, auf die Toilette gehen zu müssen, in den Umkleideraum schleichen. Sobald Manuela wieder im Turnsaal ist, werde ich in den Taschen von Eva und Ruth nachsehen. Sollte dort offensichtlich verstohlenes Geld versteckt sein, werde ich mit Nachdruck veranlassen, dass sowohl Eva als auch Ruth vor den Augen all ihrer Mitschülerinnen ihre Taschen komplett entleeren. Wenn sie sich weigern, ist es schließlich verdächtig, also m ü s s e n sie es tun. Auf die Blicke bin ich schon gespannt! Nur darf ich in jenem Moment den Mut nicht verlieren!“
Sie lehnte sich zufrieden zurück, schloss die Augen, und ließ die Situation nach dem Turnunterricht nochmals in Gedanken wie einen Film vorüberlaufen. Manuela hatte wie ein geknechtetes Tier gewirkt, auch ihr Blick war tierisch, so ausdruckslos und mechanisch, als sei sie hypnotisiert worden. Eva und Ruth hatten ganz besondere Blicke aufgesetzt. Im Unterricht wirkten die beiden oft abwesend oder waren leicht übermütig. Angela hielt es für durchaus möglich, dass die beiden während des Unterrichts manchmal unter Drogeneinfluss gestanden hatten. „Sollen sie ihre Drogen nehmen, ich sage nichts, aber den Mitschülerinnen das Geld zu stehlen, ist eine Megagemeinheit. Wenn mein Plan klappt, es sei denn, dass es nie wieder geschehe, wird die Sache mit den Drogen vielleicht auch nicht verborgen bleiben. Den nächsten Diebstahl muss ich unbedingt auffliegen lassen. Um Manuela muss ich mich auch kümmern!“ überlegte Angela. Leicht war es nicht, was sich Angela für die unmittelbare Zukunft ausmalte, es werde sie einiges an Kraft kosten. Sie war aber eine starke und selbstsichere Person, der solche Aktionen wohl gelingen mochten. Im Notfall werde sie, so sagte sie sich, mit all den Problemen an ihre zwei geheimen Freundinnen aus der anderen Klasse wenden.
Angela hatte sich den Vorfall, ihre Gedanken und Vorsätze dazu, in ihr Tagebuch notiert. Sie wurde nach dem ereignisreichen Tag schnell müde, legte Stift und Tagebuch beiseite, schloss abermals die Augen und dachte noch kurz:“Wenn es schon die Möglichkeit gibt, der Gerechtigkeit an`s Tageslicht zu helfen, muss man sie ergreifen. Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten gibt es schon zu viele auf dieser Welt!“
Letzte Aktualisierung: 17.03.2009 - 21.02 Uhr Dieser Text enthält 10157 Zeichen.