Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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April 2009
Eigentlich bin ich ganz anders
von Patricia Kohnle

Sie können sich gar nicht vorstellen, wozu eine Frau in der Midlife Krise alles fähig ist, besonders, wenn sie bereits mit ihrer Psychotherapeutin bis in die Untiefen ihrer Seele vordrang, einen Seitensprung mit dem Jüngling im Alter ihres Sohnes erwogen und sich letztlich doch für eine Weiterbildung in „ayurvedischem Stirnguß“ entschieden hat: Sie fastet. Oh nein, keine Schokolade, kein Alkohol. Sie sucht Erfahrungen. Grenzerfahrungen. Sie sucht quasi Dschungelcamperfahrungen für Einzelkämpfer. Sie fastet Computer. Abgeschnitten von der Welt. Hinabgetaucht in geistliche Welten und Weiten. (Solche Verrückte gibt es wirklich. Aber Sie wissen ja, von wegen Psychotherapeutin und so):

Ihre Familienmitglieder verließen am Aschermittwoch das sinkende Schiff. Sie befürchteten aufziehendes Sturmtief. Aufziehendes Sturmtief? Was sollte schon passieren, wenn sie neue Wege beschritt. Das Fastenbrevier in der linken Hand, näherte sie sich lesend … „ Leben kann einbrechen, Pläne können durchkreuzt werden, unbeantwortete Fragen tun sich auf“ … mit der rechten Hand dem Ausschaltknopf von Kühlschrank und Tiefkühltruhe. Einer gestandenen Gefrierkombination mit zwanzigjährigem, ununterbrochenen Dauergebrauch, die sich plötzlich in unerwarteten Ruhestand und in bis dato unbekannte Abtauphase versetzt sah. Bereits mittags stand sie knöcheltief im Eiswasser. Die Schleusen eines erwärmten Nordpols schienen sich geöffnet zu haben und das erste Mal seit ihrem selig geseufzten Hausfrauendasein löste sich etwas von dem rosa Mäntelchen, das sie wärmend darum gelegt hatte … und schwamm davon, als Schiffchen auf tosenden, um sie wirbelnden Wassermassen. Sie tat, was sie immer tat, wenn sie gefrustet war: Mit spitzen Fingern griff sie in die durchweichte Metzgertüte, langte nach einer deftigen Scheibe Fleischkäse und verfiel in längst vergessen geglaubte Schwangerengelüste. Das bedeutete Baustellenbrotzeit mit fingerdicker Wurst, daumendickem, extrascharfen Senf und doppelten Fingerbelag säuerlicher Mandarinen (natürlich die Zitronensauren, dafür ohne Kerne). In der Nacht ging es den Gang, den Schwangerengelüste gehen müssen, wenn Nichtschwangere ihn gehen. Und im Morgengrauen vernahm sie von Ferne die kräftige Stimme ihres Sohnes, knapp und glasklar: „Hier stinkt es wie aus dem Windeleimer.“ (Er ist Zivi in einer Kindertagesstätte. Liebte sie ihn als Kind wirklich für seine Geradlinigkeit?). Sie klapperte mit den Zähnen wie eine Schlange und versprühte ihr Gift in die Bettdecke. Ihren zweiten Fastentag wollte sie, geläutert vom gestrigen, geistlicher beginnen. Schließlich hatte sie, wie ein Mantra, immer und immer wieder in ihrer Fastenbroschüre gelesen: „Es gibt Menschen, die brechen nie auf, die gehen nie los. Die bleiben zu Haus am warmen Kachelofen sitzen … und schauen Fernsehen – Leben aus zweiter Hand. Die machen alles so, wie es schon immer war – weil es schon immer so war.“ Sie nicht. Nicht mehr. Ab heute würde alles g a n z anders werden. Sie drehte sich im Bett zu ihrem Liebsten um und schaute ihm tief in die Augen. Das erste Mal ist immer das schönste Mal. Sie schaute. Zärtlich, versonnen. Ihre Worte sollten ihm, nein, nicht wie eine gerülpste Bauernbrotzeit, sondern süß, zuckersüß, wie Sirup, in sein knubbeliges Öhrchen tropfen: „Hat mein Hasiboppelmoppelchen was ganz Süßes knuddlig Doddeliges geträumt? Mein kleines Schnurrihäschen, du?“

„Hast du etwas an der Erbse? Wie sollte ich? Du hast geratzt wie ein Bär, so wie immer. Wie soll man da überhaupt schlafen können?“ , nuschelte es unter der Bettdecke hervor, (aber vielleicht hatte sie ihn auch falsch verstanden. Die Kopfkissenzipfel, die er sich in die Nasenlöcher gestopft hatte – na, Sie wissen ja, von wegen Windeleimergeruch und so – ließen seine Aussprache etwas undeutlich erscheinen). Eindeutig war jedoch seine allmorgendliche
Kopfbewegung Richtung Küche, die bei ihr, wie ein Pawlowscher Reflex, das Salutieren zum Frühstücksappell auslöste: Wegtreten zum Tisch decken. Als sie wie immer stramm aufstand, rutschte das Fastenbrevier von der Bettdecke und blieb halb geöffnet am Boden liegen: „Es gibt Menschen, die machen alles so, wie es schon immer war – weil es immer so war … .“ Sie nickte nicht, aber knickte, militärisch akkurat, ein dickes Eselsohr in diese Seite, setzte ein fettes Ausrufezeichen darauf und ließ den Wind das Hasiboppelmoppelchen zum Fenster hinaus wehen. Dann krabbelte sie ins weiche, warme Bett zurück. Ahh, tat das gut, in den wohligen Federn die Frostbeulen, die sie sich gestern im Eiswasser geholt hatte, aufzutauen (woraufhin ihr Liebster die Kopfkissenzipfel aus seinen Nasenlöchern zupfte, was jedoch ihre Verständigung an diesem Morgen nicht umfassend verbesserte).

Am folgenden Abend lag sie bereits um 20.00 h im Bett. Alleine. Nach diesem Morgen meinte ihr Liebster, wenn sie ihre Grenzen austesten wolle, dann müsse sie diese selbst austesten. Es seien schließlich i h r e Grenzen und das könne niemand für sie übernehmen (wo er Recht hatte, hatte er Recht). Es war still. Lautstill. Sie hörte plötzlich Geräusche, die sie niemals zuvor gehört hatte, da sie bisher nur zwei abendliche Geräusche kannte: Das Rauschen des Fernsehers und das Surren des Computers. Irgendjemand im Haus duschte. Eine Waschmaschine hüpfte ächzend durch ein Bad. Und über ihr liebte die Nachbarin einen ihrer vielen wechselnden Liebhaber. Nach der zweiten, unüberhörbaren Liebesrunde schlurfte sie in die Küche und holte den Küchenwecker. Sie konnte ihn genau auf vier und eine halbe Minute einstellen. Dann mischte sich das schrille, metallische Weckerklingeln mit dem bellenden, orgastischen Jaulen der Nachbarin: K.o. Schlag in der dritten Runde. Ob ihr Sparringspartner gedopt war? Sie fragte sich, was das Fastenbrevier wohl unter „Abwechslung“ verstand: Wechselnde Liebhaber, die immer die gleiche Tonhöhe und immer den gleichen Rhythmus auslösten oder wechselnde Tonhöhen und wechselnde Rhythmen, die ein beständiger Liebhaber auszulösen verstand … Das erneute Rasseln des Weckers riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte in dieser Nacht zumindest verstanden, wie s i e Abwechslung lebte: Sie konnte inzwischen den Küchenwecker stellen und das nicht nur, um die Backzeit des Kuchens nach bestem Schwiegermutter - Rezept zu messen.

Die Nacht war kurz und schlaflos gewesen und sie schlich an diesem Morgen wie gerädert zum Frühstückstisch. Acht Kinderaugen blickten sie treuherzig an und fragten leise, einfühlsam: „Bist du heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, so muffelig wie du bist?“

Falscher Fuß? Was hatte sie gestern, noch spätnachts, gelesen: „Wer aufbrechen will, muss loslassen können. Wer den nächsten Schritt tun will, muss den Mut aufbringen, mit einem Fuß den sicheren Boden zu verlassen und den Fuß an einen anderen Ort zu stellen. Und das gilt auch für das Leben … .“ Mut, den Fuß aufzustellen, neu, an ganz anderer Stelle … Sie atmete tief durch. Ja, sie würde es wagen. Jetzt und heute. „Kinder, ich habe beschlossen, dass ich ab sofort keine Spielzeuge in eurem Zimmer mehr hinter euch her räume und ab sofort nicht mehr ausschließlich eure Lieblingsspeisen koche. Ab sofort darf j e d e r seinen Essenswunsch äußern. („Also bleibt doch alles beim Alten“, meinte, sich langsam wieder entspannend, der liebste aller liebsten Söhne). „Das bedeutet, Kinder, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag Nudeln und Fertigpizza. Samstags und Sonntags für Papa Braten und – tief Luft holend – freitags … für mich … gegrillte Auberginen.“ (Sie musste ja nicht sofort vom gebackenen Hirn sprechen, das sie für die nächste Woche plante … Würden sie das jemals verkraften? Sie, diese empfindsamen Seelen, die sie schützen musste vor der Unbill der Welt … im zarten Alter … zwischen 20 und 30 Jahren?). Der geradlinigste Sohn aller Söhne meinte daraufhin, dass es nun wohl keiner Magen–Darm– Grippe mehr bedürfe, um dieses Essen einfach auf den Tisch zu kotzen.

Aber sie war gewappnet. Hatte sie nicht gelesen: “Aus der Euphorie des Neubeginns falle ich in das Loch … Ja, es gibt solche Momente im Leben, in denen man in ein Loch fällt – und je gewagter der Aufstieg, um so tiefer mag manchmal der Fall sein. Auch das ist Leben … und man muss da gar nichts schön reden … .“ Und sie wollte leben. Endlich leben. Deshalb stellte sie sich entschlossen einem, d e m gewagten Aufstieg (zumindest für eine Frau in den späten Wechseljahren): Sie meldete sich zu einem Reitkurs an. Das erste Mal (obwohl eine Freundin abschätzig meinte, seit wann sie es mit den Gäulen habe?). Aber er sollte sich auszahlen, ihr Wagemut, der sie dem österlichen Geschehen um Leben und Tod näher bringen sollte als je zuvor. Mutig wagte sie neue Ufer zu ergründen und stieg auf … auf das Pferd. Galant. Trotz vorgeschrittenen Alters. Auf einen ruhigen, nervenstarken Wallach mit ausgeglichenem Gemüt, der zufrieden die ersten, frischen Grasbüschel mit seinen Lippen zupfte. Ihn konnte nichts aus der Ruhe bringen. Fast nichts. (Wer konnte denn damit rechnen, dass ihn ausgerechnet eine tiefe Stimme in Panik versetzte. Na ja, zugegeben, sie dröhnte etwas blechern aus ihrem Motorradhelm herauf, den sie – in Ermangelung eines Reithelmes – wie eine Ritterrüstung übergestülpt hatte).

Als sich das Osterfest näherte und ihr der Gipsverband abgenommen wurde, atmete die ganze Familie auf. Friede legte sich über das Haus. Die Vögel zwitscherten. Osterglocken wiegten sich im Wind und die Gefriertruhe surrte wie gewohnt; mit zwei Aussetzern nach einem lang gezogenen Piepston. Der Alltag war eingekehrt. Der Alltag. Und das Leben? In ihrem Fastenbrevier fand sie:

trotz

meiner Fragen
meiner Einsamkeit
meiner Heimatlosigkeit
meiner Ohnmacht
meiner Kraftlosigkeit
meiner Ratlosigkeit
meiner Traurigkeit
meinen Dunkelheiten

hinaus“fahren“

die Netze
auswerfen

und

auf dein
Wort hin

das Leben
an mich ziehen


Zum GlĂĽck war von Fahren und nicht von Reiten die Rede. Sie wĂĽrde die Netze flicken gehen.

© Pat Kohnle

Quelle: Andrea Schwarz, Dem Leben entgegen

Letzte Aktualisierung: 20.04.2009 - 14.40 Uhr
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