Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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April 2009
Alltag
von Angelika Gerber

Jana warf nervös einen Blick auf ihre Armbanduhr und bemerkte, dass die Zeit stehen geblieben war, sie bekam eine Gänsehaut und rieb sich die Arme mit den Handflächen, um sie zu vertreiben.
Als sie wieder hoch blickte, sah sie Marvin lässig um die Ecke schlendern,
groß, dunkel und so hübsch, dass man hinschauen musste, ihn einfach nicht übersehen konnte.
Er schenkte ihr ein kleines Lächeln, das sie sofort noch trauriger stimmte. “Entschuldige die Verspätung. Mensch, was ist das für eine Hitze heute, mir rinnt der Schweiß schon den Nacken hinunter!“ Jana versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie räusperte sich und krächzte dann betont unbeschwert: “Ja, du hast recht, es ist fürchterlich drückend heute, am besten gehen wir gleich rein.“ Dabei war dies ganz sicher das Letzte, was sie wirklich wollte.“ Er nickte nur und machte ihr die Türe auf.

Sie betraten gemeinsam das Rathaus, zum letzten Mal Seite an Seite, als gerade die Kirchturmuhr nebenan ertönte und mit jedem Schlag tat Jana das Herz mehr weh. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht kraftlos auf die harten, kalten Platten zu fallen und zu schluchzen. Wie konnte es nur sein, dass sie sich wirklich scheiden ließen, wo sie sich doch so sicher gewesen war, dass er der Mann war, den sie ihr Leben lang gesucht hatte. Die große Liebe, an die sie zuvor nie geglaubt hatte.
Mit leeren Augen blickte sie in sich hinein und erinnerte sich, wie alles begann:
Es war ein lauwarmer Sommerabend, der sich nach der Hitze des Tages herrlich wohltuend anfühlte. Eine leichte Brise kühlte die sonnenverbrannte Haut und brachte den salzigen Geruch des Meeres in die Stadt.
Jana streckte die nackten, schmutzigen Füße aus und machte es sich auf der Treppe vor ihrer Wohnung bequem. Sie betrachtete die Einwohner der Stadt, die Menschen, die auf dem Gehweg vorbeigingen, rannten oder stolperten, die jungen Mädchen die kichernd auf ihren Rädern schwatzten und lachten, die Mütter, die mit stolzem Gesicht ihre Kinderwagen vor sich her schoben und so glücklich aussahen. Jana war ganz beschwingt von einem Glas Rotwein und einem Stück kalter Pizza, das sie gerade noch gefunden hatte, im sonst so leeren Kühlschrank. Der Wein machte wohlig warm im Bauch und all die trüben Gedanken verflogen. Sie schenkte sich nach, wieder und wieder, genoss die Unbeschwertheit, die sie erfasste.
Sie rief manchen Passanten etwas zu und kicherte dann, wenn diese nur verblüfft zu ihr hoch sahen und befremdet den Kopf schüttelten.
Ja, ja, man spricht keine Fremden an, das macht man einfach nicht. Sie hörte die Worte mit der Stimme ihrer Mutter und prustete noch lauter.
Da lief ER plötzlich vorbei und sie rief streng: “Halt Kontrolle.“ Verwundert stoppte er seinen Schritt, blieb etwas erschreckt stehen und sah sie erwartungsvoll an: “Ja bitte?“ Jana lachte leise, rief mit ihrer hellen Stimme in beschwingtem Tonfall: “Du bist ganz eindeutig der hübscheste Mann, der bisher hier vorbeigelaufen ist, das wollte ich nur gesagt haben“, und sie lachte wieder und kam sich sogleich ziemlich mutig vor. Er runzelte zuerst die Stirne, ließ dann aber seine weißen Zähne blitzen, als er lächelte: “Wie viele Männer sind denn bisher vorbeigekommen!?“ Jana überlegte kurz: “Ein alter Mann mit Krückstock und ein Jogger mit verschwitztem T-Shirt“. „Wow, was für eine Konkurrenz“, lachte er, und sie verliebte sich in den Fremden, spürte ihr Herz pochen und schalt sich als verrückt.
Aber war verrückt sein nicht herrlich? Da heute der Tag war, an dem sie alles aussprach, was ihr in den Sinn kam, redete sie weiter ohne nachzudenken “Ich mag dein Lachen, willst du dich nicht zu mir setzen, auf die kalten Stufen, ich kann dir einen Schluck Wein aus meinem ziemlich hässlichen Weinglas anbieten, dazu reiche ich dir ein angegessenes, kaltes Stück Thunfisch-Pizza und erzähle dir ein paar lustige Geschichten. Du solltest nur ab und an lachen, dann wäre ich schon zufrieden.“
Wieder pochte das Herz ganz hoch, schlug über den Hals hinaus, war kaum zu bändigen. Sie atmete tief ein und aus, um es zu beruhigen, doch die Gefahr, das er einfach weiterging, war groß.
Er schmunzelte über ihre direkte Art, überlegte kurz, sah nervös auf die Uhr und lachte wieder: “Sie ist stehen geblieben. Das muss doch ein Zeichen für eine Pause sein! Eigentlich habe ich wirklich keine Zeit, aber da diese gerade steht, hab ich doch welche, außerdem wer könnte zu so einem einzigartigen Angebot denn nein sagen“.
Schwungvoll sprang er die Treppe zu ihr hoch, küsste ihr galant die Hand, sprach:“ Ich bin Marvin“, setzte sich neben sie und roch so gut, dass sie sofort wusste, dass sie ihn nicht mehr gehen lassen konnte. Sie beobachten gemeinsam die Passanten, dachten sich Geschichten über die Fremden aus und lachten, bis keine Menschen mehr zu sehen waren, nur sie beide waren noch übrig und das war mehr wie genug. Die Dunkelheit brach herein, zusammen mit der Gewissheit, dass sie sich eigentlich schon ewig kannten. Es war eine Vertrautheit zwischen ihnen, die man nicht beschreiben konnte.
Schon nach wenigen Wochen zog Jana zu Marvin, denn jede Minute ohne den anderen war nicht auszuhalten. Sie konnten es manchmal nicht fassen, wie verliebt sie waren, beide waren sich ganz sicher, dass es so eine Liebe nur einmal gibt im Leben und das sie alles tun würden, um sie fest zu halten.

Jana seufzte und erwachte aus ihren Gedanken als Marvin sie mit dem Ellenbogen anstieß:„Du musst unterschreiben!“ „Ja klar, ich weiß“, rief sie aus Schreck viel zu laut, ein letztes Mal sah sie ihm tief in die Augen, versuchte irgendetwas darin zu finden, ein Zeichen, dass er es genauso entsetzlich fand wie sie, einen Funken Hoffnung. Aber der Blick von ihm war ihr gänzlich fremd, die Gänsehaut kam wieder, dicht verfolgt von dem Schmerz. Jana unterschrieb mit klopfendem Herzen, der Stift rutschte ihr fast aus den zitternden Fingern, doch sie war bemüht ihre Haltung zu bewahren.
Als der Papierkram fertig war, gingen sie hinaus, die Sonne strahlte so hell, als wäre nichts gewesen. Marvin reichte ihr zum Abschied die Hand: “Ich wünsch dir, dass du glücklich wirst“, sie drückte ganz fest seine schwitzigen Finger, merkte das er kurz zuckte, weil es zu stark war, nickte mit dem Kloß in der Kehle und brachte ein Lächeln hervor.
Als er um die Ecke bog, schickte auch sie ihm lautlos ihre Wünsche mit auf seinen neuen Weg, und rannte wie gehetzt in die andere Richtung davon.
Überall genossen die Menschen an diesem Tag das herrliche Sommerwetter, bunte Picknickdecken lagen verstreut im Park, Hunde tobten ausgelassen umher, Enten schnatterten vergnügt, verliebte Paare saßen eng umschlungen auf einer Bank, jauchzende Kinder spielten im Bach.
Jana rannte weg von all dem unbeschwerten Leben, sah nichts mehr, weil ihr die Tränen aus den Augen strömten, die sie so lange zurückgehalten hatte. Sie hatte nie geweint, sie hatte nie begriffen, dass sie sich wirklich trennten, gehofft, sie würden wieder zueinander finden, denn sie liebte ihn noch immer und vielleicht für immer.
Abends kam sie ausgelaugt vom vielen Weinen an ihrer leeren, neuen Zweizimmerwohnung an. Sie holte eine Flasche Wein, setzte sich wieder hinaus auf die Stufen, wie damals vor vielen Jahren, doch da sie nun in einem Außenbezirk der Stadt wohnte, kamen nur selten Menschen vorbei.
Jana dachte an den Tag, an dem sie gemerkt hatte, dass sie ihn verloren hatte, obwohl keiner von beiden den anderen betrogen oder belogen hatte.
Es war auf Korsika in einem Ferienhaus am Meer. Sie saßen abends auf der Veranda, hörten den heranbrechenden Wellen zu, lange sprach keiner ein Wort. Jana saß im Schaukelstuhl, wippte begeistert auf und ab und war glücklich. So einen Stuhl wollte ich schon immer“, strahlte sie und sah auffordernd zu ihm hinüber.„Man bekommt nicht immer das, was man will“, sprach er in kühlem Ton, ganz leise, fast in Gedanken fügte er hinzu : “Vielleicht ist es auch besser so, wenn man davon träumen kann, denn wenn man etwas immer hat, wird es zum Alltag und man kann es nicht mehr schätzen.“ Marvin hatte es vielleicht nicht einmal bemerkt, was er eigentlich meinte, aber Jana wurde es eiskalt uns Herz, denn sie spürte sofort, dass sie der Alltag für ihn geworden war.
Von diesem Tag an hörte und spürte sie genauer hin und bemerkte immer mehr den Rückzug, den er langsam aber unaufhaltsam antrat. Sie konnte nichts dagegen tun, seine Liebe war einfach gegangen, und sie wusste nicht mal, wer nun schuld daran war.
Nun saß sie hier einsamer als je zuvor, mit der bitteren Gewissheit, dass die stärkste Liebe am Alltag zerbrechen kann. Doch ihre Liebe war immer noch da, sie hatte nicht die geringste Ahnung, wann sie endlich gehen würde.
Am nächsten Tag packte sie ihre Tasche, schloss die Haustüre zu und wusste genau, was sie zu tun hatte, denn es war höchste Zeit, und es gab jetzt kein Zurück mehr. Sie hatte lange genug auf diesen Tag gewartet.
Sie ging durch die Straßen, bis sie die Tür fand, die sie gesucht hatte.
Ohne zu zögern übertrat sie aufgeregt die Schwelle, ging zielstrebig auf den Mann zu, der hinter der Theke stand und sagte: “Ich brauche dringend den besten Schaukelstuhl, den Sie hier haben.“

Letzte Aktualisierung: 27.04.2009 - 11.53 Uhr
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